Rede von
Horst
Seehofer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Herr Grüner, ich habe Sie schon immer bewundert, daß Ihre geistigen Fähigkeiten meiner Wortmächtigkeit vorauseilen. Ich komme noch auf diesen Punkt. Und wenn ich nicht daran denken sollte, erinnern Sie mich bitte. Ich möchte es im Zusammenhang darstellen.
Zweite Bemerkung, meine Damen und Herren. Die gesetzliche Krankenversicherung wird in diesen Tagen 110 Jahre alt. Sie hat schwierigste Zeiten der Deutschen überstanden, zwei Weltkriege, zwei Inflationen, das größte Trümmerfeld aller Zeiten, viele tiefe wirtschaftliche Rezessionen. Da wäre es geradezu gelacht, meine Damen und Herren, wenn wir in dieser Zeit eines relativ hohen Wohlstands in der Bundesrepublik Deutschland die Probleme, mit denen wir jetzt — bei relativ guter Lage — in der gesetzlichen Krankenversicherung konfrontiert sind, nicht bewältigen würden, wenn in weitaus schwierigerer Zeit die Krankenversicherung auch stabil geblieben ist.
Ich habe etwas die Vermutung, je besser es den Menschen geht, desto stärker tritt die Eigenverantwortung in den Hintergrund, und desto stärker wird die Solidarität ausgedehnt. Eigenverantwortung feiert in Zeiten des Wohlstands nicht gerade Konjunktur.
Da bitte ich auch um ein differenziertes Urteil. Eigenverantwortung können wir nicht immer nur beim Versicherten und Patienten abladen — auch dort muß sie stattfinden —, sondern sehr wohl auch bei Ärzten oder Zahnärzten.
Ich wiederhole eine These, die hier im Parlament schon oft aufgestellt worden ist: Wenn jemand krankfeiert, ohne daß er krank ist, beutet er das Sozialsystem aus. Aber es beutet das Sozialsystem nicht nur derjenige aus, der krankfeiert, ohne daß er krank ist, sondern auch derjenige, der krankschreibt, ohne daß jemand krank ist.
Deshalb muß man die Eigenverantwortung an beide Seiten in der gesetzlichen Krankenversicherung richten, Herr Grüner, an die Patienten, an die Versicherten, aber auch an diejenigen, die verordnen. Ich finde, diese Differenzierung steht uns als Deutscher Bundestag sehr wohl an. Wir dürfen die Verantwortung nicht nur auf eine Seite schieben.
Ich füge drittens hinzu: Auch die Politik hat in den letzten zehn oder zwanzig Jahren, unabhängig von der Farbe der Regierung und deren Zusammenset-
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Bundesminister Horst Seehofer
zung, einiges dazu getan, daß dieser gesetzlichen Krankenversicherung immer mehr sachfremde Aufgaben übertragen wurden. Auch das gehört zur vollständigen Wahrheit.
Meine Damen und Herren, gegenüber dem Beginn dieser Diskussion im Mai diesen Jahres haben sich die Rahmenbedingungen für diese Reform eher noch verdüstert. Nicht nur innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind erheblich schlechter geworden. Ich brauche die Haushaltsdebatte hier nicht zu wiederholen. Wir befinden uns auf wirtschaftlicher Talfahrt.
Meine Damen und Herren, in einer solchen Situation können wir uns die bequeme Antwort der letzten zwei, drei Jahre, daß wir steigende Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung mit steigenden Beiträgen beantworten, im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr leisten. Das wäre Gift für die Konjunktur. Man muß allen Menschen, die auf diese gesetzliche Krankenversicherung vertrauen, die im Falle der Krankheit davon sozialen Schutz und Heilung erwarten, sagen, daß nur eine gesunde Wirtschaft auf Dauer auch eine gesunde gesetzliche Krankenversicherung garantiert. Beides gehört zusammen.
Deshalb scheidet diese so naheliegende, einfache Antwort, die uns gelegentlich auch von Ärzten oder Zahnärzten gegeben wird, man möge doch einfach die Beiträge um einen oder zwei Prozentpunkte erhöhen, für uns aus, weil wir dann die Grundlage für die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme gefährden. Diese Grundlage ist noch immer eine funktionierende Wirtschaft.
Ein Viertes. Wir müssen heute handeln, und zwar auch mit Geschwindigkeit, weil dieses freiheitliche Gesundheitswesen, das ja von Krankenkassen und Ärzten selbstverwaltet ist, in den letzten Jahren etwas mißverstanden wurde.
Meine Damen und Herren, zur Freiheit gehört auch die Verantwortung. Freiheit und Verantwortung sind ein Geschwisterpaar. Man kann die Selbstverwaltung nicht nur dann ernst nehmen, wenn es um die Verteilung von angenehmen Dingen geht, sondern man muß Selbstverwaltung auch dann ernst nehmen, wenn es unangenehm wird.
Meine Damen und Herren, die Selbstverwaltung hat seit vielen Jahren, seit 1989 im besonderen, eine ganze Menge von Aufträgen, die Krankenkassen wie die Ärzte, beide gemeinsam. Nur sind diese Aufträge zum ganz großen Teil nicht erfüllt worden. Und das gehört auch zur Wahrheit dieser Diskussion: Wären sie erfüllt worden, wäre die Politik heute nicht gezwungen zu handeln.
Mir wäre es viel, viel lieber, wenn die Politik nicht handeln müßte, wenn die Selbstverwaltung diese Aufträge und ihre Verantwortung ernst genommen hätte. Alles, was wir auf der Seite der Ärzte und Zahnärzte tun, könnte auch ohne neue Paragraphen
auf dem Wege der Selbstverwaltung getan werden. Man könnte sich heute innerhalb der Selbstverwaltung unter Wahrung der Vertragsfreiheit darauf verständigen, daß sich in dieser wirtschaftlich schwierigen Zeit und finanziell angespannten Situation der gesetzlichen Krankenversicherung die Honorare der Ärzte nicht stärker nach oben entwickeln als die allgemeinen Einkommen. Das würde einem Gebot der Vernunft entsprechen. Es geschieht aber in der Praxis nicht. Jetzt müssen wir handeln, weil die Selbstverwaltung ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden ist.
