Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir hier heute ein Gesetz zur Verbesserung der Versorgung psychisch Kranker beraten, so will ich zunächst einen besonderen Dank an jene Kolleginnen und Kollegen — insbesondere an unseren Kollegen Picard — aussprechen, die in der 7. Legislaturperiode konsequent darauf drängten, daß sich der Deutsche Bundestag stärker mit der Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik befaßte.
Der Deutsche Bundestag beschloß danach eine Enquete über die Lage der Psychiatrie. Das Ergebnis wurde 1975 dem Hohen Hause zugeleitet. Dieser Sachverständigenbericht stellte damals fest, daß die Versorgung psychisch Kranker in der Bundesrepublik dringend verbesserungsbedürftig war. Vier Prinzipien wurden damals herausgestellt: die gemeindenahe Versorgung, die Gleichstellung von psychisch und somatisch Kranken, die bedarfsgerechte und umfassende Versorgung, die Koordination aller Versorgungsdienste.
Nach eingehender Erörterung und Abstimmung mit den Ländern und den Fachverbänden hat die Bundesregierung 1979 eine Stellungnahme zu diesem Sachverständigenbericht abgegeben.
Seit der Vorlage der Psychiatrie-Enquete ist ein Jahrzehnt vergangen. Vieles hat sich wohl in der Versorgung der psychisch Kranken auch verbessert, wenn auch noch viel zu tun bleibt. So hat sich die Zahl der niedergelassenen Nervenärzte und Psychiater seitdem fast verdoppelt. In der kassenärztlichen ambulanten Versorgung sind inzwischen 2 300 Nervenärzte und 1 400 nichtärztliche Therapeuten und Diplompsychologen an einer tiefenpsychologisch fundierten und auch analytischen Behandlung beteiligt. Seit 1980 ist bei den verschiedenen Kassenarten auch die sogenannte Verhaltenstherapie in die Kassenleistungen mit einbezogen. Die Menschen und Institutionen in unserem Lande wurden aufgeschlossener für die Sorgen und Nöte der psychisch Kranken und ihrer Familien. Viele Personen arbeiten heute von Berufs wegen, aber auch aus Berufung mit, um diesen Kranken und ihren Familien zu helfen, daß sie mit ihrem Schicksal besser fertig werden. Auch dafür wollen wir all diesen Ärzten, Psychologen, Psychotherapeuten, Sozialpädagogen, Sozialarbeitern, Helferinnen und Helfern danken.
Die Bundesregierung hat zwar keine Zuständigkeit, durch ein besonderes Gesetz die psychiatrische Versorgung der Bevölkerung bundeseinheitlich umfassend zu regeln. Dies sollten sich die GRÜNEN merken — die nicht mehr im Saale sind —, da sie in ihrem Entschließungsantrag ein umfassendes Gesetz verlangen. Die Bundesregierung hat sich aber damals bereit erklärt, im Rahmen ihrer Zuständigkeit zusätzliche Finanzmittel für neue Modelle in der Psychiatrie bereitzustellen. Seinerzeit wurde bei dem Bundesminister für Familie, Jugend und Gesundheit ein Modellverbund „Ambulante psychiatrische und psychotherapeutisch-psychosomatische Versorgung" eingerichtet, der jetzt in die zweite Phase läuft.
Neben diesem Projekt des Modellverbundes Psychiatrie hat die Bundesregierung 1980 ein großes Programm zur Reform der Versorgung psychisch Kranker mit einem Finanzvolumen von ca. 250 Millionen DM über sechs Jahre hinweg begonnen. Dieses Programm folgte den Vorstellungen der Sachverständigenkommission. Damit sollten, netz-
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Dr. Becker
artig miteinander verflochten, stationäre, teilstationäre, ambulante und komplementäre Einrichtungen und Dienste in Einzelregionen sowie ergänzende Maßnahmen im Krankenhausbereich und im Bereich der beruflichen Rehabilitation gefördert werden. Das Ziel war, wissenschaftlich abgesicherte Praxiserfahrungen für gesetzgeberische Maßnahmen des Bundes zu gewinnen.
Schon bei der Einrichtung dieses Modellprogramms waren die einzelnen Länder darauf hingewiesen worden, daß sie gegebenenfalls für die Anschlußfinanzierung Sorge tragen müßten. Dieses Modellprogramm wird Ende 1985 auslaufen. Der wissenschaftliche Auswertungsbericht ist für Oktober 1986 vorgesehen. Auf seiner Basis sollen dann gemeinsam mit der Beraterkommission Empfehlungen erarbeitet werden, aus denen dann Konsequenzen für die weitere Anwendung und Entwicklung, für die Finanzierung, für die Kostenträgerschaft und eventuell auch für Gesetze zu ziehen sind. Diese Empfehlungen sind nach dem bisherigen Zeitplan für Mitte 1987 vorgesehen.
