Rede von
Dr.
Dorothee
Wilms
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unsere heutige Diskussion behandelt nicht einen Routinegegenstand parlamentarischer Erörterung, sondern wir sprechen über eine zentrale Aufgabe unseres politischen Handelns, nämlich über die Lage der Nation. Dies bedeutet auch, daß wir über die Menschen und ihr Schicksal im geteilten Deutschland sprechen.
Diese Tatsache, denke ich, verpflichtet uns in ganz besonderer Weise. Die Erfüllung dieser Verpflichtung sind wir allen Deutschen schuldig, besonders unseren Landsleuten in der DDR, die, wie wir alle wissen, unsere Debatten mit großer Aufmerksamkeit verfolgen.
Lassen Sie mich deshalb hier gleich feststellen: Grundlage jeder deutschlandpolitischen Erörterung müssen seriöse, in ihren Konsequenzen durchdachte Überlegungen sein.
Dieses Feld eignet sich eben nicht für leichtfertiges Gerede
oder esoterische Übungen oder leichtfertige Vorwürfe, Herr Kollege Büchler.
Ich muß sagen: Sie wissen es besser.
Sie haben heute eigentlich eine ungute Rolle gespielt; denn Sie wissen die Tatsachen, die Historie und die Hintergründe besser, als Sie sie heute hier dargelegt haben.
Ich begrüße daher sehr nachdrücklich den Entschließungsantrag der CDU/CSU- und FDP-Fraktion zum Bericht zur Lage der Nation, der die Grundlage jeder verantwortlichen Deutschlandpolitik noch einmal nachdrücklich in Erinnerung ruft und markante Orientierungspunkte für die weitere Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen setzt.
Die offene deutsche Frage, meine Damen und Herren, ist wesentlich eine Frage der Menschenrechte; denn einem Teil der Deutschen werden auch heute noch elementare Menschenrechte vorenthalten. Unmittelbar vor dem 40. Jahrestag der UN-Menschenrechtscharta jetzt am 10. Dezember erinnern wir uns
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1988 8117
Bundesminister Frau Dr. Wilms
daran wohl besonders bewußt. Der Bundeskanzler hat eben zu Recht auf den Zusammenhang zwischen der deutschen und der Menschenrechtsfrage hingewiesen. Wir treten für die Menschenrechte überall in der Welt ein, in Chile oder Südafrika, in Nicaragua oder Vietnam. Aber wir fordern ganz selbstverständlich und vor allem die Respektierung der Menschenrechte aller Deutschen.
Wenn ich von „allen Deutschen" spreche, dann schließe ich die Deutschen jenseits von Oder und Neiße, etwa in Schlesien, aber auch in Kasachstan oder Siebenbürgen, mit ihrem Anspruch auf Menschenrechte, d. h. auch auf Volksgruppen- oder Minderheitenrechte, ein.
Den Deutschen in der DDR werden elementare Rechte durch einen Staat verwehrt, dem die Menschen nie eine freie und demokratische Legitimation erteilen durften und konnten. Menschenrechte, meine Damen und Herren, sind keine Frage staatlicher gönnerhafter Gewährung. Sie sind keine staatlichen Gunsterweise. Menschenrechte kommen jedem Menschen als vorstaatliche Abwehrrechte zu, als Schutzrechte gegen die Vereinnahmung durch den Staat oder eine Partei. Und diese Menschenrechte werden unseren Landsleuten in der DDR weiterhin vorenthalten. Die ideologische Bevormundung durch Partei und Staat, die Verweigerung der Freizügigkeit, die Eingriffe in das kirchliche Leben oder die Einschränkungen freier künstlerischer, etwa literarischer Betätigung sind Belege dafür. Auch in der DDR müßte es doch eigentlich möglich sein, von der Staatspartei abweichende Auffassungen öffentlich zu vertreten, ohne daß gleich Sicherheitsorgane in Erscheinung treten.
Der Bundeskanzler hat unmißverständlich darauf hingewiesen: Menschenrechte und menschliche Erleichterungen sind nicht dasselbe. Wir setzen uns für die Deutschen in der DDR ein, weil sie unsere Landsleute sind. Dies ist ein Gebot unserer nationalen Solidarität.