Ein Argument, das ich in dem Zusammenhang überhaupt nicht akzeptiere, ist: Weil wir jetzt an Stelle der Selbstverwaltung handeln, werden wir als Planwirtschaftler, als Sozialisten, als Politiker beschimpft, die angeblich die Staatsmedizin wollen. Nein, meine Damen und Herren, die Selbstverwaltung bekommt jetzt noch einmal in wesentlichen Bereichen drei Jahre Zeit — Vorfahrt für die Selbstverwaltung! —, und erst dann, wenn sie nicht handelt, tritt möglicherweise ein Gesundheitsminister oder ein Landesaufsichtsminister an die Stelle der Selbstverwaltung. Dann hat man von der ersten Auftragserteilung Anfang 1989 sechs Jahre Zeit — Vorfahrt für die Selbstverwaltung! —, und erst dann ist eine Ersatzvornahme theoretisch überhaupt möglich. Ich verstehe nicht, wie man da von Staatsmedizin sprechen kann. Das ist Vorfahrt für die Selbstverwaltung.
Meine Damen und Herren, die größte Gefahr für die Freiheitlichkeit des Gesundheitswesens besteht nicht nur durch die eine oder andere Ersatzvornahme, sondern entsteht dadurch, daß das Gesundheitswesen nicht mehr finanzierbar wird.
Daß wir mit der Einschätzung nicht ganz falsch liegen, daß dieses freiheitliche Gesundheitswesen nach wie vor eine große Anziehungskraft hat und nach Inkrafttreten dieser Reform weiter behalten wird, zeigen doch die täglichen Eingänge von Anträgen auf Kassenarztzulassung. Tausende beantragen jetzt Kassenarztzulassung.
Meine Damen und Herren, es vergeht nicht ein Tag, wo ich in Diskussionen nicht mit Fragen angesprochen werde wie: Wie kann ich an meinen Sohn oder an meine Tochter in fünf oder zehn Jahren eine Kassenarztpraxis übergeben? Ja, wenn alle, die sich so kritisch äußern, wirklich damit rechnen müßten, daß dieses System niedergeht, daß in dem System freiheitliche Gesundheitspolitik nicht mehr möglich ist, daß die Honorare auf dem Sozialhilfeniveau, wie mir heute geschrieben wurde, landen werden, daß wir in einem sozialistischen System enden werden, dann verstehe ich nicht, daß sich Tag für Tag Hunderte neu bereit erklären, ja, sogar beantragen, in dieses System zu kommen. Das zeigt doch die Anziehungskraft auch in der Zukunft.
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Herr Kollege Grüner, zu dem Wortwechsel zwischen Ihnen und dem Kollegen Dreßler wegen der Art und Weise des Umgangs und des Stils — ich denke, er hat sich auch so ausgedrückt, und ich möchte es wiederholen, weil es meine tiefe Überzeugung ist —: Ich bin der Auffassung, daß die ganz, ganz große Zahl der Ärzte, der Zahnärzte, der Apotheker, der Zahntechniker und der verschiedenen Beteiligten in den Krankenhäusern Tag für Tag hochwertige Arbeit leistet, viele davon rund um die Uhr. Ich bin der Auffassung, daß die große Mehrheit von ihnen einen gesunden ethischen Bezug zum Beruf, zur Tätigkeit hat. Ich bin ferner der Meinung, daß entgegen vielen Mutmaßungen die ganz, ganz große Mehrheit bei den Abrechnungen und der Behandlung der Patienten absolut korrekt verfährt. Ich finde, das muß man schon feststellen.
Es gibt persönliche Angriffe, die ich nicht so ernst nehme, gemäß der alten Weisheit aus Bayern: Es gibt gewisse Dinge, die sind so überzogen, die sollte man nicht einmal ignorieren. Mich beschäftigt mehr die Tatsache, daß sich gewisse Tollheiten eingeschlichen haben, daß beispielsweise manche gegen ihre eigenen Vorschläge protestieren und demonstrieren und manche ihre Vorschläge, die sie selbst gemacht haben, gegenüber dem Patienten jetzt so verkaufen — auch in der Apotheke —, als sei das gegen ihren Willen durchgesetzt worden.
Ich will hier kein Pauschalurteil fällen, sondern ich reagiere darauf sehr differenziert. Ich nenne ein Beispiel aus dem Bereich der Apotheker. Ich verstehe im Prinzip deren Sorgen. Wer hat keine Sorgen, wenn über 10 Milliarden DM eingespart werden? 10 Milliarden DM einzusparen, ohne daß es jemand merkt, ist nicht möglich. Daß dies in der Praxis für alle Beteiligten wirkt, ist klar. Wir haben immer Wert darauf gelegt, daß wir die Wirkungen sozial gerecht verteilen, und zwar, Herr Grüner, auch aus folgender Überlegung heraus, die auf dem basiert, was ich in meinem eigenen Wahlkreis erlebe.
Wie soll ich in dieser aufgewühlten Gefühlslage der deutschen Bevölkerung, bei der es sehr entscheidend auf die Gerechtigkeit ankommt, auch was den Hang und die Neigung zur Radikalität und zum Extremismus betrifft •— ich möchte das bewußt in diesen gesamtpolitischen Zusammenhang stellen —, einem Audi-Arbeiter aus meinem Wahlkreis, der am letzten Samstag in der Zeitung lesen durfte, daß dort im nächsten Jahr 4 000 Arbeitsplätze abgebaut werden, der hört, daß wir diesem Wirtschaftsbereich wegen der Rücksichtnahme auf die Lage der Metallbranche empfehlen, sehr bescheidene Lohnabschlüsse zu vereinbaren, erklären, daß er dieses 10-Milliarden-Sparpaket möglicherweise allein zu tragen hat? Das war doch schon 1989 so. Ich denke, wir haben bei der aktuellen politischen Lage die gemeinsame politische Verpflichtung, die weit über die gesetzliche Krankenversicherung hinausgeht, daß wir uns bei einem unvermeidlichen Sparprogramm nach besten Kräften bemühen, die Lasten gerecht zu verteilen. Ich denke, das ist hier gelungen, wenn die Leistungserbringer
drei Viertel der Lasten und die Versicherten und die Patienten ein Viertel zu tragen haben.
