Rede von
Dr.
Renate
Hellwig
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Ich möchte gerade dort weitermachen, Herr Peter, wo Sie aufgehört haben.
Sie haben gesagt, Herr Heinrich habe keine sozialpolitische Rede gehalten. Sie fassen den Begriff Sozialpolitik viel zu eng, wenn Sie nur die sozialen Sicherungssysteme als Bestandteile der sozialen Dimension ansehen. Wir haben heute einen Sozialstandard, ein soziales Wohlstandsniveau, von dem unsere Landsleute in der DDR nur träumen. Wenn unsere Landsleute in der DDR von Sozialpolitik reden, dann denken sie an höhere Einkommen und vor allem an einen besseren Lebensstandard. Genau dieses Ziel suchte die EG von Anfang an zu erreichen, indem sie die freie Marktwirtschaft durchsetzte und damit der Entfal-
14306 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Dezember 1989
Frau Dr. Hellwig
tung einer Wirtschaftsdynamik zum Durchbruch verhalf.
Lassen Sie mich deswegen in Form von neun kurzen Thesen zu der Frage eines EG-Sozialraums Stellung nehmen.
Die erste These ist: Die vier großen Freiheiten des Binnenmarkts — die allgemeine Freizügigkeit, der freie Waren- und Dienstleistungsverkehr sowie der freie Kapitalverkehr — sind die wichtigsten Grundlagen der sozialen Dimension.
Lassen Sie es mich wiederholen: Die Wirtschaftsministerin der DDR, Frau Luft, hält es zur Zeit für die wichtigste Aufgabe, Bestandteile der Marktwirtschaft in der DDR einzuführen, um soziale Verbesserungen zu erreichen.
Er hat immerhin gesagt: Vor dem Hintergrund so hoher Produktivitätsunterschiede, wie wir sie in der EG haben — Produktivität ist das, was pro Arbeitnehmer als Erfolg, als Leistung, herauskommt; das ist in Deutschland das Siebenfache dessen, was ein Arbeitnehmer, dank der schlechteren Maschinen, des noch geringeren Standards, z. B. in Portugal schafft —, wäre die Forderung nach Harmonisierung aller Sozialleistungen auf bundesdeutschem Niveau für die weniger entwickelten Mitgliedstaaten geradezu halsbrecherisch.
Sie würden an den damit auf sie zukommenden Kosten ersticken.
Das Beispiel zeigt: Die EG-weite Einführung des deutschen Standards bedeutete jährlich 1 000 Milliarden DM Mehrkosten. Daß das nicht aufzubringen ist, ist doch wohl ganz klar.
Meine Damen und Herren, meine vierte These: Durch die Öffnung der Grenzen finden natürlich auch Wanderungsbewegungen von Industrieansiedlungen und, damit verbunden, von Arbeitsplätzen statt. Dies ist keineswegs ein soziales Unglück. Wenn Arbeitsplätze, die hier nicht mehr besetzbar sind, weil unsere anspruchsvollen Arbeitnehmer besser bezahlte Arbeitsplätze suchen, jetzt z. B. in Portugal angeboten werden, hat das einen doppelten Vorteil, einmal den, daß damit in Portugal Arbeit entsteht, daß Verdienstmöglichkeiten entstehen. Verdienstmöglichkeiten heben das Lebensniveau, das Anspruchsniveau, verbessern die Einkaufsmöglichkeiten, und damit werden automatisch auch unsere Exportchancen verbessert. Im Grunde genommen sind also wohlhabende Nachbarn ein besserer Garant für den eigenen Lebensstandard als arme Nachbarn.
Ich sage immer gern: Die Öffnung im Binnenmarkt, wie wir sie haben, ist die beste und ehrlichste Form der Entwicklungshilfe,
weil sie in diesem Bereich eine ungeahnte Dynamik entfaltet.
Die fünfte These ist, daß natürlich angesichts der relativen Schwäche der Gewerkschaften in ärmeren Ländern die Durchsetzung sozialer Mindeststandards und die Bemühungen der dortigen Gewerkschaften, bessere soziale Schutzrechte durch bessere Tarifabschlüsse zu erreichen, durch entsprechende gesetzliche Rahmenbedingungen unterstützt werden. Wir haben in der EG ein stetes Ansteigen der Produktivität, aber auch des sozialen Standards. Dies zu unterstützen, gibt es meines Erachtens zwei Möglichkeiten: einerseits Gesetze, andererseits Tarifverhandlungen.
Steinkühler und Breit erleben bei EG-Verhandlungen, daß sie z. B. mit ihren Mitbestimmungsforderungen bei den anderen überhaupt nicht durchkommen, weil die sagen: Das ist nicht unsere These; wir leben in Gegnerschaft zu unseren Arbeitgebern. — Sie sind
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noch nicht so weit, daß sie den Wert der Mitbestimmung begreifen würden.
Und — was als weiteres hinzukommt — sie sehen sich auch gar nicht in der Lage, Lohnforderungen etwa wie bei uns zu stellen, so daß es auf absehbare Zeit ein gewisses Gefälle geben wird.