Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hoffe, daß der vom Herrn Präsidenten initiierte Frühstart kein schlechtes Omen für meine erste Rede ist.
Wir begeben uns von dem Thema, das Frau Präsidentin Süssmuth soeben als ein Menschenthema bezeichnet hat, weg auf eine andere Ebene des Strafrechts, aber auf eine, wie ich denke, genauso entscheidende - und vielleicht auch zu entscheidende - Ebene, nämlich auf die der Bagatellstraftaten.
Bagatellstraftaten lähmen zunehmend die Arbeit der Justiz und der Strafverfolgungsorgane. Da, wo Polizei, Staatsanwalt und Gerichte Zeit und Kraft haben sollten, sich mit der wirklich gemeinschädlichen
Kriminalität zu befassen, müssen sie sich abmühen, den täglichen Kleinkram zu bewältigen - was ja auch etwas einfacher ist -, ohne wirkliche Erfolge dabei zu erzielen.
Schon lange haben Polizei und Justiz kapituliert: In den größeren Städten erscheinen die Ordnungshüter nur noch dann, wenn die Personalien zu ermitteln sind oder Täter gewaltbereit sind. Die Justiz versucht durch immer großzügigere Anwendung des Opportunitätsprinzips zunehmend, sich der Flut von Kleinstkriminalität und Bagatellstrafsachen zu erwehren. In fast allen Bundesländern gibt es Richtlinien und Erlasse, die der Staatsanwaltschaft Verfahrenseinstellungen in nie gekanntem Umfang anempfehlen. Diese durchaus legale, gewollte und bitter notwendige Praxis zeigt, daß es dem Staat bei einer Vielzahl von Bagatellstrafsachen nicht mehr um Strafe geht, sondern nur noch um eine möglichst schnelle, elegante Erledigung und Bereinigung von Statistiken.
Die Verkehrsunternehmen bringen erstmals ertappte Schwarzfahrer in aller Regel nicht zur Anzeige. In einigen Städten registrieren sie erst einmal drei Schwarzfahrten, ehe sie zur Anzeige schreiten. Das Strafrecht ist mithin als Mittel der Abschreckung ungeeignet. Die Handhabung in der Praxis läßt vielmehr erhebliche Zweifel aufkommen, ob die Strafdrohung als solche überhaupt noch ernst genommen wird oder ob sie nicht nur als Druckmittel zur Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche dient.
Vor diesem Hintergrund muß der Gesetzgeber Antworten finden auf die Fragen: Wie können wir die Strafverfolgungsbehörden und die Justiz von der Flut der Massendelikte entlasten? Was können wir tun, um die ohnehin fragwürdige und teilweise undifferenzierte Pönalisierung von Bagatelldelikten zurückzudrängen, ohne - das ist für uns Sozialdemokraten entscheidend - bei der Bevölkerung den Anschein zu erwecken, kleinkriminelles Handeln sei künftig erlaubt?
Die Antwort bietet der vorliegende Gesetzentwurf. Er entpönalisiert die Erst- und Einmaltäter und enthält gleichwohl geeignete Sanktionen für begangenes Unrecht. Er gibt den Geschädigten nach wie vor Rechtsgüterschutz. Wiederholungstaten und qualifizierte Handlungen bleiben strafbar. Er gibt der Polizei mehr Handlungsspielraum, und er entlastet die Justiz, ohne in anderen Bereichen zu wesentlichen neuen Belastungen zu führen.
Bei der großen Strafrechtsänderung 1973 hat man sehr viele Übertretungen in den Bereich der Ordnungswidrigkeiten eingereiht; einige hat man jedoch zu Vergehen aufgestuft mit dem Hinweis, daß man diese Vergehenstatbestände beobachten müsse, um
Alfred Hartenbach
gegebenenfalls die Korrektur der Sanktionen herbeizuführen. Ich denke, es ist nun an der Zeit, einmal über eine solche Korrektur nachzudenken, nachdem mehr als 22 Jahre verstrichen sind.
Der Tatbestand der Beförderungserschleichung betrifft sehr häufig junge Menschen. Er betrifft aber undifferenziert alle, ob sie nun besondere Tricks anwenden oder lediglich die fehlende Kontrolle ausnutzen. In letzterem allein sehen wir kein strafwürdiges Unrecht und halten für diese Fälle eine Kriminalstrafe für unangemessen. Allerdings können wir uns auch nicht denen anschließen, die das Schwarzfahren gänzlich ohne Sanktionen billigen wollen. Wer einen anderen schädigt, muß mit Sanktionen rechnen.
Allerdings ist die angemessene Reaktion des Staates nicht das Strafrecht; die angemessene Reaktion ist in diesem Fall die Ahndung als Ordnungswidrigkeit für die, die keine sonderlich kriminelle Energie aufgewendet haben. Wir befreien mit dieser Maßnahme sehr viele, vor allem junge Menschen vom Makel der Vorbelastung.