Ich bin gegen die Verdrehung von Tatsachen; damit meine ich nicht Sie, Herr Grüner. Die Apotheker haben hier in Bonn auf dem Münsterplatz demonstriert. Bei dieser Gelegenheit wurde ein neues „patentgeschütztes Arzneimittel" mit dem Namen „Seehofomat" verteilt; darüber hinaus in weiß-blau; man hat an alles gedacht: an meinen Namen und an meine Herkunft. Auf der Packung dieses „Arzneimittels" steht u. a.: zum besseren Schröpfen der Patienten. Damit will man den Eindruck vermitteln: Der Seehofer und alle Abgeordneten, die dieses Reformpaket tragen, haben nur ein Ziel, nämlich den Patienten zu schröpfen.
Jetzt bekomme ich von einer „Aktionsgemeinschaft bayerischer Apothekerinnen und Apotheker" , MariaTheresia-Straße 28, 8000 München 80, ein Flugblatt mit der Überschrift „Ihr Apotheker informiert": Ab 1. Januar 1993 hohe Selbstbeteiligung bei Arzneimitteln; bisher kostete sie nur 3 DM, und die festbetragsfähigen Medikamente waren zuzahlungsfrei; ab 1. Januar 1993 müssen Sie nach dem Willen der Politiker erheblich tiefer in die Tasche greifen. — Darm werden Ausführungen zur Zuzahlungsregelung gemacht.
Mit dem Paket, das man verteilt hat, und mit den Flugblättern, die man jetzt in den Apotheken offensichtlich auflegt, um den Patienten für die eigenen politischen Ziele zu gewinnen, will man den Eindruck erwecken: Es geht nur um das Abkassieren beim Versicherten.
Nun muß man aber wissen, daß die ABDA, die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Apothekerverbände — es geht jetzt nur um die Funktionäre, nicht um die Apotheker insgesamt; ich differenziere —, mir am 23. Juli 1992, also zu einem Zeitpunkt, als noch eine zehnprozentige Zuzahlung im Gesetz stand, zur Zuzahlung, also der Änderung des § 31 des Sozialgesetzbuches, folgendes geschrieben hat: „Der Wegfall der Marktspaltung zwischen Festbetrags- und Nichtfestbetragsbereich wird begrüßt. Aus Gründen der Praktikabilität fordern wir, die Zuzahlung auf volle DM-Beträge und nicht auf 10-Pfennig-Beträge zu runden."
Das ist die offizielle Mitteilung der Apotheker zur Zuzahlung. Jetzt allerdings erweckt man durch solche Aushänge in den Apotheken und durch die von mir erwähnten Packungen den Eindruck, als wären die Apotheker gegen die Zuzahlung. In Wirklichkeit haben sie die Zuzahlung gefordert und begrüßt.
Herr Grüner, zur Art und Weise der Auseinandersetzung sage ich: Wer so mit den eigenen Vorschlägen umgeht, muß sich zumindest vorhalten lassen, daß er doppelzüngig argumentiert, um eigene Ziele zu verwirklichen.
Ich bin sehr dafür, daß man Interessen vertritt. Ich bin auch der Meinung, daß Standesvertreter gewählt
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sind, um die Interessen ihrer Delegierten zu vertreten. Nur glaube ich, wie wir Politiker uns darum bemühen sollten und müssen, einen ordentlichen Stil des Umgangs miteinander zu pflegen, so muß sich die Standesvertretung auf die Wahrheit konzentrieren, was hier nicht erfolgt ist, und sie darf handelnde Personen bei einem demokratischen Meinungsbildungsprozeß nicht diffamieren.
In der Sache kann man mit mir trefflich streiten; da bin ich zu allem bereit. Nur ging das, was durch einzelne gelegentlich stattgefunden hat, weit unter die Gürtellinie und hat die Schallmauer der Geschmacklosigkeit durchbrochen. In dieser Hinsicht sollte es schon eine demokratische Solidarität geben.
Ähnliches zeichnet sich jetzt in den Arztpraxen ab, zwar nicht überall, aber doch in nicht wenigen Praxen. Ich bekomme täglich viele Briefe und Anrufe. Ich möchte Ihnen auszugsweise den Brief eines Diabetikers vorlesen, der mitteilt, sein Hausarzt habe ihm gesagt, ab 1993 müsse er entgegen aller medizinischen Notwendigkeit entweder die Zahl seiner Verschreibungen drastisch reduzieren oder seinen Beruf aufgeben. Der Patient, der ausdrücklich seinen Namen und seine Adresse nennt, fügte hinzu:
Ich bekomme seit Jahren die gleiche Menge Insulin wegen meiner langjährigen Zuckerkrankheit und ein Schmerzmittel, das mir nach vielen Operationen ein einigermaßen schmerzfreies Leben und Arbeiten erlaubt.
Er schließt den Brief folgendermaßen:
Weil ich arm bin, muß ich nun früher sterben?
Meine Damen und Herren, solche Vorgänge sollten wir nicht unterschätzen, weil sie mit dem Inhalt des Gesetzes nichts zu tun haben, weil sie durch den Inhalt des Gesetzes nicht gedeckt sind und schon den Verdacht auslösen, daß man andere Interessen als die des Versicherten und des Patienten verfolgt.
Bei aller Notwendigkeit der Auseinandersetzung bitte ich die Ärztinnen und Ärzte, bei allem Streit, der auch noch in den nächsten Wochen stattfinden wird: Hüten wir uns davor, die Auseinandersetzung auf dem Rücken der Patienten auszutragen!
