Rede von
Dr.
Alfred
Dregger
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Nein, ich möchte aus zwei Gründen keine Zwischenfrage zulassen: Erstens ist die Zeit knapp, und zweitens bin ich auch nicht ganz sicher, ob Zwischenfragen unsere Debatte bereichern könnten. Ich möchte im Zusammenhang vortragen und lasse daher keine Zwischenfragen zu.
Es gibt also diese europaspezifische Bedrohung, die durch weltraumgestützte Abwehrsysteme wahrscheinlich nicht abgewehrt werden kann, und sie gewinnt an Bedeutung, je mehr es den Weltmächten gelingt, ihre Territorien zu schützen. Ich habe darauf bei meinem Besuch in Washington, im Pentagon im Juni mit allem Nachdruck hingewiesen. Ich meine, wir sollten die Abwehr dieser europaspezifischen Bedrohung als eine Aufgabe der europäischen Verteidigung begreifen, die im Rahmen der NATO zu erfüllen ist. Da es sich voraussichtlich um land- und luftgestützte Abwehrsysteme handelt, ist das eine Aufgabe der Luftverteidigung, an der sich die Amerikaner finanziell, technisch und wissenschaftlich beteiligen sollten, wie auch an der sonstigen Verteidigung in Europa. Im Pentagon ist Bereitschaft ausdrücklich signalisiert, aber hinzugefügt worden, die Initiative müsse von Europa ausgehen, weil es in erster Linie um Europa gehe. Auf diese Weise könnten wir Forschungsergebnisse bei SDI für die europäische Verteidigung nutzbar machen, ohne sie noch einmal bezahlen zu müssen.
Neuntens. Inzwischen haben die Briten einen Vertrag mit den USA abgeschlossen. Singularisierungsängste, die ich nie geteilt habe, sind damit gegenstandslos. Unsere Beteiligung an der SDI-Forschung — um nichts anderes und um nichts mehr geht es heute — wird — davon bin ich überzeugt — die wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit mit der Sowjetunion ebensowenig beenden, wie die Nachrüstung diese Zusammenarbeit mit der Sowjetunion beendet hat. Die Sowjetunion ist weder gewillt noch in der Lage, ihre wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Westen zu beenden, wenn in der SDI-Frage nicht genau das geschieht, was sie will.
Die Sowjetunion steht heute vor drei großen Herausforderungen: Sie muß erstens die Produktivität ihrer Wirtschaft, die außerordentlich gering ist, eklatant steigern. Davon war bei unserem Besuch in der Hauptsache die Rede. Das kann sie nicht ohne westliche und vor allem auch deutsche Mitwirkung. Die Sowjetunion will — das ist die zweite Herausforderung — ihren Führungsanspruch im kommunistischen Lager gegen China behaupten, was um so schwieriger ist, je mehr Erfolge die chinesischen Reformen zeigen.
Die Sowjetunion will, drittens, auf militärischem Sektor ihre Weltmachtstellung gegenüber den USA behaupten, was ihre Wirtschaftskraft erheblich in Anspruch nimmt.
Wenn die Sowjetunion diese drei Herausforderungen gleichzeitig meistern will, braucht sie die Zusammenarbeit mit Europa, wie auch wir die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion wollen.
Aus dieser Analyse schließe ich, daß wir unsere spezifisch deutschen und europäischen Interessen wahrnehmen können, wenn wir es maßvoll und konstruktiv mit der Suche nach gemeinsamen Interessen tun und gleichzeitig unsere Beziehungen zur Sowjetunion weiterentwickeln und intensivieren können.
Zehntens. Zum Schluß möchte ich noch einige Fragen an die SPD und die GRÜNEN richten. Es
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Dezember 1985 14095
Dr. Dregger
sind dieselben Fragen, die ich in Moskau gestellt habe.
Erste Frage: Die jetzige Strategie beruht auf der Vergeltungsdoktrin durch Angriffsraketen, nach der Maxime: Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter.
Ich frage die Opposition: Halten Sie Angriffsraketen für moralischer als Abwehrsysteme nach Art von SDI? Wir halten das nicht für moralischer.
Zweite Frage: Halten Sie die jetzige Lage, in der jeder den anderen durch Knopfdruck auslöschen kann, für beglückend? Wir Deutschen können niemanden auslöschen, aber wir können jederzeit ausgelöscht werden,
durch einen einzigen Knopfdruck, der in Moskau ausgelöst wird. Wir halten das nicht für beglükkend.
Die dritte Frage: Die jetzt geltende Strategie verzichtet auf jede Abwehr anfliegender Angriffsraketen. Ihr liegt diese Vergeltungsdoktrin zugrunde, von der die Rede war. Die Opposition hat diese Abschreckungsdoktrin bisher, auch aus moralischen Gründen, bekämpft.
Jetzt bekämpft sie auch noch die Suche nach Alternativen, die verstärkt Abwehrelemente in die Abschreckung einbeziehen sollen.
Ich frage Sie: Was wollen Sie eigentlich? Wollen Sie beides nicht?
Das heißt: Wollen Sie uns schutzlos und damit wehrlos machen? Meine Damen und Herren, wer beides ablehnt, wählt die Unterwerfung. Das kann doch nicht die Politik der SPD sein.
An die Adresse der Weltmächte will ich sagen: Es gibt zwei Weltmächte. Das ist irreversibel. Keine kann die andere ausschalten, es sei denn um den Preis der Selbstausschaltung, oder totrüsten. Wenn man unsinnige Rüstungsspiralen vermeiden will, muß man sich dem anderen gegenüber öffnen. Deshalb ist es ganz wichtig, daß nicht nur ein Gespräch zwischen Reagan und Gorbatschow stattgefunden hat, sondern daß das Gespräch fortgesetzt wird. Wenn die Begegnung in Genf konstruktiv verlaufen ist und wenn eine Gesprächsserie vereinbart worden ist, dann hat dazu auch die deutsche Bundesregierung, der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister, entscheidend beigetragen.
Wir hoffen auf Vernunft der beiden Weltmächte. .Als Mittelmacht in exponierter Lage sind wir mehr darauf angewiesen als andere. Zur Sicherung des Friedens und zur Zusammenarbeit mit Ost und West und damit auch mit der Sowjetunion werden wir auch in Zukunft unseren Beitrag leisten.