Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sollten uns nicht überschätzen. Ob es zum Aufbau von Raketenabwehrsysternen in Ost und West kommen wird, wird letztlich nicht hier entschieden, sondern in Moskau und in Washington.
Insbesondere Sie, Herr Kollege Ehmke, sollten sich nicht überschätzen. Als deutscher Professor neigen Sie dazu. Die SPD, für die Sie gesprochen haben, ist keine Weltmacht.
Statt zu polemisieren und unehrlich zu moralisieren, sollten wir lieber nüchtern analysieren, die Interessen der beiden Weltmächte vor allem,
und dann nach einem Weg suchen, wie wir unsere Interessen, die deutschen und europäischen Interessen, neuen Entwicklungen gegenüber angemessen zur Geltung bringen können, was gar nicht einfach ist.
Meine Damen und Herren, wie ist die Lage? Die Sowjetunion versucht, wie zuvor bei der Nachrüstung, die Vereinigten Staaten von Amerika von ihren Verbündeten zu trennen. Dabei hat sie Teilerfolge. Wie schon zuvor bei der Nachrüstung, so vertritt die SPD heute auch in der SDI-Frage den sowjetischen Standpunkt.
— Wenn Sie das erregt, wäre das ja erfreulich. Aber es ist doch eine Tatsache.
Sie haben mir dadurch die Sache sehr vereinfacht:
Ich kann heute der SPD gegenüber mit denselben
Argumenten aufwarten, die ich in der vergangenen
Woche in Moskau der Sowjetunion gegenüber gebraucht habe.
— Sie haben es immer mit den Helmen. Aber das nützt nichts; es kommt darauf an, was man darunter hat, meine Damen und Herren.
Meine Damen und Herren, ich möchte meine Analyse in zehn Punkten zusammenfassen.
Erstens. Die Bundesrepublik Deutschland hat auf ABC-Waffen verzichtet. Wir können daher nur Opfer, nicht Täter eines ABC-Krieges sein.
Zweitens. Wir sind nur eine Mittelmacht. Wir leben an der Grenze von Ost und West in Europa, also in exponierter Lage.
Wir sind daher auf den Schutz unseres Hauptverbündeten, der Vereinigten Staaten von Amerika, angewiesen.
— Wenn Sie nachdenken und einen Zusammenhang herstellen würden, dann würden Sie auch zu Erkenntnissen kommen. Aber dazu sind Sie offenbar unfähig. Sie haben nur Schlagworte.
Drittens. Die Vereinigten Staaten von Amerika geben uns diesen Schutz durch die Stationierung ihrer Truppen und nicht zuletzt ihrer Atomwaffen auf deutschem Boden.
Das bedeutet zweierlei: Für die Sowjetunion bedeutet es, daß sie bei einem Angriff auf unser Land nicht nur auf die Mittelmacht Bundesrepublik Deutschland — ohne ABC-Waffen — stoßen würde, sondern auch auf die Weltmacht USA mit allen ihren Ressourcen. Das macht uns unangreifbar, meine Damen und Herren.
Deshalb bin ich sicher, daß der Frieden in Europa erhalten bleibt, es sei denn, wir kämen auf die abenteuerliche Idee, unseren Hauptverbündeten zu veranlassen, dieses Land zu verlassen. Dann wäre die Lage nämlich anders.
Für die USA bedeutet die Stationierung ihrer Soldaten und ihrer Atomwaffen auf deutschem Boden, daß sie mit ihrer nationalen Existenz, mit ihren Städten und ihren Menschen für unsere Sicherheit haften. Meine Damen und Herren, das Risiko, das die USA damit für uns eingehen, ist mindestens so groß — ich behaupte: größer — als das Risiko, das wir eingehen; denn unsere Lage ist ohnehin risiko-
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Dezember 1985 14093
Dr. Dregger
reich wegen der geographischen Nähe hier in der Mitte Europas.
Viertens. Man muß das einmal auf dem Hintergrund der historischen Entwicklung sehen. Bis zur Erfindung der Interkontinentalraketen waren die USA unverwundbar. Sie konnten an zwei Weltkriegen teilnehmen, ohne daß ein Dachziegel heruntergefallen wäre. Abgesehen von ihren Soldaten haben sie diese Kriege nur im Fernsehen erlebt. Das ist jetzt anders. Zum erstenmal in ihrer Geschichte sind die USA selbst tödlich verwundbar, und zwar auch deshalb, weil sie mit ihren Truppen und ihren Atomwaffen auf deutschem Boden für unsere Sicherheit haften. Das sollten wir Deutschen vielleicht auch einmal erwägen.
Kein amerikanischer Präsident wird angesichts dieser Umstände eine Chance, die frühere Unverwundbarkeit seines Landes ganz oder teilweise wiederherzustellen, ungenutzt lassen. Meine Gespräche mit den demokratischen Politikern im Juni in Washington haben ergeben: Auch ein demokratischer Präsident würde aus den dargelegten Gründen auf jeden Fall die Forschungsphase zu Ende führen. Daran können wir nichts ändern, und daran können auch die Sowjets nichts ändern. Das ist ein Tatbestand, von dem wir ausgehen müssen.