Auch das gehört zur Verantwortung. Wenn man mit uns streiten will, soll man sich die Politiker heraussuchen, aber nicht die Versicherten und die Patienten. Ich möchte an die Verantwortung solcher Ärzte appellieren: Denken Sie auch einmal an die menschliche Dimension, daran, welche Sorgen, welche Ängste, welche schlaflosen Nächte Sie den Menschen bereiten, wenn Sie entgegen Ihren Kenntnissen oder vielleicht aus Unkenntnis solche Informationen weitertransportieren. Es wäre natürlich noch schlimmer, wenn das wissentlich geschähe.
Was passiert denn im Arzneimittelbereich? An diesem Komplex wird ja die Behauptung, man könne nicht mehr so viel verschreiben, festgemacht. An einem möglichen Defizit im Arzneimittelbereich beteiligt sich der Pharmabereich, die Pharmahersteller, mit einem Volumen bis Ende 1994 von 3 Milliarden DM. Das ist beachtlich. Ich denke, das ist das erste Mal seit Bestehen der gesetzlichen Krankenversicherung, daß ein spürbarer Solidarbeitrag der Pharmahersteller nicht nur gefordert, sondern auch eingebracht wird. Mich stört hier überhaupt nicht die Äußerung des Herrn von Loeper, sondern ich möchte sogar sagen, daß die Pharmahersteller in dieser Reformdiskussion ausgesprochen klug reagiert haben. Ausgesprochen klug! Das waren vielleicht noch diejenigen, die mit am meisten sachliche Argumente eingebracht haben. Ich sage das ausdrücklich; denn 3 Milliarden sind kein Pappenstiel. Ich bin froh, daß wir das in der Koalition und mit der Opposition durchgehalten haben. Das ist eine Schiene zur Finanzierung des Defizits.
Das Zweite ist die Zuzahlung des Versicherten. Darauf komme ich noch, auch auf die soziale Wirkung. Das Dritte ist das sogenannte Arzneimittelbudget, auf das sich jetzt offensichtlich viele Ärzte beziehen, wenn sie den Patienten sagen: Wir können nicht mehr verschreiben, was eigentlich notwendig ist.
Meine Damen und Herren, ich versichere auch hier der gesamten deutschen Öffentlichkeit: Auch ab Januar 1993 wird jeder Patient sein medizinisch notwendiges Medikament bekommen. Es steht an keiner Stelle im Gesetz, daß ein notwendiges Medikament ab Januar 1993 nicht mehr verordnet werden dürfe. Es bleibt — gerade für chronisch Kranke — bei Langzeitkranken dabei, daß sie so wie bisher das, was sie zur Heilung, zur Linderung ihrer Krankheit brauchen, uneingeschränkt auch in der Zukunft bekommen. Daran ändert das Arzneimittelbudget überhaupt nichts. Das Arzneimittelbudget hat nur eine Funktion: auch den Arzt in die Überlegung einzubeziehen, wie Überflüssiges vermieden werden kann. Es geht nicht darum, das Notwendige vorzuenthalten, meine Damen und Herren, sondern das Überflüssige. Wenn Jahr für Jahr in Milliardenhöhe Arzneimittel auf dem Sondermüll landen, wenn mir Ärzte in jedem Gespräch sagen, es werde in Deutschland zuviel verordnet und zuwenig mit den Patienten gesprochen, dann erlaube ich mir das Urteil: Es gibt Überflüssiges bei der Arzneimittelversorgung.
Deshalb sind Qualitätssicherung und Sparen kein Widerspruch. Man kann in diesem Gesundheitswesen unter Ausnutzung von Wirtschaftlichkeitsreserven sparen, ohne die Qualität der medizinischen Versorgung zu beeinträchtigen. Es bleibt dabei, daß der Patient das Notwendige bekommt. Das haben wir nicht im Gesetz verändert. Es muß mir einmal jemand den einen Satz zeigen, in dem steht, daß das Notwendige ab Janaur 1993 nicht mehr verordnet werden darf. Folgendes steht jetzt drin: So wie die Pharmahersteller und die Apotheker mit ihrem Solidarbeitrag ein Defizit zu tragen oder zu verhindern helfen, so wie die Versicherten mit ihren Zuzahlungen ebenfalls die
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Aufwendungen bei Arzneimitteln zeitlich unbefristet mitzufinanzieren haben, so haben wir bei den Ärzten — jetzt lege ich wirklich Betonung auf folgende Feststellung — für ein Jahr begrenzt, also nur für 1993, ein Arzneimittelbudget vorgesehen. Dieses kürzt nicht die Aufwendungen für Arzneimittel, sondern stellt die Rekordmarke zur Verfügung, die jemals in Deutschland für Arzneimittel ausgegeben wurde, nämlich 24 Milliarden DM. Wir sind Weltmeister im Schlucken von Medikamenten und Tröpfchen. Das wird nicht gekürzt, sondern zur Verfügung gestellt. Das kann verordnet werden.
Ich höre da und dort, die größere Befürchtung sei, daß das unterschritten wird. Bei den Apothekern besteht z. B. diese große Befürchtung, weil sie Umsatzeinbußen befürchten und damit auch kalkulieren.
Nur, meine Damen und Herren, selbst wenn jetzt mehr verordnet wird — was, wie gesagt, im Gesetz nicht verboten ist —, dann ist genauso wie bei der Einbeziehung des Versicherten und des Pharmaherstellers auch zu überlegen: In welcher Form trägt der Arzt, der ja verordnet, zur Finanzierung des Defizits bei? Es geht nur um 1993. Da steht jetzt im Gesetz, daß maximal 280 Millionen DM an Defizit von sämtlichen Ärzten in der Bundesrepublik Deutschland zu tragen sind, und zwar ist das Bundesrepublik ; für den Osten gilt das überhaupt nicht.
Meine Damen und Herren, 280 Millionen sind 1 % des gesamten ärztlichen Honorarvolumens. Es geht um 1 %, falls diese 24 Milliarden überschritten werden.
