Rede von
Ottmar
Schreiner
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eines der bedrückendsten und beschämendsten Ereignisse meiner bisherigen politischen Arbeit erfuhr ich vor einiger Zeit anläßlich eines Besuches in einer Nervenklinik: Junge Menschen, um die 16 Jahre alt, lagen angekettet in ihren Betten. Einzig zur Nahrungsaufnahme wurden die Ketten gelöst. Auf mein Befragen hin erklärte mir die Krankenhausleitung, daß eine humane Behandlung möglich wäre. Die Ketten wären durchaus durch persönliche Betreuung der Kranken zu ersetzen, doch leider seien die finanziellen Mittel nicht vorhanden.
Neben den unmittelbar betroffenen Jugendlichen litten die Ärzte und das Pflegepersonal selbst wohl am meisten an dieser unwürdigen Situation.
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Dezember 1985 14113
Schreiner
— Das war vor drei Jahren in der Landesnervenklinik im Saarland.
— Ich habe gesagt: „vor einiger Zeit". Also, das war vor drei Jahren, und ich denke, daß Sie diese Erfahrungen ebenfalls machen würden, wenn Sie sich der Mühe unterziehen würden, entsprechende Einrichtungen zu besuchen.
In Art. 1 Abs. 1 unseres Grundgesetzes heißt es:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Von Mangoldt-Klein-Starck schreiben dazu in ihrem Kommentar zum Grundgesetz — ich zitiere
— es wäre der Problemlage wirklich angemessener, wenn Sie endlich ein kleines bißchen ruhiger wären, meine Kollegen —:
Die Grundlage für die besondere Würde jedes Menschen ist nach dem Alten und Neuen Testament der Umstand, daß der Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen ist. Daraus erwächst ihm auf Erden ein unverfügbarer Eigenwert, weshalb der Mensch nie zum bloßen Objekt oder Instrument gemacht werden darf.
Regina Oehler beschreibt in einem Bericht mit der Überschrift „Irre menschlich" in der Wochenzeitung „Die Zeit" vom 1. November dieses Jahres die bundesdeutsche Wirklichkeit angesichts der Anforderungen unseres Grundgesetzes:
In der Bundesrepublik freilich werden — trotz mancher Verbesserungen — psychisch kranke Menschen immer noch zum großen Teil in abseits gelegenen psychiatrischen Fachkrankenhäusern aus dem vorigen Jahrhundert behandelt. Noch heute gibt es dort Abteilungen, in denen Langzeitpatienten unter menschenunwürdigen Bedingungen ihr Leben verdämmern.
Nachdenkenswert ist sicherlich auch, daß die dumpfe Langzeitkasernierung vieler psychisch Kranker hierzulande nicht einmal in Frage gestellt wurde, während sich schon in den 50er und 60er Jahren in vielen anderen Ländern, in den Vereinigten Staaten, in Frankreich, in Italien, in Großbritannien, um nur einige zu nennen, eine gemeindenahe psychiatrische Versorgung herauszubilden begann. Tragender Gedanke war dabei die Erkenntnis, daß das Entstehen und die Entwicklung psychischer Schädigungen ganz erheblich von psychosozialen Faktoren bestimmt werden. Mit anderen Worten: Je besser die Lebensumwelt des Kranken, um so größer ist die Aussicht auf einen erfolgreichen Behandlungsverlauf.
Dieses Wissen führte in diesen Ländern zu einer grundlegenden Neugestaltung der Behandlung: Nachsorgeeinrichtungen, Ambulanzen und Tageskliniken kümmerten sich möglichst noch am Wohn- und Arbeitsort um die entlassenen Patienten. Arbeit, Freizeit und Wohnen wurden so organisiert, daß der Lebenskreis des Patienten eine wirkliche Hilfe zu selbständigem Leben darstellte.
In der Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung am 7. November dieses Jahres äußerte denn auch der nordrhein-westfälische Psychiatrieprofessor Dr. Dr. Dörner folgerichtig, es komme darauf an, jedem einzelnen Kranken „eine eigene kleine Lebenswelt" zu geben. Die körperliche Pflege sei zu ergänzen durch die Pflege der Kontakte, „das Herstellen von Beziehungen, die ein Mensch braucht, um im Umgang mit anderen Menschen zurechtzukommen".
Diesem obersten Ziel diente denn auch das „Modellprogramm Psychiatrie" der Bundesregierung aus dem Jahr 1980, das im Anschluß an den Bericht einer vom Bundestag eingesetzten Psychiatrie-Enquete-Kommission entwickelt wurde. Die Sachverständigen der damaligen Enquete-Kommission waren in ihrem Schlußbericht zu einem geradezu vernichtenden Urteil gekommen: „Die Versorgung psychisch Kranker und Behinderter in der Bundesrepublik ist dringend verbesserungsbedürftig."
Kernelemente einer neuen Konzeption der Versorgung sollten sein: Die diskriminierende Ungleichbehandlung von körperlich und psychisch Kranken soll beendet werden; psychisch Kranke sollen gemeindenah versorgt werden; für alle psychisch Kranken ist eine umfassende, auf die Bedürfnisse abgestimmte Versorgung zu entwickeln; die Versorgungsdienste einer Region sollen koordiniert werden.
