Rede von
Helmut
Schmidt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Jahreszeit läßt ja frohe Botschaften erwarten, und eine solche haben wir eben vernommen, nach der Weise: Von drauß' vom Gipfel komm' ich her ..., wo es dann hinterher heißt: „Überall auf den Tannenspitzen sah ich gold'ne Lichtlein blitzen".
Die Erklärung, die wir gehört haben, hat mich an einen großen Sohn meiner Vaterstadt Hamburg er-
innert, nämlich an Johannes Brahms. Als Brahms einmal dem populären Violinkonzert von Max Bruch zugehört hatte, soll er hinterher gesagt haben, die Aufführung sei ihm etwas anstrengend gewesen; denn er habe sich so selten setzen können; schließlich habe er so viele alte Bekannte begrüßen müssen.
Ähnlich ist es mir bei dem Bericht über den Luxemburger Gipfel gegangen: liebliche, teilweise sehr bekannte, auch populäre Melodien, aber natürlich keine große neue Symphonie. Das wurde aber, Herr Bundeskanzler, von Ihnen auch wirklich nicht erwartet.
Ich will auch überhaupt nicht bekritteln, polarisieren oder polemisieren. Wir sind mit vielem von dem, was Sie vorgetragen haben, durchaus einverstanden, zumal manches davon ja die Fortsetzung von Linien bedeutet, die andere zu unserer Zeit schon begonnen hatten.
Ich will vielmehr einige Aspekte zu einer nüchternen Betrachtung der Lage beitragen. Nüchternheit allerdings ist in Sachen Europas fast immer notwendig. — Vor sechs Jahren hat der damalige Oppositionsführer Kohl nach einer anderen Luxemburger Konferenz gesagt, es sei ein jämmerliches Bild gewesen;
vor fünf Jahren: „Es ist für Europa fünf Minuten vor zwölf". Vor vier Jahren hat er den Europäischen Rat ein „Symbol kollektiver Unfähigkeit und Veranwortungslosigkeit" genannt. Nach dem Stuttgarter Treffen des gleichen Rats, dem er nun inzwischen selbst angehörte, hat er hier, inzwischen vorsichtiger geworden, ausgeführt: „Viele Worte können das Handeln nicht ersetzen". Ein Jahr später, nach einem erneuten Gipfel, noch etwas vorsichtiger: Das Brüsseler Treffen sei ohne abschließendes Ergebnis geblieben; er bedauere dies zutiefst.
Wieder ein Vierteljahr später, im Sommer dieses Jahres nach Fontainebleau, sagte dann Herr Stoltenberg, noch nie seit den 60er Jahren habe eine EG-Konferenz so entscheidende Fortschritte gebracht. Herr Stoltenberg, Sie haben damals offenbar die weise Empfehlung von Mark Twain beherzigt, der geschrieben hatte: Wahrheit ist das Kostbarste, was wir besitzen; laßt uns sparsam damit umgehen.
Der Bundeskanzler hat heute jenen Rückfall in europäische Euphorie nicht wiederholt. Im Gegenteil, er hat noch einmal vorsichtiger gesprochen. Er hat richtigerweise die ungelösten, noch vor uns liegenden Probleme auch nicht ganz verschwiegen; er hat sich auch gegen Vorwürfe verteidigt, nicht weit genug gegangen zu sein. Herr Bundeskanzler, Sie haben j a recht: Das ist ein ganz langer Weg. Viele, viele kleine Schritte sind notwendig, und Sie haben einen davon gemeinsam mit Ihren elf Kollegen zustande gebracht. Dagegen ist nichts zu sagen.
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Aber insgesamt haben Sie ein so positives Bild gezeichnet, daß man beinahe George Bernard Shaw paraphrasieren und sagen möchte: Der Luxemburger Gipfel vom Anfang dieser Woche gehört ganz zweifellos zu den 30 erfolgreichsten Gipfeln der Europäischen Gemeinschaft.
Meine Damen und Herren, ich habe die wörtlichen Zitate aus früheren Reden, aus offiziellen Protokollen nicht vorgelesen, um jemanden zu ärgern, sondern eigentlich nur, um wirklich zur Nüchternheit bei der Betrachtung all dieser kleinen Schritte zu mahnen. Die Nüchternheit darf durchaus, ja, sie sollte mit der Leidenschaft für die europäische Sache gekoppelt sein. Aber ebenso wichtig bleiben Wille und Fähigkeit zum beharrlichen Bohren sehr dicker Bretter und — ich wiederhole es — die Fähigkeit, nüchtern und realistisch einzuschätzen, was geht, auch was nicht geht, wann etwas geht und wie man es gehen machen kann.