Jedoch war schon während der Modellaufzeit eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe 1984 in einer Zwischenbilanz zu der Feststellung gekommen, daß sich eine ganze Reihe von Einrichtungen im ambulant-komplementären Bereich bewährt haben. Dies gilt insbesondere für die Tageskliniken und die Institutsambulanzen, aber auch für Rehabilitationseinrichtungen für psychich Kranke, für sogenannte Übergangseinrichtungen und für Werkstätten für Behinderte.
Für die beiden letztgenannten Einrichtungen dürfen wir davon ausgehen, daß in Bälde Lösungen bereitstehen, die Schritte des Gesetzgebers zur Zeit nicht notwendig machen. So hat auf Initiative der Bundesregierung der Kosten- und Finanzierungsausschuß des Modellprogramms Psychiatrie ein Konzept für die Rehabilitation psychisch Kranker und Behinderter erarbeitet, die einer stationären Behandlung nicht mehr bedürfen, aber noch nicht in der Lage sind, mit ambulanter Hilfe allein auszukommen. Der Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft Rehabilitation begrüßte dieses Konzept und beauftragte eine Arbeitsgruppe, die noch offenen Fragen zügig zu regeln. Für die Übergangseinrichtungen für psychisch Kranke und Behinderte wurde dann ein fachliches Anforderungsprofil entwickelt. Damit sind jetzt die Voraussetzungen geschaffen, daß die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation eine Empfehlungsvereinbarung verabschieden und damit die Finanzierung der Leistungen dieser Einrichtungen sicherstellen kann. Hiermit ist im Frühjahr 1986 zu rechnen.
Auch für die Werkstätten für psychisch Behinderte will die Bundesanstalt für Arbeit auf der Grundlage des geltenden Rechts und der Werkstättenverordnung sicherstellen, daß durch ein flexibleres Anerkennungsverfahren und eine Anpassung des Mindestplatzangebots auch den Belangen der psychisch Behinderten bei der beruflichen Eingliederung besser als bisher Rechnung getragen werden kann.
Am 7. November 1985 fand im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung eine Sachverständigenanhörung zu dem Gesetzentwurf der Fraktion der SPD für ein Gesetz zur Verbesserung der Versorgung psychisch Kranker statt. Auf Grund der Ergebnisse dieser Anhörung ist die CDU/CSU-Bundestagsfraktion der Ansicht, daß, bevor die abschließenden bewertenden Ergebnisse des Modellprogramms vorliegen, jetzt nur die Tageskliniken und die Institutsambulanzen gesetzlich abgesichert werden sollten. Für diese muß eine dauerhafte finanzielle Grundlage geschaffen werden.
Bezüglich der anderen ambulanten Einrichtungen, der komplementären Versorgungseinrichtungen — wie therapeutische Wohngemeinschaften oder sozialpsychiatrische ambulante Dienste —, sind wir der Ansicht, daß zunächst die endgültigen Bewertungen abgewartet werden sollten. Denn wir müssen sicher sein, daß knappes Geld in eine Richtung gelenkt wird, die die Wirkung hat, die wir alle beabsichtigen. Wir müssen auch sicher sein, daß die Kostenbelastungen systemgerecht verteilt werden, da hier neben die pflegerische Versorgung — dafür wäre die Krankenversicherung zuständig — auch die fürsorgerische Betreuung tritt; dafür wären aber die Gemeinden und die Länder zuständig.
Zur Verbesserung der teilstationären Krankenhauspflege hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion jetzt vorgeschlagen, die 1981 auf Vorschlag des Vermittlungsausschusses in die Reichsversicherungsordnung aufgenommene Einschränkung zu beseitigen. Diese hatte die teilstationäre Krankenhauspflege im psychiatrischen Bereich nur zugelassen, wenn ihr eine vollstationäre Behandlung vorausgegangen war.
Inzwischen hat sich herausgestellt, daß durch die teilstationäre Krankenhauspflege die Verweildauer in vollstationären Behandlungen erheblich abgekürzt werden konnte. Weiterhin zeigte sich, daß durch eine teilstationäre Krankenhausbehandlung eine vollstationäre Behandlung oft vermieden werden konnte. Beides hat dazu geführt, daß in solchen psychiatrischen Krankenhausabteilungen zahlreiche Betten abgebaut werden konnten.
Bei einzelnen Verbänden gab es Unklarheit darüber, ob hier eine neue Dimension in der Krankenhausbehandlung zu Lasten der ambulanten Versorgung begonnen würde. Dazu ist festzustellen, daß bereits im Krankenhausgesetz von 1972 bezüglich der Krankenhauspflege die vollstationäre und die damals halbstationär genannte Behandlung festgeschrieben wurden. Wir sehen in diesem Instrument eine besonders wirkungsvolle Maßnahme, die vor allem den Kranken zugute kommt, sie vor unnötigen Krankenhausaufenthalten bewahrt und die bessere Integration in den häuslichen und familiären Lebensraum fördert und darüber hinaus auch noch Kosten im Gesundheitswesen einsparen hilft. Wir gehen davon aus, daß es mit Hilfe der teilstationären Behandlung gelingt, weitere unnötige Krankenhausbetten abzubauen.