Das heißt im Klartext: Selbst wenn ich den Fall unterstelle, daß plötzlich die gesamte Bundesrepublik Deutschland an einer fiebrigen Erkältung leidet und 4 Monate lang arbeitsunfähig ist und für 50 Milliarden DM Arznei verschrieben werden, d. h. das Doppelte von heute, dann ist die einzige Wirkung aus dem Gesetz, daß die Ärzte davon 280 Millionen mitzutragen haben. Das ist nämlich nach oben beschränkt. 280 Millionen DM sind 1 % ihres gesamten Honorarvolumens.
Die Versicherten tragen weitaus mehr. Die Pharmahersteller tragen weit aus mehr. Diese Haftung der Ärzte ist auf dieses eine Prozent ihres gesamten Honorarvolumens begrenzt. Es gibt kein individuelles Budget. Es gibt keine Quartalshaftung. Alles, was da behauptet wird, ist falsch. Es wird dann die Gesamtvergütung maximal um dieses eine Prozent gesenkt.
Wir erwarten aber gar nicht, daß es überschritten wird. Ich stelle nur einmal für die Öffentlichkeit dar, was passiert, wenn es überschritten wird, wenn zweimal oder dreimal oder viermal so viel ausgegeben wird. Es bleibt immer bei diesem einen Prozent. Es muß nicht überschritten werden — ich bleibe bei meiner These —, weil es Überflüssiges in diesem Bereich gibt.
Wenn ich mir die Ärzte, die ich persönlich kenne, näher ansehe, kann ich einfach nicht glauben, daß
jemand wegen 1 % seines Honorars einen solchen Zirkus in der Praxis veranstaltet oder gar nicht bereit wäre, ein notwendiges Medikament einem Patienten, der das braucht, zu verordnen. Ich glaube, daß ganz überwiegend der ethische Bezug zum Arztberuf noch so ausgeprägt ist — Gott sei Dank —, daß man nicht wegen dieses einen Prozents für den Fall der Fälle sagt: Jetzt verordne ich nicht mehr als diese 24 Milliarden DM.
Das ist das Arzneimittelbudget. Deshalb ist die Feststellung uneingeschränkt richtig: Es bleibt auch nach dieser Gesundheitsreform in der Bundesrepublik Deutschland in allen Bereichen bei einer Versorgung auf hohem Niveau.
Ein Wort zum Versicherten. Im Kern ist er durch die Zuzahlung bei Arzneimitteln betroffen, und zwar mit 3 DM, 5 DM oder 7 DM. Das geht zunächst im Jahre 1993 nach dem Arzneimittelpreis und ab 1994 nach der Packungsgröße. Hier haben wir uns sehr intensiv mehrmals — in den Klausurtagungen und dazwischen — mit dem Gedanken beschäftigt: Wie kann man soziale Abfederungen durchführen bei Menschen, die nur über geringes Einkommen verfügen, und bei Menschen, die regelmäßig auf Arzneimittel angewiesen sind?
Deshalb ist es schon wichtig für die Öffentlichkeit: Es bleibt bei der Härtefallregelung, die sich bewährt hat. Das ist eine Härtefallregelung mit zwei Elementen. Menschen, die ein bestimmtes Einkommen nicht überschreiten, sind völlig befreit von der Zuzahlung. Das ist z. B. bei einem Rentnerehepaar eine Rente von unter 2 040 DM. Diese Einkommensgrenze ist familienfreundlich gestaltet, weil sie sich mit Ehegatten und Kindern erhöht. Diese Härtefallregelung ist auch deshalb familienfreundlich, weil Kinder von Zuzahlung bei Arzneimitteln völlig ausgenommen sind. Bei den Menschen, die diese Härtefallgrenze, die zur völligen Befreiung der Zuzahlung führt, überschreiten, gibt es die Überforderungsklausel, wonach nicht mehr als 2 % des Einkommens für die Zuzahlung aufzuwenden sind; das ist der sogenannte Überforderungsschutz.
Deshalb denken wir — nach Abwägung aller Alternativen, die es auf dem Gebiet auch geben könnte —, daß dies eine gerechte Abfederung der Zuzahlung bei den Arzneimitteln ist und daß man sie auch unter den Aspekten der sozialen Gerechtigkeit vertreten und zumuten kann.
— Daß der Herr Dr. Altherr bei diesem Punkt Beifall klatscht, überrascht mich nicht!
Meine Damen und Herren, Graf Lambsdorff ist leider nicht da. Sonst hätte ich ihm gerne wieder gesagt: Es ist weit mehr als ein Reparaturgesetz. Ich teile die Meinung, die hier verschiedentlich geäußert worden ist, daß wir auch große Strukturveränderungen einleiten.
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Nach alldem, was schon gesagt wurde, will ich als tiefgreifendste Strukturveränderung die Reform im Krankenhaus ansprechen. Es ist ja erstaunlich: Wir sind jetzt jahrelang dafür kritisiert worden — schon bei der ersten Reform besonders hart —, daß das Krankenhaus nicht in die Reform einbezogen worden war, was ein Fehler war.
Es war nicht ein Fehler von Norbert Blüm, sondern ein Fehler insbesondere der Länder, deren Interessen ich damals auch sehr stark vertreten habe. Ich sage dies nur, damit kein Mißverständnis auftritt.
Jetzt, wo es geschieht, wird das als Selbstverständlichkeit abgelegt. Jetzt spricht keiner darüber. Das wird als selbstverständlich konsumiert. Dabei ist das, was da stattfindet — der Kollege Wolfgang Lohmann sagte das —, geradezu revolutionär: daß wir das Selbstkostendeckungsprinzip ablösen; daß wir an Stelle des Pflegesatzes, mit dem gewissermaßen ein belegtes Bett erstattet wird, einen Preis für eine Behandlung setzen und damit mehr Wirtschaftlichkeit ins Krankenhaus bringen; daß wir den Krankenhäusern künftig ermöglichen, ambulant zu diagnostizieren, zu therapieren und zu operieren. 20 Jahre lang haben wir mit den Ärzten und den Ländern über eine bessere Verzahnung von ambulanter und stationärer Behandlung gestritten. Das kommt jetzt mit dem Gesetz.