Sie haben, Herr Bundeskanzler, eben von dem schwierigen Erbe — so drückten Sie sich aus — der Agrarpolitik gesprochen. Sie haben recht. Die Agrarpolitik verschlingt inzwischen 70 % des Etats der EG, und infolge der hohen Subventionen erzeugt die Gemeinschaft im Durchschnitt 25 % mehr Getreide, Rindfleisch, Butter und Zucker, als wir Europäer gemeinsam aufessen können. Eigentlich müßte jedermann erkennen: Hier geht nichts mehr.
Schließlich besteht j a auch — wenn wir noch einmal auf den Etat sehen — die europäische Erwerbsbevölkerung nur zu 7 % aus Landwirten, aber doch zu 11 % aus Arbeitslosen. Es gibt eine gemeinsame, immer noch produktionssteigernde Landwirtschaftspolitik, aber es gibt — leider — kein gemeinsames gesamtökonomisches Handeln zur Bewältigung der Arbeitslosigkeit.
Dieser Vorwurf trifft natürlich alle Regierungen, keineswegs bloß die gegenwärtige deutsche Bundesregierung; er trifft auch die vorangegangenen Regierungen in allen Hauptstädten einschließlich unserer früheren Regierung. Darin, Herr Bundeskanzler, hatten Sie recht. Aber bitte schieben Sie die Agrarmisere nicht von sich ab. Sie waren es, der zusätzliche nationale Agrarsubventionen eingeführt hat.
Sie waren es, der sich durch das erste deutsche Veto in der gesamten Geschichte der Europäischen Gemeinschaft gegen agrarpolitische Vernunft gestemmt hat.
Die letzten, tatsächlich wichtigen Errungenschaften der Europäischen Gemeinschaft, der Beitritt Englands und inzwischen fünf weiterer Staaten, das Europäische Währungssystem, die Direktwahl des Parlaments, das inzwischen, wie vorausgesehen, begonnen hat, sich die demokratisch notwendigen Rechte schrittweise zu erkämpfen, all dies wurde vor Amtsantritt der jetzigen Regierungen in Paris, Rom, Bonn usw. beschlossen oder eingeleitet.
Dann kam der zweite Ölschock dazwischen, von dem Harold Macmillan jüngst im Oberhaus gesagt hat — ich zitiere ihn wörtlich —:
Das war nicht unsere Schuld, aber beinahe hat dieser Ölschock die industrielle Gesellschaft der heutigen Welt zerstört. Daß wir unter dem Schlag gewankt haben, das war kein Wunder, wohl aber war es ein Wunder, daß wir ihn überstanden haben.
Er hat recht. Tatsächlich haben wir diesen Schlag allerdings noch nicht ganz überstanden. Denn seit dem zweiten Ölschock und seit seinen katastrophalen weltwirtschaftlichen Folgen, nämlich den Verwerfungen im Preis-, Handels- und Zahlungsbilanzgefüge vieler Staaten und steil ansteigender Massenarbeitslosigkeit, seit 1980 also ist kein wirklicher Fortschritt in der EG mehr möglich gemacht worden.
Dann kamen 1981 und 1982 Regierungswechsel in Washington, in Paris, in Bonn, zwangsläufig auch neue Politiken der neuen Regierungen. Die internationale Schuldenkrise kam hinzu, ebenso die amerikanische Haushaltskrise mit ihren schlimmen weltweiten Auswirkungen auf die reale Zinshöhe auf der ganzen Welt, auf die Wechselkurse, auf die Handelspolitik, auf den Kapitalabfluß aus aller Welt nach den USA, allerdings auch mit der — wahrscheinlich vorübergehenden — Wirkung der Steigerung der Exportbeschäftigung in Japan, Europa, Deutschland und anderswo.
Die Unordnung unter den wichtigsten Faktoren der Weltwirtschaft ist seither größer als jemals im letzten Vierteljahrhundert. Dies ist keineswegs die Schuld der Europäer oder der EG. Wohl aber ist die Europäische Gemeinschaft mangels geistiger, politischer, ökonomischer Führung uneinig hinsichtlich der gemeinsamen Vertretung ihrer ökonomischen Interessen in dieser Unordnung.
