Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sein Wunsch sei es, so Johann Wolfgang von Goethe in einem Brief an Grüner aus dem Jahr 1826, „immer in inniger Verbindung mit dem lieben Böhmen zu bleiben". Viele in unserem Land wissen nicht, daß Goethe zu keinem anderen Land und zu keinem anderen Nachbarn der Deutschen ein solch nahes Verhältnis gehabt hat wie zu Böhmen und daß gerade Goethe von Anfang an den tschechischen nationalen Bestrebungen des 19. Jahrhunderts positiv gegenüberstand, zu den führenden Männern der tschechischen nationalen Wiedergeburt in einer regen Verbindung stand, sich öffentlich für die Entwicklung der tschechischen Nationalkultur einsetzte und stolz auf seine Mitgliedschaft in der Gesellschaft des Vaterländischen Museums in Böhmen war.
Die Rede des tschechischen Präsidenten Vaclav Havel vom 15. Februar 1995 in der Prager Karls-Universität, aber auch und gerade das gemeinsame Wort der tschechischen und der deutschen Bischöfe aus Anlaß des 50jährigen Gedenkens an das Ende des Zweiten Weltkrieges haben die Beziehungen zu unseren tschechischen Nachbarn wieder in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt.
Deshalb begrüßen wir, daß die Bundesregierung heute in Form einer Regierungserklärung zur Bedeutung der deutsch-tschechischen Beziehungen Stellung genommen hat.
Ich finde, Herr Verheugen, Ihre Rede war der Bedeutung des Themas, aber auch den Ausführungen des Bundesaußenministers in keiner Weise angemessen.
Wir danken Ihnen jedenfalls, Herr Bundesaußenminister, für diese Regierungserklärung. Unsere Fraktion findet sich Wort für Wort in ihr wieder.
Die Rede des tschechischen Präsidenten in der Prager Karls-Universität hat ein lebhaftes Echo ausgelöst. Sie wird bis heute diskutiert. Wir begrüßen die Rede des tschechischen Präsidenten. Unsere Fraktion war durch unseren außenpolitischen Sprecher Karl Lamers beim Festakt in der Prager KarlsUniversität vor Ort vertreten. Für uns ist die Rede des tschechischen Präsidenten bedeutend und richtungsweisend für das deutsch-tschechische Verhältnis. Sie paßt in keine Schublade.
Die dort zum Ausdruck kommenden tiefgreifenden Gedanken des tschechischen Präsidenten verdienen eine differenzierte Betrachtung. Es ist unverkennbar, daß sich der tschechische Präsident natürlich an uns Deutsche, aber, ich glaube, in weiten Teilen seiner Rede auch und vielleicht in erster Linie an seine tschechischen Landsleute richtet.
Für uns steht folgender Appell aus der Rede des tschechischen Präsidenten im Mittelpunkt - ich zitiere -
Hartmut Koschyk
So wie die Zeit der Entschuldigungen und der Aufstellung von Rechnungen für die Vergangenheit enden und die Zeit einer sachlichen Debatte über sie beginnen sollte, muß auch die Zeit der Monologe und einsamer Aufrufe enden und durch eine Zeit des Dialogs ersetzt werden.
Wir wollen diesen Appell aufgreifen und den deutsch-tschechischen Dialog erweitern und vertiefen. Das schließt aber auch nicht aus, daß wir kritische Fragen an den tschechischen Präsidenten selbst richten, beispielsweise was den Teil seiner Rede anbelangt, in dem er sich generell gegen eine Aufhebung der nach dem Krieg verhängten sogenannten Beneš-Dekrete gewandt hat.
Lieber Herr Verheugen, Sie haben am Schluß Ihrer Rede die Seliger-Gemeinde, die Gemeinschaft sozialdemokratischer Sudetendeutscher, zitiert. Sie hätten den Kolleginnen und Kollegen hier vielleicht auch einmal deutlich machen sollen, daß es gerade der verdienstvolle Vorsitzende der Seliger-Gemeinde, Ihr Parteifreund Volkmar Gabert, ist, der einige kritische Fragen an die Rede des tschechischen Präsidenten angemeldet hal und der vor allem deutlich gemacht hat, daß es ihm und der Mehrheit der Sudetendeutschen bei der Frage der Beneš-Dekrete nicht um eine Verknüpfung mit Eigentums- und Vermögensfragen geht, sondern daß es um eine politisch-moralische Rehabilitierung und um das verletzte Rechtsgefühl der Sudetendeutschen geht. Ich finde, es ist auch im Hinblick auf die sudetendeutsche Seliger-Gemeinde der Sozialdemokraten nicht richtig, wenn Sie dieses differenzierte Herangehen an die Rede Havels nicht deutlich machen.