Am Beginn der Diskussion hätte ich es nicht für möglich gehalten, daß wir die Krankenhauslandschaft so tiefgreifend reformieren. Das geschieht auch nicht, wie oft behauptet wird, um die Krankenhauslandschaft zu zerschlagen, sondern das geschieht, um sie auf diesem hohen Niveau auf Dauer funktionsfähig und finanzierbar zu halten. Das ist das Ziel.
Denn eines muß man wissen: Wenn man Tagespflegesätze von 600, 700 oder 800 DM hat, dann bleibt uns doch nichts anderes übrig, als die Qualität zu reduzieren. Das wäre das weitaus größere Übel, wenn wir den medizinischen Fortschritt aus Finanzgründen nicht mehr zulassen würden. Ich will auch in der Zukunft den medizinischen Fortschritt, und zwar auch in den Krankenhäusern.
Wenn wir ihn wollen, dann müssen wir rechtzeitig Unwirtschaftlichkeiten und Ineffizienzen beseitigen. Dann können wir die Qualität auf hohem Niveau sichern. Das ist das Ziel. Deshalb bleiben die Krankenhäuser auch künftig Stätten der Hochleistungsmedizin.
Wir behalten auch eine pluralistische Krankenhauslandschaft: öffentlich-rechtlich, privatgesellschaftlich, frei-gemeinnützig, kirchlich und rein privatrechtlich. Das wollen wir doch. Deshalb machen wir auch die Reform, damit man etwas mehr nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten und weniger nach öffentlich-rechtlicher Kameralistik vorgehen kann.
Ich fordere die Manager, die Krankenhausdirektoren und die Chefärzte auf, ab Januar diese Instrumente offensiv zu nutzen. Andere Länder, deren Vertreter uns wöchentlich besuchen, sehen sich das an und fragen, wie wir das machen. Unser Gesundheitssystem ist auch ein Modell für den Aufbau der Gesundheitssysteme beispielsweise in den osteuropäischen Ländern.
Ich finde im Zusammenhang mit dem Thema Krankenhaus auch bemerkenswert, daß wir damit ein Beispiel dafür liefern, wie man trotz schwieriger finanzieller Lage den Sozialstaat nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten umbauen kann. Wir sparen ja ein gehöriges Stück mehr, als eigentlich notwendig ist, um neue Herausforderungen in der gesetzlichen Krankenversicherung zu bewältigen. Dabei geht völlig unter, daß wir trotz der engen Kassenlage eine neue Personalverordnung in den Krankenhäusern in Kraft setzen, die es erlaubt, bis Ende 1996 insgesamt 26 000 zusätzliche Stellen in den Krankenhäusern zu finanzieren.
Meine Damen und Herren, ist das nicht ein gewaltiger gesundheitspolitischer und sozialpolitischer Fortschritt, wenn wir bei dieser Kassenlage der Krankenversicherung als Politiker den Mut aufbringen, an anderen Stellen, wo es unwirtschaftlich ist, das Geld wegzunehmen und dorthin zu lenken, wo es notwendig ist, damit wir wieder Menschen gewinnen, die bereit sind zum Dienst am Mitmenschen? Jeder von uns braucht den Dienst am Mitmenschen. Das ist ein wirksamer Umbau.
Ich erwähne auch noch — für meine Begriffe ist dies das Juwel der ganzen Reform — das Gemeinschaftsprogramm zur Finanzierung der Investitionen in den Krankenhäusern in den neuen Ländern.
Es ist die Krönung der Reform, daß wir dies noch geschafft haben. Das weiß derjenige, der sich jemals auch nur einige dieser Krankenhäuser einmal angesehen hat. Die Menschen liegen dort in Sälen mit acht oder zehn Betten. Trotzdem bringt man dort noch relativ viel Humor ein, wie das letztens in Halberstadt der Fall war, wo mir ein Patient sagte: „Das Gute an diesen Zimmern ist, man kann nicht aus dem Bett fallen, weil die Betten so eng aneinander stehen."
Wer das sieht, der muß zu diesem Gemeinschaftsprogramm ja sagen. Der Bund bringt dafür 7 Milliarden DM in zehn Jahren auf, die Länder bringen mindestens 7 Milliarden DM auf, und die gesetzlichen Krankenversicherungen bringen in 20 Jahren ebenfalls 7 Milliarden DM auf. Wenn es in diesen Tagen ein leuchtendes Beispiel für Solidarität nicht nur in Worten, sondern auch für praktizierte Solidarität gibt, dann ist es dieses Beispiel, wie jetzt gemeinschaftlich von Bund, Ländern und Krankenkassen diesem großen Problem des investiven Nachholbedarfs in den neuen Ländern Rechnung getragen wird.
Das sind echte Strukturveränderungen: die bessere Verzahnung von stationärer und ambulanter Be-
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handlung. Warum soll denn ein Patient, der in einem Krankenhaus operiert worden ist, dort nicht ambulant nachbehandelt werden können? Warum soll ein Patient, der ins Krankenhaus eingewiesen worden ist, nicht in geeigneten Fällen ambulant diagnostiziert werden können? Ich verstehe überhaupt nicht, warum es da und dort im Bereich der niedergelassenen Ärzte Vorbehalte gibt. Es handelt sich doch um Patienten, die aus dem Bereich der niedergelassenen Ärzte eingewiesen worden sind. Da wird doch nichts weggenommen.
Die Waffengleichheit wird dadurch hergestellt, daß wir das ambulante Operieren auch im niedergelassenen Bereich sehr stark fördern, nämlich mit einem 10%igen Lüften des Deckels.
— Für ambulantes Operieren sind außerhalb des Deckels jedes Jahr — 1993, 1994 und 1995 — 10 % vorgesehen. Wir machen damit ernst, daß in der Bundesrepublik Deutschland mehr ambulante und weniger stationäre Behandlungen erfolgen.
Es gibt viele Krankheiten, die stationär behandelt werden müssen. In Erlangen hat man in einem Versuch geprüft, wie viele der eingewiesenen Patienten wirklich einer stationären Behandlung bedürfen. Es hat sich herausgestellt, daß 30 % eigentlich nicht hätten ins Krankenhaus eingewiesen werden müssen. Das sind Effizienzverluste.