Frankreich hat 1981 eine Haushaltsdefizitpolitik Reaganschen Ausmaßes begonnen. Sie kam am meisten der italienischen, der deutschen usw. Beschäftigung zugute und mußte nach drei Franc-Abwertungen — die vierte wird wohl im Frühjahr 1986 folgen — bald abgebrochen werden. Das Europäische Währungssystem hat damals seine die ökonomische Politik der Mitgliedsregierungen harmonisierende Kraft gezeigt.
Umgekehrt Deutschland und in unserem Gefolge auch Holland: Hier hat man alsbald umgekehrt eine deflatorische Haushaltspolitik versucht, ähnlich in England. Deswegen haben diese Staaten heute höhere Arbeitslosigkeiten als je zuvor, als jemals seit dem Zweiten Weltkrieg.
Das volkswirtschaftliche Wachstum hingegen ist weitgehend dem Exportanstieg zu verdanken, d. h. weitgehend den im vorigen und im jetzt ablaufenden Jahr unsinnig hohen Dollarwechselkursen.
Aber auch die übrigen EG-Staaten verfolgen national beschränkte ökonomische Konzepte in ihren
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Geld-, Währungs-, Kapitalmarktpolitiken, in ihren Steuer- und Haushaltspolitiken, auch in ihren strukturpolitischen Versuchen.
Wenn man sich die Arbeitslosigkeitszahlen in Europa anschaut — eines unserer Nachbarländer hat sogar 16 % Arbeitslose! —, dann stellt man fest, daß keiner der Staaten der Gemeinschaft mit seiner anachronistischen Alleingangspolitik irgendeinen zu Buche schlagenden Erfolg in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit erzielt hat.
Der Hauptgrund dafür liegt darin, daß nicht nur wegen der zum Teil enormen Weltmarktabhängigkeit — wir Deutschen exportieren inzwischen 35% unseres Sozialprodukts, die Europäische Gemeinschaft als ganze ungefähr 25% —, sondern auch wegen des innerhalb Europas erreichten Grades der tatsächlichen gegenseitigen wirtschaftlichen Verflechtung weder für Frankreich noch für Deutschland noch für Holland, Italien, England, Belgien usw. eine rein nationale Zinspolitik erfolgreich möglich ist.
Die von Amerika ausgehenden weltrekordhohen realen Zinsen sind der Hauptgrund für die europäische Investitionsschwäche von heute und für die aus dieser Investitionsschwäche herrührende Arbeitslosigkeit; der Hauptgrund auch für die zeitliche Verlängerung der zweiten Ölschockkrise über die frühen 80er Jahre hinaus.
Harold Macmillan, heute „The Earl of Stockton", hat in der vorhin schon zitierten fabelhaften Jungfernrede im Oberhaus dazu gesagt:
Reagan hat in Umkehrung von Keynes die Ressourcen der Alten Welt einberufen, um damit die Expansion der Neuen Welt zu finanzieren.
National beschränkte ökonomische Politiken hier in Europa sind machtlos gegen diesen Sog, und sie werden sich auch dann als machtlos herausstellen, wenn sich in Zukunft ergibt, daß die horrenden Dollarauslandsschulden der USA nur durch Inflationierung des Dollars bedient werden können, von Tilgung gar nicht zu sprechen.
Aber eine gemeinsame europäische Abwehr dieser Gefahren wird nicht versucht. Für uns Europäer gilt dann möglicherweise die Tucholskysche Definition, nämlich: „Nationalökonomie ist, wenn Leute sich wundern, warum sie kein Geld haben. Das hat mehrere Gründe. Die feinsten sind die wissenschaftlichen Gründe."
Und wenn ich selber auch einmal zugespitzt formulieren darf: es sieht so aus, als ob die Europäische Gemeinschaft politisch gegenüber beiden weltwirtschaftlichen Zeitbomben abgedankt hat, sowohl gegenüber der lateinamerikanischen Schuldenkrise als auch gegenüber der US-amerikanischen Haushalts-, Zins- und Zahlungsbilanzkrise.
