Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Voigt, ich glaube kaum, daß ich etwas Neues sagen werde, aber ich hoffe in jedem Fall, daß ich nichts Falsches sagen werde, nichts Falsches wie etwa der Kollege Verheugen im Gegensatz zum Kollegen Professor Soell.
Herr Verheugen, wenn Sie die Aussage des Außenministers, es seien ernste Gespräche gewesen, so interpretieren, daß in den Gesprächen in Moskau die Fetzen geflogen seien, dann will ich einmal in Frageform kleiden, was dort hätte sein können. Hätte es nicht sein können, daß Herr Gorbatschow wirklich ernsthaft über die Entwicklung besorgt ist, über eine Entwicklung, die er selber initiiert hat und die nun einen Punkt erreicht hat, an dem die Kontrolle verlorengehen könnte, und an dem ihm die Geister, die er selber gerufen hat, davonlaufen könnten? Das ist sowohl für ihn als auch für uns besorgniserregend. Aber es brauchen nicht die Fetzen zu fliegen, wenn man solche ernsten Gespräche führt.
Sie können dessen sicher sein, daß es so gewesen ist.
Was die GRÜNEN angeht
— ja, ja — , so habe ich ursprünglich angenommen, sie wollten hier eine Debatte führen, in der sie die Bundesregierung gewissermaßen zwingen, nach dem Motto zu handeln: Tue Gutes und rede davon. — Die Bundesregierung hat ausnahmsweise einmal nicht über ihre guten Taten geredet, und schon wird es ihr vorgeworfen, was ich bedauerlich finde.
Meine Damen und Herren, Sie wollten über Ihre Abneigung gegenüber dem erkennbaren Prozeß hin zur Einheit Deutschlands reden. Sie haben heute im wesentlichen skeptische Nachbarn und Verbündete bemüht. Das ist in der Tat ein Thema. Informieren lassen wollten Sie sich jedenfalls nicht, denn sonst wären Sie ja hier geblieben oder erst einmal hier gewesen.
Es geht also um einen Prozeß, von dem man sicherlich annehmen muß, daß er nicht auf ungeteilten Beifall stößt. Die Schwierigkeit des gegenwärtigen Prozesses besteht darin, daß drei unterschiedliche Entwicklungslinien vorhanden sind — der Kollege Professor Soell hat darauf hingewiesen —, der Prozeß der europäischen Einigung, der Prozeß zur deutschen Einheit und der Prozeß hin zur Errichtung eines Sicherheitsgebäudes.
Wir glaubten immer, wir hätten das Tempo dieses Prozesses in unseren eigenen Händen und unter Kontrolle. Im Grunde waren wir alle überrascht, daß die Geschichte oder die Menschen in der DDR oder in Ungarn, die Geschichte machen, diesen Prozeß in anderer Weise bestimmen.
Gegenwärtig besteht die Gefahr, daß es unterschiedliche Tempi bei dieser Entwicklung gibt, daß der Prozeß der deutschen Einheit schneller zu sein scheint als die anderen Prozesse und daß damit Spannungselemente entstehen. Das ist wohl so. Aber wir können die Antwort doch nicht in der Weise geben — wie auch manche der Freunde es tun, wenn ich an die Äußerungen von Dumas denke, die er gestern gemacht hat —, daß wir dem Selbstbestimmungsrecht den absoluten Charakter nehmen und es so relativieren, daß es zur Disposition der Nachbarn und Verbündeten steht. Das geht nicht. Das ist ein Widerspruch in sich.
Es ist allerdings unsere Verpflichtung, in einer weisen Selbstbeschränkung von dem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch zu machen, und das versprechen wir auch. Ich bitte, mit Verlaub sagen zu dürfen: 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland, Leistung für Europa, Leistung für die Demokratie sind ein hinrei-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Dezember 1989 14341
Lummer
chender Beweis dafür, daß es Alleingänge, die zu Lasten anderer gehen, nicht geben wird.
Ich glaube, in diesem Bemühen sollten wir uns wirklich einig sein.
Der Kollege Lippelt hat gesagt, wir hätten es gewissermaßen provoziert, daß in Leipzig zunehmend von Einheit und nicht nur von anderen Dingen die Rede sei. Anfangs haben die GRÜNEN hier von dieser Stelle aus ja noch stolz verkündet, von Einheit sei da drüben gar nicht die Rede, sondern man rede von ganz anderen Dingen.
In der Geschichte gibt es immer wieder einmal gleichlaufende Prozesse. Denken Sie an den 17. Juni: Erst waren es die Normen, dann kam die Demokratie, dann kam die Einheit. In der Sowjetunion geht es erst um das Wohlergehen, aber sehr bald kommen andere Prozesse, die die Einheit und die Freiheit betreffen, hinzu. Das ist offenbar ein natürlicher Verlauf der Entwicklung, und das hat ja etwas mit dem Selbstbestimmungsrecht zu tun. Insofern kann man es letztendlich nur unterstützen.
Von daher sage ich: Das, was in Leipzig geschieht, ist nicht Ausdruck einer Beeinflussung von außen, sondern etwas, was mit dem Selbstbestimmungsrecht zu tun hat. Davon wollen die Menschen Gebrauch machen.
Ich denke, wir sollten uns selber verpflichten, zu versuchen, diesen Prozeß zu kontrollieren. Wir sollten gemeinsam den Versuch machen, unseren Verbündeten klarzumachen, daß dieser Prozeß, der die Einheit Deutschlands herbeiführt, der die Teilung Deutschlands überwindet, auch ein Vorteil für Europa ist, in das wir diesen Prozeß eingebettet wissen wollen. Ich glaube, wir haben durch unsere Politik hinreichende Beispiele dafür gegeben, daß Sorgen und Angste der Verbündeten zwar verständlich, aber letztendlich unbegründet sind.