In diesem Zusammenhang - darauf hat der Bundesaußenminister hingewiesen - muß auch das Urteil des tschechischen Verfassungsgerichts sehr kritisch gesehen werden. Wir stimmen dem SPD-Antrag in diesem Punkt zu. Wir bedauern es wie Sie, daß das tschechische Verfassungsgericht die Beneš-Dekrete für rechtmäßig erklärt hat. Wir stimmen dem Satz Ihrer Erklärung zu,
daß jegliche Vertreibung von Menschen aus Ihrer Heimat moralisch nicht gerechtfertigt werden kann, auch wenn wie im Falle der Beneš-Dekrete ein noch größeres Unrecht durch den Angriff Hitler-Deutschlands auf die Tschechoslowakei vorausgegangen war.
Der von Präsident Havel geforderte Dialog darf niemanden ausschließen, vor allem nicht diejenigen Gruppen in beiden Völkern, die unter der jüngsten Vergangenheit besonders gelitten haben. Über ihre Köpfe hinweg kann es keine Aussöhnung und keine Verständigung geben. Es sind dies auf tschechischer Seite diejenigen Menschen, denen unter der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft bitteres Unrecht geschehen ist. Es sind dies auf deutscher Seite
die Sudetendeutschen. Wir müssen beide Gruppen in den Dialog und in das Bemühen um einen Fortschritt unserer Beziehungen und um einen wirklichen Ausgleich intensiv einbeziehen.
Deshalb begrüßen wir es außerordentlich, daß gerade auch die Sozialdemokraten für direkte Gespräche zwischen den Repräsentanten der in Deutschland lebenden Sudetendeutschen und der tschechischen Seite eintreten. So jedenfalls haben sich der SPD-Vorsitzende Scharping bei seinem Besuch im April des vergangenen Jahres in Prag und auch der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende und heutige Vizepräsident des Bundestages Klose im März des vergangenen Jahres in einem Brief an eine sudetendeutsche Organisation geäußert. Herr Klose hat sich dabei auch für die Einbeziehung von Eigentumsfragen in derartige Gespräche ausgesprochen.
Wir begrüßen dies. Wir verstehen dann allerdings nicht, daß Herr Rau, der jetzt ebenfalls in Prag gewesen ist, meinte, dem tschechischen Präsidenten sagen zu müssen, die Frage der Sudetendeutschen sei in der deutschen Politik nur ein bayerisches Problem.
Das ist diesem Thema nicht angemessen. Bayern ist das Schirmland der Sudetendeutschen. Bayern hat intensive jahrhundertelange traditionelle Beziehungen zu Böhmen. Sie sollten nicht auf der einen Seite selbst so tun, als seien Sie ein Förderer direkter sudetendeutsch-tschechischer Gespräche, und dann das Ganze in Prag als ein bayerisches Anliegen abstempeln. Das wird der Bedeutung dieser Frage nicht gerecht.
Gerade direkte Gespräche - darüber sollten wir uns doch einig sein - werden es schaffen, auch Mißverständnisse auszuräumen. Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, sudetendeutsche Positionsbeschreibungen der letzten Jahre durchzusehen, z. B. des Sudetendeutschen Rates, dem auch Vertreter der Bundestagsfraktionen der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD angehören. Weil Herr Horacek nicht mehr hier im Parlament ist, ist zur Zeit leider kein Vertreter der GRÜNEN da.
Als Herr Horacek noch Mitglied des Bundestages war - ich begrüße ihn hier oben auf der Tribüne -, hat er sich übrigens auch für Ihre Fraktion - und das hat Ihnen gutgetan; da haben Sie zur Zeit ein Defizit - um die Einbeziehung der sudetendeutschen Problematik in diese Gespräche bemüht; denn er versteht etwas mehr von der Problematik, als in Ihrem Antrag zum Ausdruck kommt.
Wenn man sich z. B. die Entschließungen des Sudetendeutschen Rates ansieht, dann wird man erkennen, daß da Eigentums- und Vermögensthemen in
Hartmut Koschyk
keiner Weise im Vordergrund stehen, sondern daß die Sudetendeutschen in diesen Erklärungen immer wieder betont haben: Wir wollen am Schluß Lösungen, denen beide Seiten zustimmen können.
Ich will auch hier ein Zitat aus einer Entschließung des Sudetendeutschen Rates vom April des vergangenen Jahres vortragen. Dort heißt es:
Gerade wegen der vielen Mißverständnisse verweisen wir noch einmal darauf, daß der Sudetendeutsche Rat schon vor langer Zeit erklärt hat, daß sich für ihn die Grenzfrage nicht stellt. Das heißt, daß bei allen Gesprächen davon ausgegangen werden muß, daß alle diskutierten Lösungsmodelle innerhalb der Tschechischen Republik überlegt werden müssen.
Das ist eine ganz wichtige Voraussetzung für diesen Dialog. Der Sudetendeutsche Rat hat auch vorgeschlagen, daß man jetzt mit Gesprächen zwischen dieser Organisation und den demokratischen Parteien auf tschechischer Seite beginnen sollte. Wir sollten uns bemühen, diesen Dialog zu fordern und zu unterstützen. Wir könnten ihn auch, wenn es gewünscht wird, parlamentarisch politisch begleiten. Vielleicht könnte auch gerade eine parlamentarischpoltitische Ebene geeignet sein, den Weg für in die Zukunft gerichtete Lösungen der noch offenen Fragen zu bereiten.