— 30 %. Ich bleibe auf der sicheren Seite — mir ist unter vier Augen auch eine höhere Zahl genannt worden —, weil man ja bei jeder Zahl, die man nennt, Hunderte von Briefen bekommt, um das zu belegen. Da können wir etwas ausnutzen.
Ich denke, wir müssen in Deutschland schon darauf schauen, daß wir nicht für jedes Lebensproblem ein Heim aufstellen; sonst kommen wir in den Hospitalismus. Das löst nicht nur finanzielle, sondern auch menschliche Probleme aus.
Zur Gesetzesberatung: Es wird immer gesagt, in der Politik höre man nicht auf Argumente, sei man nicht bereit zu Änderungen, sei man zu engstirnig. Ich möchte dazu nur sagen, daß es zu dem eingebrachten Gesetzentwurf auf Grund der öffentlichen Diskussion und der Sachverständigenanhörungen 150 Änderungsanträge gegeben hat. Die führe ich jetzt nicht alle auf, aber einer scheint mir besonders bemerkenswert zu sein.
— Das wäre eine Buße für die Kollegen, die da mitgemacht haben.
Meine Damen und Herren, neben dem Sparen und dem Umsteuern, was ich schon angesprochen habe, war es auch möglich, da und dort gesundheitspolitische Weichenstellungen vorzunehmen. Das gilt z. B. für die dreijährige Weiterbildung zum Kassenarzt
oder für den besseren Patentschutz bei den Arzneimitteln. Das gilt auch — das möchte ich besonders hervorheben — für die Prophylaxe bei der Zahnbehandlung oder Prävention beim niedergelassenen Arzt. Beides ist außerhalb des Deckels mit großen Steigerungsraten 1993, 1994 und 1995 möglich. Wir verwirklichen damit den gesundheitspolitischen Grundsatz: Die beste Medizin ist noch immer die Vorbeugung. Da muß auch nichts zugezahlt werden.
Ich finde, daß dies im Gesetzgebungsverfahren gut gelungen ist.
Ich weiche aber auch zwei besonders umstrittenen Punkten nicht aus, nämlich der Bedarfsplanung bei den Kassenärzten und den freiwillig Versicherten. Daß ein Zusammenhang zwischen der steigenden Arztzahl und den steigenden Ausgaben besteht, kann man doch ernstlich nicht bestreiten. Ich sagte schon einmal in der ersten Lesung, daß wir in zehn Jahren zusätzlich 17 000 Ärzte bekommen haben. Das ist eine Steigerung um 25 %. Die Behandlungsbedürftigkeit der Menschen ist in dem selben Zeitraum um exakt 24 % gestiegen. Ich befinde mich da in guter Zeugenschaft: Der Vorsitzende der niedersächsischen Kassenärztlichen Vereinigung hat in der „Ärztezeitung" vor wenigen Tagen erklärt — und bisher nicht dementiert —, je mehr Wettbewerb entstehe, um so größer werde das Risiko, daß dies die Praxiskosten erhöhe, etwa wenn Ärzte um die Wette in Geräte investierten und Personal anstellten, um einen höheren Anteil am Gesamthonorar zu erwerben.
Wir haben Untersuchungen angestellt. Dort, wo die Arztdichte sehr hoch ist, steigen die Ausgaben je Mitglied drastisch. Viele Ärzte sagen mir: „Was soll ich denn tun? Wenn ich nicht verordne, tut es mein Kollege. " Um auch hier Mißverständnissen vorzubeugen: Das ist kein subjektiver Vorwurf an diejenigen, die handeln, sondern das ist bei den Strukturen, die vorhanden sind, systemimmanent. Deshalb müssen wir die Strukturen verändern.
Mir geht es nicht um einen Systemwechsel, sondern mir geht es um Strukturreformen innerhalb des Systems; denn wir verdanken diesem System sehr viel. Die ganze Qualität hat sich ja innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung entwickelt. Das dürfen wir nicht ganz vergessen, wenn wir uns so kritisch über die Lage heute unterhalten. Deshalb müssen wir zur kassenärztlichen Bedarfsplanung kommen.
Ich sage allen Kollegen, die damit ihre Schwierigkeiten haben: Auch wir im Gesundheitsministerium wissen, daß dies eine Frage von hohem verfassungsrechtlichen Rang ist und daß man sie sehr sorgfältig abwägen mußte. Dies haben wir auch getan. Das Ganze ist kein Schnellschuß. Wir haben bereits nach Nürburg, nachdem der Regierungsentwurf von damals formuliert worden war, renommierte Professoren damit beauftragt, uns ein Gutachten dazu zu machen. Wir denken, wir haben sogar die Nummer eins des deutschen Sozialrechts damit beauftragt. Die Ergebnisse waren uns natürlich bekannt und liegen jetzt schriftlich vor.
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Bundesminister Horst Seehofer
Ich zitiere aus einem Gutachten. Das Zitat, das ich vorlese, ist etwas länger. Nur, es ist von einer hohen Bedeutung. Ich will damit deutlich machen, daß wir es uns nicht leichtgemacht haben. Ein solches Gutachten — das weiß auch ich — sagt noch nicht, daß es verfassungsfest ist, daß es vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben wird. Dort wird es landen. Aber ich möchte deutlich machen, daß wir es uns als Parlamentarier und als Ministerium nicht leichtgemacht haben. Wir werden hinsichtlich der in dem Gesetzentwurf enthaltenen Bedarfsplanung bestätigt. Dieses Gutachten ist auf der Grundlage des Regierungsentwurfs, also in Kenntnis der vorgesehenen Bedarfsplanung, erstattet worden. Ich darf die wichtigste Passage vorlesen:
Orientiert man sich an den vorsichtigen und unter ausdrücklichem Vorbehalt einer abweichenden Entwicklung gestellten Ausführungen im Kassenarzt- und Kassenzahnarzturteil des Bundesverfassungsgerichts, dürften die Änderungen des Sachverhalts recht deutlich zugunsten der gesetzlichen Maßnahme sprechen. Aber auch wenn man nicht die damalige Entscheidung zum Maßstab nimmt, sondern auf dem heutigen Stand der Dogmatik der Berufsfreiheit eine genauere Erfassung der Grundrechtslage vornimmt, kann man dem Gesetzgeber angesichts der gravierenden finanziellen Probleme der gesetzlichen Krankenversicherung mit ihren Auswirkungen auf die weiteren Gemeinwohlziele und bei Würdigung der Besonderheiten des Kassenarztberufes im System der gesetzlichen Krankenversicherung und ungeachtet der Belastungen der niederlassungswilligen Ärzte und der mit einer Zulassungsbeschränkung verbundenen Auswahlprobleme keinesfalls eine deutliche Fehlgewichtung vorwerfen. Die Regelung ist als erforderlich und verhältnismäßig im engeren verfassungsrechtlichen Sinne anzusehen.