Und dies ist auch nicht Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates;
denn zu unseren Mahnungen und Forderungen sind wir durch die KSZE-Schlußakte berechtigt.
Wenn nicht wir Deutsche unsere Stimme erheben, wie können wir es dann von anderen erwarten?
Meine Damen und Herren, das Wiener KSZE-Folgetreffen ist in seine letzte Phase getreten. Die Bundesregierung war stets bestrebt, den KSZE-Prozeß für Fortschritte in allen drei Körben zu nutzen. Aber das Schwergewicht lag und liegt auf der menschlichen Dimension. Das Ziel eines substanzreichen und ausgewogenen Wiener Schlußdokumentes ist jetzt in greifbare Nähe gerückt. Es soll die menschenrechtliche Lage insgesamt verbessern und nicht zuletzt für die Deutschen mehr und verbesserte Möglichkeiten für Kontakte und Begegnungen über die innerdeutsche Grenze hinweg schaffen, d. h. die Grenze durchlässig machen.
Für den Reise- und Besucherverkehr im geteilten Deutschland z. B. wie aber auch für den Zeitungs- und Zeitschriftenaustausch erwarten wir von dem Wiener Dokument weitere wesentliche Verbesserungen. Auch die auseinandergerissenen Familien, die politischen Gefangenen in der DDR schauen hoffnungsvoll nach Wien. Die Führung der DDR wird nach Abschluß des Wiener KSZE-Folgetreffens auf all diesen Feldern handeln müssen.
Meine Damen und Herren, vor diesem aktuellen Hintergrund der Lage in der DDR muß ich nun fragen,
ob die SPD mit der SED über die richtigen Themen spricht. Am 22. November wurde eine gemeinsame Erklärung der Arbeitsgruppe der SPD-Bundestagsfraktion und des ZK der SED veröffentlicht. Den Begriff „Menschenrechte" suche ich in dieser Erklärung vergeblich.
Statt dessen sprechen die Vertreter der SPD mit der SED über Probleme der Abrüstung so, als ob die zwischen den Bündnissen bestehenden Sicherheitsprobleme auf einer deutschen Sonderschiene gelöst werden sollten.
Diesem Ansinnen möchte und muß ich entgegenhalten: Meine Damen und Herren, Sicherheit findet der freie Teil Deutschlands nur im Bündnis mit den freien Staaten des Westens. Das Bündnis ist der Ort, an dem wir die notwendigen konkreten Schritte zur Abrüstung tun müssen. Die von der SED und SPD immer wieder vorgetragenen Zonenkonzepte sind nicht geeignet, unsere sicherheitspolitische Lage zu verbessern. Im Gegenteil, sie schaffen eher Zonen verminderter Sicherheit und können zu Instabilitäten in Europa führen, woran uns am allerwenigsten gelegen sein kann.
Unser Ziel muß ein stabiles Gleichgewicht der Kräfte auf niedrigem Niveau sein. Das geht aber nur, wenn das bestehende Ungleichgewicht im besonderen auf dem Gebiet der konventionellen Bewaffnung abgebaut
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Bundesminister Frau Dr. Wilms
und der Weg für Verhandlungen über die Herstellung konventioneller Stabilität in ganz Europa freigemacht wird. Auch deshalb sind wir an einer baldigen Beendigung des Wiener KSZE-Folgetreffens mit einem ausgewogenen substantiellen Abschlußdokument und einem Mandat für KRK-Verhandlungen interessiert.
Ich denke, die Opposition könnte in Gesprächen mit der SED sehr viel für die Entspannung zwischen den Blöcken tun, wenn sie in diesen Gesprächen darauf drängen würde, daß die DDR ihren Bürgern Freiheit und Menschenwürde garantiert, damit die DDR auf diese Weise ihren Beitrag zum Frieden leistet.
