Rede von
Dr.
Antje
Vollmer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die ganze Welt redet über Helmut Kohls Wiedervereinigungspläne. Eine große Verunsicherung, ja sogar Alarmstimmung über die bundesdeutsche Politik beherrscht das diplomatische Parkett in Ost und West. Aber der Deutsche Bundestag soll darüber nicht einmal diskutieren. Das ist in einer Demokratie etwas Ungewöhnliches, ja ein Skandal.
Man kann bei den Gesprächen am runden Tisch in der DDR nur raten, eine Verfassung zu schaffen, die eine solche Demütigung des Parlaments nicht zuläßt.
Wenn nicht alles täuscht, befinden wir uns an einem ausgesprochen gefährlichen Zeitpunkt: Viel in Jahrzehnten aufgebautes Vertrauen in die Berechenbarkeit der bundesdeutschen Politik und der europäischen Verhältnisse kann dabei verspielt werden. Jacques Chirac hat vom drohenden Weg von Jalta zurück nach Sarajevo gesprochen.
Und warum das Ganze? Weil ein Provinzpolitiker Weltpolitik machen will.
Weil ein Mann, der in seiner Partei alles weggebissen hat, was Arbeits- und Ämterteilung garantieren würde, zur Zeit die Wahlkampfführung als seine zentrale Aufgabe ansieht.
Staatsmännische Klugheit, politische Vorsicht, diplomatische Höflichkeit und koalitionspolitisches Fair play gelten einfach nichts mehr. Manchmal fürchte ich, es könnte zu einem großen Unglück für die Demokratiebewegung in der DDR werden, daß sie mit ihrer gewaltfreien Revolution einfach nicht mehr so lange warten wollte, bis hier bei uns der Wahlkampf vorbei ist.
Was gilt noch ihr Recht auf Selbstbestimmung? Was zählt, daß sie Zeit brauchen, Zeit und nochmals Zeit? Wer achtet darauf, daß jeder Schritt, den sie jetzt tun, korrigierbar bleiben muß, weil die Korrigierbarkeit das Wesen demokratischer Entscheidungen ausmacht?
Helmut Kohl und die bundesdeutsche Politik spielen mit dem Feuer. Wann gab es das jemals, daß unisono von der „Bild"-Zeitung bis zu Rudolf Augstein und zur „Frankfurter Allgemeinen" ein Thema jede
14328 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Dezember 1989
Frau Dr. Vollmer
andere politische Frage in der Welt an den Rand gedrückt hat? Was ist, wenn wir uns damit irren? Und was ist, wenn der große nationale Konsens, der leider auch die SPD erfaßt hat, haarscharf an der Wirklichkeit, an den realen Möglichkeiten vorbeigeht?
Es ist absurd, daß ausgerechnet die GRÜNEN in diesem Parlament die einzigen Realpolitiker sein sollen.
Was ist mit der SPD los, wenn sie die ganzen mühsam errungenen Früchte des internationalen Vertrauens ihrer Ostpolitik zusammen mit einem doch durchaus hoffnungsvollen Kanzlerkandidaten in einem nationalen Strohfeuer mit verfeuern läßt?
Wir schlagen in aller Kürze folgendes als rauschabstinente Alternative vor:
Erstens. Respektieren wir das Recht der DDR-Bevölkerung, sich über freie Wahlen eine demokratische Verfassung, ein Parlament und eine demokratische Öffentlichkeit zu gestalten,
und zwar ohne unsere Einmischung.
Zweitens. Leisten wir sofort wirtschaftliche Hilfe, und denken wir dabei auch an einen Lastenausgleich, der die hohen Reparationszahlungen und die ungleichen Startbedingungen der DDR ausgleicht.
Drittens. Lassen Sie uns über Formen einer Vertragsgemeinschaft mit der dann legal gewählten Regierung unter Kontrolle der dann konstituierten demokratischen DDR-Öffentlichkeit reden und diese rechtlich und politisch gestalten.
Viertens. Das ist sehr wichtig: Dazu gehört auch die Anerkennung dieser legal gewählten Regierung sowie der Eigenexistenz ihres Staatswesens inklusive der Respektierung einer eigenen Staatsbürgerschaft. Mit einem Staat, der völkerrechtlich ein Nichts ist, kann man nämlich weder Verträge schließen noch eine Konföderation bilden.
Fünftens. Erproben wir dann konföderative Strukturen oder auch eine Konföderation. Das dauert aber mindestens zwei Legislaturperioden beider deutscher Parlamente, die dann hoffentlich so zusammengesetzt sind, daß sie dieser Aufgabe auch politisch gewachsen sind.
Alles, was zur Zeit über diese fünf Schritte hinausgeht, verunsichert unsere Nachbarn und ist unerlaubte Traumtänzerei.
Ich habe nichts gegen Traumtänzer, aber wenn ich Helmut Kohl ansehe, dann weiß ich, daß er kein Talent für diese Kunst hat.
Ich weiß, wie sein Drahtseilakt enden muß: mit einem harten Sturz auf den Boden der Tatsachen. Er wird nicht mehr, sondern weniger erreichen, als in den jetzigen, wirklich historischen Möglichkeiten liegt. Sorgen wir dafür, daß er bei seiner notwendigen Bruchlandung nicht allzuviel von dem mit einreißt, was wir für eine andere Politik noch dringend brauchen werden.