Rede von
Prof. Dr.
Jürgen
Meyer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei allem notwendigen Bestreben, die Vorgaben des Karlsruher Urteils vom 28. Mai 1993 gewissenhaft umzusetzen, sollten wir, Herr Kollege Eylmann, doch gemeinsam feststellen: Darin erschöpft sich unsere Aufgabe nicht. Die Gewissensentscheidung über den besten Schutz werdenden Lebens mit den Frauen und nicht gegen sie kann uns niemand abnehmen. Wir sind der Gesetzgeber.
Wir tragen die Verantwortung für ein Gesetz, das wir hoffentlich demnächst mit großer Mehrheit verabschieden werden. Dabei werden wir die Verfassung nicht ändern, sondern sie konkretisieren und so zur Verfassungswirklichkeit machen. Bekanntlich hat das Karlsruher Gericht die dem Gruppenentwurf von 1992 zugrunde liegende Konzeption „Hilfe statt Strafe" als Schutzkonzept anerkannt und ausdrücklich bestätigt.
An diesem Konzept, das wir Sozialdemokraten von Anfang an und ohne scheinliberale Koalitionsspielchen vertreten haben, halten wir fest. Deshalb weist
Dr. Jürgen Meyer
die SPD-Fraktion alle Versuche von Finanzpolitikern gleich welcher Couleur, den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz hinauszuzögern, entschieden zurück.
Das Karlsruher Urteil ist wegen seiner inhaltlichen Brüche und inneren Widersprüche von Sachverständigen unterschiedlichster Provinienz hart kritisiert worden. Um es an den Namen von Strafrechtskollegen festzumachen: von Tröndle über Eser bis Hassemer. Das liegt wohl weniger daran, daß das Gericht mit harten Verdikten gearbeitet hätte, sondern eher daran, daß es nach der Anerkennung des Beratungsmodells in einer unendlich langen Begründung, die offenkundig von sehr verschiedenen Autoren stammt, fast jedem irgendwo ein bißchen recht zu geben versucht hat. Nach Ansicht der Kritiker war das keine justitielle Meisterleistung. Ich meine, das Gericht wird mit dieser Kritik leben können. Vielleicht fallen aber künftige Urteile kürzer, klarer und für die Bürgerinnen und Bürger verständlicher aus.
Viel wichtiger als die Kritik an Einzelheiten der Entscheidung ist es, die uns als Gesetzgeber gebliebenen Gestaltungsspielräume zu erkennen, über die Sie, Frau Justizministerin, vorhin gesprochen haben, und im Sinne des Schutzkonzepts diese Spielräume in bestmöglicher Weise auszuschöpfen. Statt nach der Art von Wortklaubern eine Passage des Urteils gegen die andere auszuspielen oder die Urteilsgründe als Steinbruch zum Abstützen jeweiliger Vorurteile zu benutzen, sollten wir erkennen: Bindungswirkung hat das Urteil nur dort, wo es Teile des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes von 1992 aufhebt, und dort, wo es für die erforderliche Neuregelung klare und widerspruchsfreie Anweisungen ohne Relativierung etwa durch Prüfungsaufträge erteilt, was übrigens, Herr Kollege Eylmann, gerade für den Bereich des familiären Umfelds gilt.
Als Gesetzgeber müssen wir bei der Neuregelung darauf achten, daß sie keine unbestimmten oder für den Rechtsgüterschutz ungeeigneten oder unverhältnismäßigen und deshalb wieder verfassungswidrigen Normen enthält.
Legt man diese Maßstäbe an, ergibt sich ein erheblicher Gestaltungsspielraum. Dieser läßt sich am besten daran verdeutlichen, daß sich die F.D.P., offenbar beraten vom Bundesjustizministerium, in einer Reihe wichtiger Punkte nach dem Sündenfall im vergangenen Jahr nunmehr dem SPD-Entwurf angeschlossen oder zumindest angenähert hat. Sie ist damit wieder zum Geist des Gruppenantrags zurückgekehrt, nachdem wir noch in der Debatte vom 26. Mai 1994 beredte Klagen von Ihnen zu hören bekamen, daß dies leider wegen des Karlsruher Urteils nicht möglich sei.
Wahlergebnisse können offenbar Erkenntnisprozesse fördern.
Wir nehmen die Liberalen gerne als reuige Sünder wieder in die fraktionsübergreifende Reformergruppe auf.