Zwei Professoren haben dieses Gutachten erstattet. Wir waren im Gesundheitsministerium bei der Güterabwägung ohnehin immer dieser Meinung. Ich sage ausdrücklich noch einmal: Das ist kein Vorgriff auf das zu erwartende Verfassungsgerichtsverfahren. Nur, wir haben das sehr, sehr sorgfältig beurteilt und das nicht einfach emotional zurückgewiesen, nachdem auch der Rechtsausschuß dies zu einem Punkt gemacht hatte.
Mich hat in diesem Gutachten besonders überrascht, daß der Numerus clausus, also der Eingriff bei dem Studienzugang, um die Arztzahl zu reduzieren, als der tiefere Eingriff in die Berufswahlfreiheit bezeichnet wurde, vor allen Dingen wegen der Umgehungsmöglichkeiten, die es gibt: Jemand, der im Ausland studiert, oder ein EG-Mitbürger müßte nämlich in der Bundesrepublik Deutschland als Kassenarzt zugelassen werden.
Auch das müßten wir der jungen Generation sagen: Wir beschränken euren Zugang zum Medizinstudium in Deutschland, können aber nicht verhindern, daß es mehr, und zwar drastisch mehr, Kassenärzte in Deutschland gibt, weil jeder, der um Deutschland herum studiert, in Deutschland als Kassenarzt zugelassen werden muß. Unterschätzen Sie die Probleme
nicht. Es gibt bereits eine erhebliche Zahl, die sicher noch zunehmen wird.
Deshalb, glauben wir, sind wir hier sorgfältig vorgegangen. Darauf lege ich höchsten Wert. Die Inhalte sind von Kollegen schon ausreichend dargestellt worden.
Ähnlich ist es beim freiwillig Versicherten. Wir haben einmal die Historie zurückverfolgt. Es ist schon interessant, daß die Regelungen, die wir ab 1993 einführen, in der Bundesrepublik Deutschland teilweise schon Gültigkeit hatten. So sind erst 1983 z. B. alle Einkunftsarten bei freiwillig Versicherten unterschiedlich behandelt worden. Vor 1983 gab es eine volle Heranziehung aller Einkunftsarten der freiwillig Versicherten. 1989 wurde die Neunzehntel-Regelung, die Vorversicherungszeit, eingeführt. Man höre und staune: Erst 1989 wurde die Halbierung des Beitragssatzes für freiwillig versicherte Ruheständler mit Pension und betrieblicher Altersversorgung, die keine gesetzliche Rente haben, eingeführt. 1989!
Jetzt war für uns die Frage: Wollen wir für alle, z. B. für alle freiwillig Versicherten, die Beiträge erhöhen? Oder sollen wir nicht zunächst einmal, wenn schon große Gruppen von freiwillig Versicherten den vollen Beitrag zu zahlen und das ganze Einkommen heranzuziehen haben, wie es in der gesetzlichen Krankenversicherung seit eh und je der Fall ist, wenn freiwillig Versicherte und Pflichtversicherte bei der Bemessungsgrundlage unterschiedlich behandelt werden, Ungerechtigkeiten beseitigen? Da sage ich Ihnen mit voller Überzeugung: Bevor ich für alle die Beiträge erhöhe, bevor ich für alle freiwillig versicherten Rentner oder vielleicht sogar für alle versicherten Rentner die Belastungen erhöhe, beseitige ich die Ungerechtigkeiten im System.
Es ist ungerecht, wenn von vier Gruppen freiwillig Versicherter zwei Gruppen ihre gesamten Bezüge heranzuziehen haben und den vollen Beitrag leisten und zwei Gruppen mit zwei unterschiedlichen Fallgestaltungen nicht ihre ganzen Einkommen heranzuziehen haben. Wie wollen wir es denn den Menschen draußen erklären, wenn wir diese Ungerechtigkeit lassen, aber dafür für alle die Beiträge erhöhen? Das wäre die Alternative gewesen. Ich bin der Koalition dankbar, daß sie diesen Weg mitgegangen ist, weil er sozialpolitisch nicht nur geboten, sondern auch gerechter ist.
Wir haben noch die Änderung vorgenommen, daß diese Regelung nur für Neufälle ab 1993 gilt, nicht für den Rentenbestand. Das erfolgte nicht aus dem Grund — der jetzt leichtfertig schon wieder niedergeschrieben wird —, weil wir ein schlechtes Gewissen hätten oder verfassungsrechtliche Probleme sähen, sondern einfach aus Praktikabilitätsgründen. Denn wir wollen einem 70- oder 75jährigen freiwillig versicherten Rentner — das trifft auf die anderen 80 % Rentner gar nicht zu — nicht zumuten, daß er zehn oder 15 Jahre rückwirkend seinen Versicherungsfall der Krankenkasse vorlegen muß. Ich denke, das ist nicht nur ein humaner Akt, sondern auch ein wesentlicher Beitrag zur Entbürokratisierung in der gesetzli-
10952 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 9. Dezember 1992
Bundesminister Horst Seehofer
chen Krankenversicherung. Es ist viel leichter, dies für einen Rentenneuzugang vorzusehen.