Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute einen Entwurf des Bundesrates, sind aber weit mehr an dem Referentenentwurf der Bundesregierung interessiert.
Es geht heute nicht um eine Frauenfrage, sondern um eine Menschenrechtsfrage. Sie betrifft Frauen und Männer, Mädchen und Jungen.
Ich stelle zu Beginn fest: Der heutige Tag zeigt, daß es lange dauert, Tabus aufzubrechen, Gewalt im intimsten Bereich beim Namen zu nennen, menschlich Abartiges nicht zu verschweigen und an der bestehenden Situation etwas ändern zu wollen. Dazu ist offenbar ein langer Atem notwendig.
Es lohnt sich, beharrlich an dem Ziel der Beseitigung eines Unrechts festzuhalten, auch wenn es lange dauert. Wenn ich mich an den ungeheuren Widerstand gegen den Referentenentwurf vor zehn Jahren und an die Anhörung von 1986 erinnere, in der bereits 23 Experten sehr klar sagten, daß der Tatbestand der Vergewaltigung außerhalb der Ehe und in der Ehe nicht unterschiedlich zu behandeln sei, so sehe ich heute, daß damals ganz andere Fragen im Vordergrund standen.
Es ging in der Tat zum einen um die kriminologische Indikation, die Befürchtung, daß eine Veränderung des Straftatbestandes zu einer Vielzahl von Anzeigen führen würde. Zum anderen ging es um die Ansicht, daß der Staatsanwalt in der Ehe nichts verloren habe und daß die Ehe ein Verhältnis besonderer Art sei, wo Tatbestände der Vergewaltigung anders zu bewerten seien.
Dr. Rita Süssmuth
Was ist mir daran wichtig? Wir dürfen heute nicht sagen, daß Vergewaltigung in der Ehe ein minder schwerer Fall sei. Für mich galt damals und gilt heute, daß die Vergewaltigung in der Ehe gerade ungleich schwerer wiegt als außerhalb der Ehe und von daher gar nicht als minder schwerer Fall angesehen werden kann.
Denn hier geht es um ein Verhältnis besonderer Nähe, des Vertrauens und der wechselseitigen Rücksichtnahme, wo es besonders ungewöhnlich und abartig ist, wenn es zur Vergewaltigung kommt.
Bei dem Thema Ehe und Gewalt oder Ehe und Vergewaltigung bekam man jahrelang zu hören: Frauenphantasien, Feministinnengeschrei, Ehezersetzerin, Männerfeinde; nein, es kann nicht sein, was nicht sein darf. Heute sind die Töne jener, die all dies leugneten, leiser geworden. Kein menschlicher Bereich ist von brutalster körperlicher und seelischer Gewalt ausgenommen, schon gar nicht der sexuelle.
Das betrifft vor allem Frauen und Kinder. Ich bin heute davon überzeugt, daß das Ausmaß an sexuellem Mißbrauch von Kindern für pornographische Zwecke, für die Prostituierung von Kindern erheblich dazu beigetragen hat, uns das Ausmaß sexueller Gewalt an Kindern und Frauen vor Augen zu führen. Wir wissen aus jüngsten Untersuchungen, daß immer stärker auch Jungen davon betroffen sind. Also machen wir es nicht zu einer Frauenfrage, sondern zu einer Menschenfrage. Dann kommen wir endlich aus diesem verengten Blick heraus.
Wenn wir uns weiter vor Augen führen, was seit der Strafrechtsreform 1973 geschehen ist, hilft es nicht, uns heute bei der Frage auseinanderzudividieren, ob wir damals schon richtig gehandelt haben. Die Vergewaltigung in der Ehe galt damals als marginales Problem. Es ist erst viel später in das Bewußtsein aller gerückt, daß dies eben kein marginales Problem ist.