Die Behandlung als Ordnungswidrigkeit ist aber auch geeignet, die bisherige Regelung vollständig zu ersetzen; denn sie trifft teilweise härter, als dies in der jetzigen Praxis der Fall ist. Während bisher in aller Regel in Fällen mit geringem Verschulden eine Einstellung weder finanzielle noch gesellschaftliche Reaktionen nach sich zieht, wird künftig bei einer Ahndung als Ordnungswidrigkeit ein Bußgeld verhängt werden können.
Wir haben weiterhin die Möglichkeit - auch das sieht unser Gesetzentwurf vor -, daß der Mehrfachtäter, der Wiederholungstäter und der qualifizierte Täter bestraft werden. Wenn die Bundesregierung meint, es sei nicht feststellbar, ob jemand zu einer der drei Tätergruppen gehört, dann, denke ich, soll sie einmal nachfragen, wie denn die Verkehrsunternehmen die Wiederholungstäter feststellen und im dritten Fall zur Anzeige bringen.
Es wird auch keine Mehrbelastung auf die Strafverfolgungsorgane zukommen. Wir brauchen derzeit auch kein zusätzliches Register. Wir werden aber sicherlich eine ganz erhebliche Entlastung der Gerichte bekommen.
Mich hat die Stellungnahme der Bundesregierung zum Gesetzentwurf etwas enttäuscht. Noch 1993 sprachen Sie von der Notwendigkeit, zur schnelleren und effektiveren Bekämpfung der Massenkriminalität effektive Mittel zur Verfügung zu stellen. Heute, sehr geehrte Frau Justizministerin, stellen Sie wieder einen antiquierten Vermögensbegriff in den Mittelpunkt Ihrer Überlegungen und nehmen auch noch die angebliche Sozialschädlichkeit hinzu. Ich frage Sie ernsthaft: Wie können 5 DM sozialschädlich sein?
Sie sind der irrigen Ansicht, man könne mit dem bisherigen Instrumentarium auskommen. Von etwa 100 000 festgestellten und erfaßten Schwarzfahrern wurden jedoch ganze 15 000 verurteilt. Von diesen
15 000 wiederum erhielten nur 600 eine Freiheitsstrafe. Dies zeigt, daß 5 DM leider - so sage ich - ausreichend sein können, um eine Freiheitsstrafe zu verhängen.
Daher frage ich mich sehr ernsthaft, was die Aussage in der Stellungnahme der Bundesregierung soll, man könne mit der im Verbrechensbekämpfungsgesetz - der Begriff allein macht mich schaudern, wenn ich an 5-DM-Straftaten denke -
vorgesehenen Neuregelung des beschleunigten Verfahrens etwas erreichen.
Sie haben kürzlich den GRÜNEN eine Kleine Anfrage beantwortet. Da gäbe es bei den erweiterten Möglichkeiten genau sechs Fälle, auf die das zutreffen würde. Es ist also sicherlich nicht das geeignete Mittel.
Ich sehe, daß ich leider zum Schluß kommen muß, obwohl ich, sehr geehrte Frau Justizministerin, dazu noch einiges zu sagen hätte.
Die Umstufung der einfachen Schwarzfahrt zur Ordnungswidrigkeit führt dazu, daß wir insbesondere junge Menschen entkriminalisieren. Wir werden in einer Fülle von Erstfällen - ich meine, es werden etwa 50 000 im Jahr sein - die Staatsanwaltschaften von der Ermittlung entlasten. Da es sich bei dem Ordnungswidrigkeitenverfahren um ein entbürokratisiertes, schnelleres und effektiveres Verfahren handelt, wird es auch nicht zu wesentlich höheren Belastungen auf dem Verwaltungsweg führen.
Gestatten Sie mir nun, Herr Präsident, zum Schluß zu kommen und zusammenzufassen. Meine Uhr ist abgelaufen.
- Meine Uhr hier vorn, die andere noch nicht. Ich hoffe, noch ein paar Jahre hier zu sein. Ich bin bekannt dafür, manchmal solche Sätze zu sagen.
Ich fasse zusammen. Das Gesetz läßt eine deutlich geringere Zahl - das ist für uns sehr wichtig - von mit einem Strafmakel behafteten, vor allem jungen Menschen und einen gleichen, wenn nicht sogar verbesserten Rechtsgüterschutz für die Verkehrsunternehmen erwarten, weiterhin eine strafrechtliche Sanktion für qualifizierte Taten und Wiederholungstaten, schnelle und effizientere Verfahren und vor allen Dingen - damit wende ich mich an die vier Damen und Herren von der F.D.P. - weniger Staat. Allein diese Aussicht müßte Sie doch dazu bringen, dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zuzustimmen.
- Des Bundesrates. Danke schön, Herr Geis, für den Hinweis. Man ist doch etwas aufgeregt, wenn man hier vorn steht.
Alfred Hartenbach
Gestatten Sie mir zum Schluß noch eine Gemeinheit. Ich hoffe nicht, daß Herr Kanther unserer verehrten Justizministerin bei der Abfassung der Stellungnahme der Bundesregierung die Hand geführt hat.
Danke schön.