Fünftens. Nun befürchten die Sowjets und auch andere, daß während einer etwaigen Aufstellung von Abwehr-Systemen eine Destabilisierung eintreten könnte, eine Gefahr, die sich ergeben könnte, wenn es im Wettlauf der beiden Weltmächte geschieht. Nun hat der amerikanische Präsident die Bereitschaft der USA erklärt, ihre Laboratorien in der Forschungsphase zu öffnen, wenn es auch die Sowjetunion tue;
die Sowjetunion braucht in diesem Fall nicht zu befürchten, von der anderen Seite wissenschaftlich überholt zu werden. — Der amerikanische Präsident ist der oberste Mann der Vereinigten Staaten, nicht der Verteidigungsminister; daran bestehen überhaupt keine Zweifel.
Deswegen müssen Sie sich immer an den Präsidenten halten.
Der amerikanische Präsident hat ferner seine Bereitschaft erklärt, eine etwaige Stationierung von Raketenabwehrsystemen in Absprache mit der Sowjetunion, mit dieser gemeinsam und unter Wahrung des Gleichgewichts vorzunehmen.
Meine Damen und Herren, das ist, wie ich finde, ein bemerkenswertes und großzügiges Angebot des amerikanischen Präsidenten.
Ich habe jetzt Herrn Gromyko in Moskau gefragt, ob es denn nicht klug sei, von sowjetischer Seite die amerikanische Seite auf diese Worte des amerikanischen Präsidenten vertraglich festzunageln. Herr Gromyko hat sich viel Zeit für die Beantwortung meiner Frage genommen, aber die Frage selbst hat er nicht beantwortet; sie ist unbeantwortet geblieben.
Ich frage: Warum? Die SDI-Frage ist in der Sowjetunion seit langem, seitdem sie überhaupt existiert, zum Hauptgegenstand der Kampagne gegen den Westen gemacht worden. Dadurch ist sie dort dogmatisiert worden. Es ist wohl schwierig, davon wieder herunterzukommen.
Meine Damen und Herren, der etwaige Aufbau von Raketenabwehrsystemen in Ost und West, der, wie ich schon sagte, letztlich nicht hier entschieden wird, sondern in Moskau und Washington, würde unsere strategische Lage grundlegend verändern. Das schlimmste wäre, wenn es den Weltmächten gelänge, ihre eigenen Territorien zu schützen, während Europa dazwischen ungeschützt bliebe.
Das zu verhindern liegt im existentiellen Interesse Europas im allgemeinen und Deutschlands — ohne ABC-Waffen — im besonderen.
Meine Damen und Herren, wir können dieses Interesse nicht dadurch wahrnehmen, daß wir uns an die Klagemauer stellen;
wir können es nur dadurch wahrnehmen, daß wir Einfluß nehmen durch Mitwirkung.
Es gilt also: Einflußnahme durch Mitwirkung und nicht durch die Klagemauer. Das Ziel muß es sein zu verhindern, daß Europa zwischen den Weltmächten zu einer Zone minderer Sicherheit wird. Darum geht es.
Das zweite ist: Wir dürfen durch den zu erwartenden technischen Schub — wie groß er auch immer sein mag — nicht unsere Wettbewerbsfähigkeit verlieren.
14094 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Dezember 1985
Dr. Dregger
— Sie sollen nicht glauben, sondern denken. Das ist bei diesem komplizierten Thema dringend erforderlich.
Bezahlt werden amerikanische Aufträge an deutsche Firmen und Forschungsinstitute allein von den USA. Gerade deshalb müssen wir durch ein Abkommen mit den USA sicherstellen, daß die Forschungsergebnisse zur zivilen und zur konventionellen Waffennutzung, die uns zusteht, auch uns und nicht nur der amerikanischen Seite zugute kommen.
Normalerweise gilt ja: Wer zahlt, schafft an, und gerade weil wir nicht zahlen, müssen wir unsere deutschen Interessen durch ein Abkommen wahren.
Aus diesen Gründen — siebtens — tritt meine Fraktion unverändert dafür ein, daß es bei dem bleibt, was der Bundeskanzler am 18. April dieses Jahres im Deutschen Bundestag erklärt hat. Ich zitiere: „Das amerikanische Forschungsprogramm ist ... aus unserer Sicht gerechtfertigt, politisch notwendig und liegt im Sicherheitsinteresse des Westens insgesamt." So das Zitat.
Ich füge hinzu: Es liegt in unserem deutschen Interesse, daß sich deutsche Firmen und Forschungsinstitute an diesen Forschungsarbeiten beteiligen. Über die Form eines Abkommens, das die deutschen Interessen in der Forschungsphase wahren soll, wird die Bundesregierung in der kommenden Woche beschließen.
Achtens. Es gibt eine europaspezifische Bedrohung durch Kurzstreckensysteme, Flugzeuge und Marschflugkörper, die wahrscheinlich durch weltraumgestützte Systeme nicht abgewehrt werden kann. Diese europaspezifische Bedrohung gewinnt an Gewicht, je mehr es den Weltmächten gelingt, ihre eigenen Territorien zu schützen.