Das „Modellprogramm Psychiatrie" der damaligen Bundesregierung verarbeitete die grundlegende Kritik der Enquete-Kommission und formulierte, Aufgabe des Programmes sei es, herauszuarbeiten,
wie durch die nahtlos ineinandergreifende Versorgung psychisch Kranker und Behinderter durch ambulante Behandlung, Tageskliniken, sozialpsychiatrische Dienste, Übergangswohnheime, beschützende Wohngruppen, Patientenklubs und Werkstätten etc. der Aufenthalt in psychiatrischen Fachkrankenhäusern vermieden oder zeitlich begrenzt werden kann.
Das Modellprogramm hat sich nach Auffassung aller Experten uneingeschränkt bewährt. Die Bundesfinanzierung endet mit dem Ablauf dieses Jahres.
Wir Sozialdemokraten haben, um nicht alles zu gefährden, was in mühseliger Kleinarbeit entwikkelt wurde, einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dessen Hilfe die Leidensgeschichte vieler psychisch Kranker zwar nicht ganz beendet werden, aber doch erheblich gemildert werden kann. Psychisch Kranke werden mit körperlich Kranken gleichgestellt. Eindeutige sozialversicherungsrechtliche Grundlagen schaffen die notwendige materielle Absicherung. Vorhandenes und Bewährtes sollen damit auf Dauer Bestand haben.
14114 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Dezember 1985
Schreiner
Die Gesetzesinitiative der SPD-Bundestagsfraktion sowie die gleichlautende Initiative des Landes Nordrhein-Westfalen im Bundesrat haben immerhin bewirkt, daß sich angesichts der überzeugenden Argumente, die ja auch in der Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung von den Experten bestätigt wurden, die Koalitionsfraktionen ihrerseits genötigt sahen, nunmehr selbst gewissermaßen in allerletzter Minute einen eigenen Gesetzentwurf vorzulegen. Der Gesetzentwurf von CDU/ CSU und FDP wird allerdings den wirklichen Bedürfnissen der Betroffenen nur in wenigen Ansätzen gerecht. Er verbessert die Leistungsfähigkeit der Institutsambulanzen und erweitert die Versorgungsmöglichkeiten in Tageskliniken. Die „Süddeutsche Zeitung" beschreibt in einem kritischen Artikel vom 11. Dezember dieses Jahres den Koalitionsentwurf als „Schmalspurgesetz": Die psychisch Kranken blieben weiter im Abseits.
Der SPD-Gesetzentwurf geht erheblich weiter und nimmt all jene Erfahrungen aus dem „Modellprogramm Psychiatrie" in eine einheitliche gesetzliche Regelung auf, die sich nach Auffassung der Psychiatrieexperten jetzt schon bewährt haben: erstens die Erweiterung des Leistungskatalogs, in dem Behandlungen mit Unterkunft und Verpflegung in Übergangseinrichtungen für psychisch Kranke als Regelleistung festgelegt sind; zweitens die Zurechnung von vom herkömmlichen Bild somatisch orientierter Krankenpflege abweichenden Leistungen sozialpsychiatrischer Krankenpflege zu der häuslichen Krankenpflege; drittens das Erbringen von Leistungen der häuslichen Krankenpflege für die Gruppe der psychisch Kranken auch dann schon, wenn sie zur Sicherung der ärztlichen Behandlung erforderlich ist; viertens die Gewährung von Haushaltshilfe neben der häuslichen sozialpsychiatrischen Krankenpflege.
Sollte unser SPD-Gesetzentwurf hier ohne Mehrheit bleiben, was leider zu befürchten ist, so werden wir Ihrem Vorschlag, wenn auch schweren Herzens, zustimmen.
Ihr Entwurf ist ein Minimaleinstieg für eine dauerhafte Reform. Wir geben die Hoffnung nicht auf, daß im Lauf des nächsten Jahres, wenn die förmlichen Einzelauswertungen des Modellprogramms vorliegen, eine umfassende Reform gelingt. Unser Leitgedanke als Sozialdemokraten ist und bleibt: Die Humanität einer Gesellschaft mißt sich daran, wie sie ihre schwächsten Glieder behandelt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, laßt uns einmal überlegen, wie der Diskussionsstand im Deutschen Bundestag wäre, wenn im engsten Familienkreis jedes Bundestagsabgeordneten ein psychisch Kranker wäre! Laßt uns darüber nachdenken, ob dies die Intensität unserer Beschäftigung mit diesem überaus schwierigen Problem verstärken würde.
Und lassen Sie mich den Kollegen Becker, da er an die Bevölkerung herzliche Weihnachtsgrüße gerichtet hat, vielleicht in einem Punkt, den ich besonders betone, ergänzen: Ich möchte als der Redner der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion zu diesem Thema kurz vor dem Weihnachtsfest allen psychisch Kranken in unserem Land ein gesegnetes Weihnachtsfest und ein vielleicht in mancherlei Hinsicht erträglicheres neues Jahr wünschen.
Herzlichen Dank.