Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind einer anderen Auffassung, als sie hier von der SPD und vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vorgetragen worden ist, und zwar aus grundsätzlichen Erwägungen. Wir beobachten nämlich auf der einen Seite, daß es eine immer intensivere Tendenz gibt, bei kriminellem Unrecht zu bagatellisieren. Wir haben z. B. im Rechtspflegeentlastungsgesetz in der letzten Legislaturperiode den Be-
Jörg van Essen
reich, in dem ein Ermittlungs- oder Strafverfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt werden kann, vorsichtig bis in den Bereich der mittleren Kriminalität hinein ausgeweitet. Die Umwidmung von bisherigen Straftaten wie dem Schwarzfahren wird diese Tendenz natürlich zusätzlich verstärken.
Wir wissen im übrigen auch, daß dieser Vorschlag des Bundesrates nur ein Versuchsballon ist. Die Absicht, auch Ladendiebstähle mit ihren immensen wirtschaftlichen Schäden, die von den ehrlichen Kunden zu zahlen sind, in gleicher Weise zu behandeln, wird im Falle des Erfolges dieser Initiative auf dem Fuße folgen. Die offenen Geschäfte - Herr Kollege Beck, wenn ich Ihrer Argumentation folgen darf - laden ja geradezu dazu ein, daß man die Gegenstände unentgeltlich mitnimmt. Von daher würde ja auch dort das kriminelle Unrecht fehlen.
Auf der anderen Seite - das ist das Gefährliche - steigern wir im Bereich der kleinen Sünden des Alltags, inbesondere im Bereich der Verkehrsordnungswidrigkeiten - übrigens mit Unterstützung der GRÜNEN -, ständig die Schärfe der Sanktionen. Der Unterschied zwischen einer bloßen Verwarnung ohne jeglichen Punkt in Flensburg und einem Fahrverbot, mit dem immense wirtschaftliche Folgen verbunden sein können - etwa dann, wenn man beruflich auf das Auto angewiesen ist -, kann ganze 10 km/h betragen. Das Ergebnis ist absurd. Ich habe es in meinem persönlichen Umfeld erlebt. In dem einen Fall hat es eine gravierende Urkundenfälschung gegeben. Das Verfahren ist ohne jegliche Sanktion eingestellt worden. In dem anderen Fall mußte ein Bekannter dafür, daß er, als er seine gehbehinderte Schwiegermutter zum Arzt gefahren hat, kurz im Halteverbot gehalten hat, zahlen. Da passen die Enden nicht mehr zusammen.
Die unerträgliche Schieflage zwischen kriminellem Unrecht und bloßer Ordnungswidrigkeit, die wir jetzt schon haben, würde durch diese Vorschläge weiter verstärkt.
Außerdem, Herr Kollege Hartenbach, scheinen Sie lange nicht mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren zu sein. Bei uns kostet eine Fahrkarte jedenfalls nicht 5 DM, wie Sie sagten, sondern 2,70 DM.
Im übrigen werden nicht nur diese Täter vom Tatbestand des Schwarzfahrens erfaßt, sondern auch diejenigen, die z. B. die mehrere hundert Mark teure Fahrkarte bei der Deutschen Bahn von Flensburg nach Freilassing nicht bezahlt haben.
Deshalb kann man nicht nur von Bagatellbeträgen sprechen, wie Sie es getan haben.
Der Bundesrat ist auch die Antwort auf die geradezu naheliegende Frage schuldig geblieben, wie der Wiederholungsfall, der ja dann zur Straf würdigkeit führen soll, eigentlich festgestellt werden kann. Herr Kollege Hartenbach, Ihre Erklärung dafür war wirklich nicht überzeugend.
Es ist klar, daß die Verkehrsbetriebe die Schwarzfahrer registrieren werden. Ein Wiederholungsfall kann aber doch nicht nur dann gegeben sein, wenn man im Bereich des gleichen Verkehrsbetriebes noch einmal ohne Fahrkarte fährt, sondern auch dann, wenn das in Berlin, in Stralsund oder sonstwo geschieht. Wie wollen Sie das eigentlich feststellen? Das ginge doch nur dann, wenn ein Netz möglich wäre. Die Datenschutzbeauftragten haben sich im Dezember letzten Jahres mit dieser Frage befaßt und deutlich gesagt, daß es nach den datenschutzrechtlichen Bestimmungen keinen solchen Verbund geben darf.
Das zentrale Verfahrensregister, für das ich besonders gekämpft habe und das wir mit dem Verbrechensbekämpfungsgesetz eingerichtet haben, wird diese Fälle natürlich nicht aufnehmen, sondern ausschließlich Ermittlungsverfahren wegen kriminellen Unrechts. Wir haben also überhaupt keine Möglichkeit, auf dieses Register zurückzugreifen.
Das bedeutet, daß es sich um eine Mogelpackung handelt. Wiederholungsfälle werden nicht festgestellt werden können. Das ist ein gravierender Mangel in diesem Vorschlag des Bundesrates.
Trotzdem sind wir aufgerufen, uns im Rechtsausschuß mit der Frage zu befassen: Wie werden wir mit der Bagatellkriminalität besser fertig? Wir haben dieses Problem; wir wollen nicht darum herumreden.
Ich meine, daß die Ansätze, die wir bisher unternommen haben, der richtige Weg sind: Wir brauchen eine schnellere Reaktion auf das Unrecht. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, daß wir im Verbrechensbekämpfungsgesetz die Möglichkeiten für die Anwendung des beschleunigten Verfahrens verbessert haben; wir müssen die Erfahrungen auswerten. Zudem - das ist für mich als jemand, der wie Sie, Herr Hartenbach, aus der Justiz kommt, das Wichtigste -, wissen wir doch als Praktiker, wo überall es in der Organisation der Justiz klemmt. Sie werden doch auch bei Ihrem Gericht erlebt haben, wie die Geschäftsstellen ausgestattet sind und welche Belastung für die Justiz daraus resultiert.
Das Bundesjustizministerium hat ja erfreulicherweise ein Kienbaum-Gutachten in Auftrag gegeben, in dem viele gute Wege aufgezeigt worden sind. Ich denke, wir sind in der Verantwortung, dafür zu sorgen, daß diese Dinge schnellstmöglich umgesetzt werden.
Vielen Dank.