Herr Verheugen, auch hier muß man sagen: Jetzt auf einmal machen Sie sich die Idee der Stiftungslösung zu eigen. Wissen Sie denn, da Sie jetzt so tun, als würde jetzt erstmals über eine solche Lösung nachgedacht, daß gerade eine solche bilaterale Stiftungslösung seit langem im Gespräch ist und daß es die tschechische Seite gewesen ist, die in diesen Verhandlungen wieder von dem Modell einer solchen Stiftungslösung abgerückt ist? Wenn die tschechische Seite jetzt in dieser Frage wieder bereit ist, über ein solches Modell nachzudenken, dann sollten wir dies aufgreifen.
Ich glaube, was diese ungelösten Eigentums-, Vermögens-, aber auch die berechtigten Entschädigungsfragen anbelangt, so war es wichtig, daß der Bundesaußenminister hier an das gemeinsame Wort der deutschen und der tschechischen Bischöfe erinnert hat.
Ich wiederhole noch einmal ein paar Sätze:
Wiedergutmachung zwischen den Menschen verschiedener Völker ist vor allem ein geistiger Vorgang. Eine Revision all dessen, was vor 50 Jahren geschah, ist kaum möglich. Wiedergutmachung zwischen Tschechen und Deutschen ist daher in erster Linie die Bereitschaft, sich innerlich von alter nationaler Feindschaft abzuwenden und zu helfen, daß Verletzungen geheilt werden, die anderen aus solcher Feindschaft zugefügt worden sind.
Entscheidend ist das Wort:
Dabei müssen die berechtigten Anliegen aller beteiligten Seiten Gehör finden. Nur solche Lösungen werden Bestand haben, die dem Gemeinwohl beider Staaten und Europas verpflichtet sind.
Auf diesem Weg sollten wir versuchen, für die offenen Fragen eine gemeinsame Basis zu finden.
Wir dienen den deutsch-tschechischen Beziehungen am besten, wenn wir hier, im Deutschen Bundestag, nicht den Eindruck erwecken: Es gibt diejenigen, die die deutsch-tschechischen Beziehungen fördern wollen; es gibt diejenigen, denen die deutschtschechischen Beziehungen ein Herzensanliegen sind; es sind die bösen Deutschen, die dies blockieren. Das ist das Bild, das Sie hier zu zeichnen versuchen, das aber diesem Thema nicht angemessen ist. Wir alle sollten uns bemühen, und zwar miteinander, daß der notwendige Dialog zustande kommt.
Sie selber als Sozialdemokraten haben im vergangenen Jahr eine interfraktionelle Kleine Anfrage nach dem Stand der deutsch-tschechischen Beziehungen mitunterzeichnet. Die Antwort auf diese Kleine Anfrage macht deutlich - darauf hat der Außenminister verwiesen -, wie viel sich in den letzten Jahren entwickelt hat.
Sie, Herr Verheugen, sollten hier nicht sagen, daß diese Bundesregierung und wir alle gemeinsam die Verpflichtungen aus dem deutschtschechoslowakischen Nachbarschaftsvertrag nicht ernstgenommen und ihn nur als einen Fetzen Papier angesehen haben. Es war diese Bundesregierung, die, wie keine andere Regierung in Europa, mit der Heranführung unserer mittelosteuropäischen Nachbarn und auch der Tschechen an die Europäische Union Ernst gemacht hat.
Sie wissen doch, wie man in anderen westeuropäischen Staaten darüber denkt.
Ohne den Bundeskanzler und den Bundesaußenminister hätte es beim Essener Gipfel die Einladung der Regierungschefs der mittelosteuropäischen Staaten und auch die Einladung von Vaclav Havel nicht gegeben. Sie wissen das. Tun Sie jetzt nicht so, als bräuchten wir Nachhilfe, wie wir unsere Verpflichtung gerade gegenüber der tschechischen Seite ernst zu nehmen haben!
Auch und gerade im sicherheitspolitischen Bereich möchten wir dem Bundesverteidigungsminister für seine Bemühungen um die Heranführung unserer tschechischen Nachbarn an die Sicherheitsstrukturen der nordatlantischen Gemeinschaft danken. Dieses erste gemeinsame deutsch-tschechische Manöver hat eine große Symbolhaftigkeit für diesen berechtigten sicherheitspolitischen Wunsch der Tschechen.
Lassen Sie mich zum Abschluß noch einmal aus dem gemeinsamen Wort der Bischöfe zitieren:
Versöhnung ist nicht nur eine Aufgabe zwischen Sudetendeutschen und Tschechen und zwischen den Menschen in der Grenzregion. Deutsche und Tschechen sind in ihrer Gesamtheit dazu aufgerufen, in einem zusammenwachsenden Europa ein Beispiel gelingender Verständigung zu ge-
Hartmut Koschyk
ben. Das Wissen voneinander muß in der Breite unserer beiden Gesellschaften noch vielfältig vertieft und bereichert werden, damit gemeinsam mit unseren Nachbarn in Europa der Weg zu einer wirklichen Einheit unseres Kontinents fortgesetzt werden kann.