Es gab 1976 das erste Frauenhaus. Wenn ich an die Vielzahl der Untersuchungen gerade aus Ihrem Hause, Frau Ministerin, denke, muß ich feststellen, daß es einen Zeitraum von fast 20 Jahren gab, innerhalb dessen wir die Tatbestände aufgearbeitet haben. Ich finde es wichtig, daß wir uns heute nicht damit begnügen, dieses Problem sozialpädagogisch bearbeiten zu wollen; denn das allein reicht nicht aus.
Es hat auch keinen Sinn, dem Kollegen Geis eine unterschiedliche Behandlung vorzuwerfen. Es geht hier und bei der Abtreibung um unterschiedliche Tatbestände. Ich denke, hier ist der Unrechtsgedanke genauso klar herauszustellen wie in allen anderen Bereichen.
Man muß auch um die Reichweite und die Grenzen des Strafrechts wissen. Aber es kann nicht angehen, daß insbesondere die Männer immer noch von der Auffassung ausgehen, Frauen haben ihnen sexuell verfügbar zu sein, sie sind in der Beziehung Objekte und nicht Subjekte.
Deswegen ist hier ganz entscheidend, daß, wie schon gesagt, der generalpräventive Charakter deutlich wird, daß die Tatsache des Unrechts zum Ausdruck kommt. Von daher gesehen finde ich es weit wichtiger, uns nicht schon jetzt über die Frage zu streiten, wie wir in dem Fall verfahren, daß ein Ehepartner zurückwill vom Strafrecht.
Wir gehen offenbar gemeinsam davon aus: Vergewaltigung ist ein Offizialdelikt. Es geht bei den schwierigen Beweistatbeständen und dem Bestimmtheitscharakter, von dem bereits gesprochen wurde, darum, Sorge dafür zu tragen, daß einerseits ausgeschlossen wird, daß Frauen unter Druck gesetzt werden, nicht auszusagen und die Anzeige zurückzuziehen, daß ihnen andererseits nicht die Möglichkeit genommen wird, ein Verfahren auch einstellen lassen zu können.
Ich setze sehr darauf, daß wir in der Anhörung um manches klüger werden, nicht nur durch die Vertreter des Strafrechts, sondern auch seitens einer Vielzahl solcher Einrichtungen, die mit diesen Tatbeständen zu tun haben. Wir sollten uns im Augenblick für die bestmögliche Lösung offenhalten; eine hundertprozentige Lösung werden wir in diesem Bereich nicht finden. Das aber hat viele europäische und außereuropäische Länder nicht davon abgehalten, Regelungen im Strafrecht zu finden, verbunden mit anderen Maßnahmen.
Wir sollten uns auch nicht erneut um die Formen des Zusammenlebens streiten. Es geht darum, jeder Frau denselben Schutz vor Gewalt zu bieten, ganz gleich, welche Form des Zusammenlebens sie gewählt hat.
Ich füge hinzu: Opfer sind Frauen und Männer. Wir müssen sowohl Frauen als auch Männern den Schutz zukommen lassen.
Ich kann nur wiederholen, was Horst Eylmann gesagt hat: Wenn wir in unserer Gesellschaft das Gewaltphänomen nur noch unter der Fragestellung sehen, wie wir von der Betrachtung unter Kriminalitätsaspekten zur Betrachtung unter sozialpädagogischen Gesichtspunkten kommen, reicht das nicht aus, weil wir dann immer nachsichtiger werden gerade gegenüber Straftatbeständen im sozialen Nahraum.
Es ist wichtig, ja ausschlaggebend, daß wir nach mehr als 20 Jahren - das ist dieHoffnung heute im Hause - zu einer möglichst einvernehmlichen Lösung kommen. Freuen wir uns doch darüber, daß hinzugelernt wird! Werfen wir es den Menschen nicht vor, daß sie gestern noch anders gedacht haben! Ich finde viel wichtiger, was an Veränderungen stattfindet, und freue mich darüber, daß wir heute so
Dr. Rita Süssmuth
weit gekommen sind. Ich hoffe, daß wir die nun anstehende Beratung der Gesetzentwürfe noch in diesem Jahr abschließen und die einschlägigen Tatbestände zufriedenstellend regeln werden.
Ich danke Ihnen.