Die psychiatrischen Institutsambulanzen haben eine besondere Versorgungsfunktion. Sie stellen keine Konkurrenz zu den ambulanten niedergelas-
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senen Nervenärzten dar, denn hier werden solche Patienten versorgt, die wegen der Schwere und der Dauer ihrer Erkrankungen für die Behandlung durch die niedergelassenen Nervenärzte nicht in Betracht kommen oder im Einzelfall wegen zu großer Entfernung zu dem nächsten niedergelassenen Arzt auf die Behandlung in den Institutsambulanzen angewiesen sind. Hier erhalten sie neben der ärztlichen Behandlung auch Therapieleistungen von nichtärztlichen Berufsgruppen, wie DiplomPsychologen, Sozialarbeitern und pflegerischen Fachkräften.
In dem Modellprogramm haben sich die Einrichtungen sehr gut bewährt. Auch hier konnten sehr oft eine vorzeitige Entlassung aus vollstationärer Behandlung erreicht und eine Einweisung in die stationäre Behandlung vermieden werden. In dem Modellprogramm waren die Therapieleistungen dieser Einrichtungen mit einem Finanzvolumen von zirka 250 000 DM bis 300 000 DM im Jahr knapp ausreichend ausgestattet. Zur Zeit gibt es etwa 60 solcher Institutsambulanzen. Es werden wohl einige dazukommen, so daß der angesprochene Kostenrahmen von 30 Millionen DM gerechtfertigt erscheint. Dabei sind die möglichen Kosteneinsparungen durch Verhinderung stationärer Behandlung noch nicht einmal gegengerechnet.
Wenn z. B. nur 1 % an Krankenhausaufnahmen durch diese Institutsambulanzen vermieden wird oder bei zusätzlichen 2 % die stationäre Behandlung durch die Nachsorge verkürzt werden kann, dann sind die erwarteten Kosten bereits ausgeglichen. Die Zahlen zeigen, daß die in einzelnen Standespresseorganen — auch von der Krankenkassenseite — kolportierten Kosten wohl massiv überhöht sind.
Da jetzt eine gesetzliche Verpflichtung für solche Verträge geschaffen wird, gehen wir davon aus, daß diese Verträge bei gutem Willen aller Seiten auch zügig vorankommen — zum Wohle der betroffenen Patienten. Sollten aber Schwierigkeiten entstehen, werden wir die Frage der Einrichtung von Schiedsstellen zu prüfen haben.
Die Anhörung der Sachverständigen hat gezeigt, daß eine Einbeziehung von Sozialarbeitern in die ambulante psychiatrische Versorgung schon heute möglich ist. Hierbei kann z. B. ein Modell der Koordinierung zwischen der Tätigkeit der niedergelassenen Nervenärzte einerseits und der Tätigkeit von Sozialarbeitern in der häuslichen Krankenpflege andererseits besser genutzt werden. Das geltende Recht, der § 185 der RVO, läßt dies schon jetzt durchaus zu.
Seit einem Jahr laufen zwischen Bund und Ländern Verhandlungen, die sichergestellt haben, daß die Anschlußfinanzierung der jetzt bestehenden weiteren Modelleinrichtungen nach Ablauf des Programms erfolgen kann. Anderslautende Presseberichte entsprechen nicht den Tatsachen.
Meine Damen und Herren, nach Vorlage der Modellprogrammergebnisse im kommenden Jahr und nach Bewertung durch die Sachverständigenkommission werden wir sehen, ob, wo und wie weitere gesetzliche Maßnahmen notwendig werden. Daher lehnen wir den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD als verfrüht, da noch nicht fundiert, ab und stellen unseren Entwurf zur Abstimmung.
Es ist unser erklärtes Ziel, auch in Zukunft die Lage der psychisch Kranken durch die richtigen und wirksamen Maßnahmen zu verbessern; keineswegs aber mit Vorschlägen, wie sie in dem Entschließungsantrag der GRÜNEN enthalten sind, die ihn anscheinend gar nicht vertreten wollen, da sie nicht im Saale sind.
— Dies sollte vorkommen. — Es ist so, daß dort die Abschaffung der psychiatrischen Krankenhäuser verlangt wird. Man scheint das italienische Desaster noch nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Weiter werden die weitgehende Abschaffung von medikamentöser Behandlung sowie die Neuneinrichtung — wie könnte es anders sein — einer neuen oberaufsichtlichen Körperschaft, eines sogenannten regionalen Instituts für seelische Gesundheit, gefordert. Meine Damen und Herren, dies sind sicher keine Maßnahmen, mit denen man die Lage psychisch Kranker eingehend verbessern kann. Demgegenüber begrüßen wir aber die Haltung unserer Kolleginnen und Kollegen der SPD, die unserem Antrag zustimmen wollen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, da ich wohl der letzte Redner unserer Fraktion in diesem Jahr hier im Hohen Hause bin, gestatten Sie mir, Herr Präsident, der Bundesregierung und allen Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause, aber auch den Menschen in unserem Lande ein gesegnetes Weihnachtsfest, alles Gute und ein erfolgreiches, gesundes und gutes neues Jahr zu wünschen.
Schönen Dank.