Zweifellos sind die Chancen für die Mehrheit für ein überzeugendes Gesetz gewachsen. Ich nenne dafür vier Beispiele:
Erstens hat sich bei genauer Prüfung die Krankenkassenlösung bei der Finanzierung von Schwangerschaftsabbrüchen als verfassungskonform erwiesen - im Unterschied zu dem, was die F.D.P. noch im vergangenen Jahr sagte. Wir werden uns also darauf verständigen können, daß Frauen wegen der Kosten für den Abbruch der Schwangerschaft unter den Voraussetzungen des Beratungsmodells nicht den als demütigend empfundenen Gang zum Sozialamt antreten müssen.
Zweitens - damit komme ich zum Strafrecht - hat sich jetzt endlich die Erkenntnis durchzusetzen begonnen, daß keineswegs jeder Schwangerschaftsabbruch unter den Bedingungen des Beratungsmodells strafrechtswidrig ist. Die Frage der strafrechtlichen Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit kann sich in diesen Fällen gar nicht stellen, weil der sogenannte beratene Abbruch nach den Worten des Gerichts nicht mehr in einer Strafbestimmung enthalten, also nicht tatbestandsmäßig ist.
SPD, F.D.P. und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stellen deshalb übereinstimmend fest, daß der Tatbestand des § 218 nicht erfüllt bzw. nicht verwirklicht ist. Die CDU/CSU versteckt diese Einsicht nach wie vor in der Begründung ihres Entwurfs, obwohl der von ihr selbst zu dieser Frage benannte und besonders sachkundige Sachverständige Professor Keller bei der öffentlichen Anhörung im vergangenen Jahr bestätigt hat, daß der SPD-Entwurf - ich zitiere - „die klarere Lösung und die klarere Formulierung ist, um das zu bezeichnen, was gewollt ist".
Soll hier etwa, so frage ich die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion, den Kommentatoren das Tor zur Diskriminierung von Frauen durch ein pauschales Rechtswidrigkeitsurteil offengehalten werden? Das lehnen wir ab.
Drittens nähert sich die F.D.P. bei der Regelung der Beratung wenigstens ein Stückchen weit der Einsicht, daß dabei nicht das Lebensrecht des Ungeborenen und das Selbstbestimmungsrecht der Frau gegeneinander abgewogen werden können, und zwar deshalb nicht, weil beide eine symbiotische Einheit sind. Nicht Abwägungsdenken, sondern integratives Denken liegt dem Beratungskonzept zugrunde. Das vorgeburtliche Leben kann nicht gegen die Mutter, sondern nur mit ihr geschützt werden. Das ist der eigentliche Inhalt des Satzes, der sich nun auch im F.D.P.-Entwurf findet: „Die Beratung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens durch Rat und Hilfe
Dr. Jürgen Meyer
für die Schwangere". Allerdings wollen wir dem noch die Anerkennung des hohen Wertes des vorgeburtlichen Lebens und der Eigenverantwortung der Frau hinzufügen.
Viertens scheint sich erfreulicherweise die Einsicht durchzusetzen, daß über das geltende Recht hinausgehende Versuche einer Kriminalisierung des sozialen Umfelds der Schwangeren dem Beratungskonzept zuwiderlaufen. Ein offenes Beratungsgespräch wird geradezu verhindert, wenn der Partner und die nächsten Angehörigen der Schwangeren auf Grund einer Verschärfung des geltenden Rechts - das, Herr Kollege Eylmann, bekanntlich bereits Nötigung, aber auch Unterhaltsentziehung und unterlassene Hilfeleistung mit Strafe bedroht - mit einem Bein im Gefängnis stehen. Wir hatten ursprünglich vorgeschlagen, das geltende Strafrecht zu verdeutlichen und die Nötigung zum Schwangerschaftsabbruch als besonders schweren Fall der Nötigung ausdrücklich zu nennen. Aber die Erfahrungen des Vermittlungsverfahrens im vergangenen Jahr haben uns gezeigt: Die Schaffung bloß symbolischen Strafrechts ist alles andere als überzeugend. Sie liefe fast auf ein Täuschungsmanöver des Gesetzgebers hinaus. Der lediglich in den Gründen, nicht aber im Leitsatz des Karlsruher Urteils erwähnte § 201 des alten Entwurfs von 1962 ist übrigens, Herr Kollege Eylmann, in der Schweiz erprobt und dort 1989 wegen offensichtlicher Wirkungslosigkeit wieder aufgehoben worden.
Warum sollten wir eigentlich nicht aus den Erfahrungen unserer Nachbarn lernen dürfen?