Denn trotz aller Friedens- und Abrüstungsrhetorik aus der DDR müssen wir beispielsweise feststellen, daß sich in den Schulbüchern der DDR nach wie vor die alten Feindbilder gegen den Westen finden, die, so denke ich, im Widerspruch zu gutnachbarlichen Beziehungen stehen. Offensichtlich besteht zwischen dem Bild, das die DDR von sich als einem weltoffenen und aufgeschlossenen Partner im internationalen Dialog zeichnet, und ihrer Innenpolitik ein Widerspruch. Öffnung nach außen, Anspruch auf internationale Reputation auf der einen Seite und andererseits Schüsse an der Grenze, Zeitungs- und Filmverbote, Behinderung von Journalisten, Einreiseverweigerungen aus politischen Gründen: Das paßt nicht zusammen.
All das können und wollen wir nicht verschweigen, gerade weil wir weiter auf eine nüchterne Politik des Dialogs und der Zusammenarbeit setzen. Dialog und Zusammenarbeit bedeuten ja eben nicht, die eigene Überzeugung zu verleugnen, sondern im Gegenteil, Positionen zu beziehen und zu vertreten.
Unser Ziel ist es, in unserer Politik gegenüber der DDR im Interesse der Menschen im geteilten Deutschland voranzukommen. Wir können feststellen, daß auf vielen Gebieten der innerdeutschen Beziehungen weitere Fortschritte gemacht worden sind, und dies wird auch in Zukunft so sein. Der Herr Bundeskanzler hat soeben im einzelnen darauf hingewiesen.
Aber ich wiederhole, was ich schon in der Aktuellen Stunde im Okober 1988 gesagt habe: Die Qualität der innerdeutschen Beziehungen und die jeweilige Situation in der DDR hängen miteinander zusammen. Die Mißachtung von Menschenrechten in der DDR muß auf Dauer belastend auf die Gesamtbeziehungen der beiden Staaten in Deutschland wirken. Wir wünschen das nicht; denn die Kontinuität und Stabilität der Entwicklung der Beziehungen sind ohne Zweifel auch ein Element der Vertrauensbildung zwischen Ost und West.
Uns bestimmt dabei nicht der Gedanke einer Sicherheitspartnerschaft der beiden Staaten in Deutschland,
die es zwischen Staaten entgegengesetzter Gesellschaftsordnung nicht geben kann. Wir wollen als Deutsche vielmehr unseren Beitrag zur Stabilität und zum Frieden an der Nahtstelle zwischen Ost und West leisten. Unser Verhältnis zur DDR ist von der Absicht
bestimmt, den Zusammenhalt der Nation zu sichern und die Folgen der Teilung für die Menschen zu mildern und dadurch auch ein Stück Befriedung in Europa herbeizuführen.
Beide Staaten kommen deshalb um eine pragmatische Zusammenarbeit nicht herum, weil sie ihrer Verantwortung gerecht werden müssen. Aber ich sage noch einmal: Nur die Verwirklichung der Menschenrechte trägt auf Dauer zum Frieden in Europa bei.
In der deutschlandpolitischen Diskussion der jüngsten Zeit ist mir gelegentlich zuviel von Neutralismusvorstellungen die Rede,
von Äquidistanz und Abgrenzung zu den Vereinigten Staaten von Amerika.
Ich warne nachdrücklich davor, Irritationen und Mißverständnisse bei jenen hervorzurufen, mit denen uns die gleichen Ideale und Werte verbinden und ohne die wir unsere Freiheit nicht bewahren können.
Wir werden unsere nationale Frage auch nicht lösen können, wenn wir überholten Vorstellungen der Vergangenheit nachhängen und darüber die Zukunft vergessen. Diese Zukunft — davon bin ich fest überzeugt — wird auch eine Lösung der deutschen Frage bringen
auf der Basis von Freiheit, Menschenrechten und nationaler Selbstbestimmung für die Deutschen und für die Europäer in einer europäischen Friedensordnung. Diesen Weg weist uns schon die Präambel des Grundgesetzes. Unser Ziel der deutschen Einheit in Freiheit, zu dem sich die Bundesregierung im Sinne der Präambel ohne Wenn und Aber bekennt — was auch in vielen Regierungserklärungen dezidiert dargelegt wurde — , werden wir auf diese Weise mit dem Verständnis und der Unterstützung unserer Nachbarn erreichen können. Ich denke, dafür muß es einen Konsens unter allen demokratischen Patrioten geben können.