Es gibt aber auch, Herr Bundeskanzler, kaum noch eine gemeinsame europäische Außenpolitik, etwa auf dem Felde der Rüstungs- und Abrüstungspolitik. Ob SDI oder ABM, ob Atomversuche im Pazifik oder chemische Waffen, es gibt zu all diesen Europa existentiell angehenden Fragen gegenwärtig keine gemeinsame Politik der europäischen Regierungen.
Es gibt nicht einmal eine gemeinsame Politik der europäischen Regierungen gegenüber dem Obersten Gaddafi in Libyen. Bei dieser Lage wirkt die von einem unserer Bundestagskollegen stammende außenpolitische Einteilung seiner eigenen Freunde in entweder Genscheristen oder Stahlhelmer geradezu rührend provinziell.
Ich will nachher auf die Frage dieser politischen Gesamtstrategie zurückkommen und spreche im Augenblick von dem ökonomischen Ausschnitt der Gesamtstrategie.
Es gibt heute auf der Welt vier große homogene Märkte:
Erstens ist es China mit 1 Milliarde Menschen. Es hat gegenwärtig zwar einen Lebensstandard von nur 300 Dollar pro Kopf und Jahr, aber in anderthalb Jahrzehnten könnten es durchaus mehr als 800 Dollar pro Kopf werden, wenn Deng Xiaopings und Zhao Ziyangs Reformpolitik nicht zurückgedreht wird. Natürlich ist dieser wirtschaftlich gewaltige Organismus China schon heute militärisch und politisch die dritte Weltmacht.
Der zweite große homogene Markt ist die Sowjetunion mit 270 Millionen Menschen, eine überzentralisierte Verwaltungswirtschaft, Befehlswirtschaft von geringer Leistungsfähigkeit, die wegen der seit Jahren andauernden Abzweigung von 12 bis 14 % ihres Sozialprodukts für militärische Zwecke nur ganz langsam den relativ niedrigen Lebensstandard dieser 270 Millionen Menschen heben kann.
Drittens sind die Vereinigten Staaten zu nennen: 240 Millionen Menschen, ein homogener Markt, ein Wirtschaftsorganismus von enormer Leistungskraft, 50 Staaten, aber natürlich nur eine einzige Währung, eine einzige ökonomishe Politik; und die Gerätestecker, die in Kalifornien hergestellt werden, passen natürlich auch in die Steckdosen in New Hampshire; im Lebensstandard deshalb Europa deutlich überlegen.
Viertens Japan: 120 Millionen Menschen, sehr leistungsbewußt, vielleicht etwas zu diszipliniert — für meinen Geschmack —, im Lebensstandard an Europa noch nicht ganz heranreichend. Aber weil sie von Hokkaido bis Okinawa nur eine einzige Währung haben, eine einzige ökonomische Politik, eine einzige technische Gesetzgebung und so fort, werden sie uns bald eingeholt haben. Sie fangen schon an, uns ein wenig mitleidig das von Professor Giersch in Kiel, Herr Bundeskanzler, geprägte und von einigen Amerikanern weltweit verbreitete Schlagwort von der Eurosklerose entgegenzuhalten und nachzuplappern. Denn Sie rechnen damit, uns
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in absehbarer Zeit in ihrem Lebensstandard zu überholen.
An fünfter Stelle ist dann der sogenannte Gemeinsame Markt der Europäer zu nennen, der ab 1. Januar 320 Millionen Menschen umfassen wird. Aber hat man eigentlich je in der Geschichte von einem Marktplatz gehört, auf dem elf oder zwölf Kaufleute jeder in einer anderen Währung bezahlt werden will, insgesamt also elf Währungen vorhanden sind, wo aber jeder Käufer nur eine einzige Währung im Portemonnaie hat, wo einige der Marktaufseher die durchaus vorhandene gemeinsame Währung — ich rede vom ECU, Herr Stoltenberg — als skandalöse Parallelwährung verdammen und den Menschen in ihren Wohnvierteln sogar verbieten, Zahlungsmittel dieser einen gemeinsamen Währung zu besitzen?
Hat man je von einem Marktplatz gehört, auf dem es einigen Kunden verboten bleibt, bestimmte Biersorten zu kaufen, weil die angeblich nicht rein genug sind — andere Kunden dürfen dieses Bier aber trinken —, wofür umgekehrt einige Lieferanten aus den gleichen Wohnvierteln wütend ihr Recht verteidigen, ihren Wein zu verzuckern oder, wie es so schön heißt, „zu verbessern" — einen Wein, den dann Menschen in anderen Wohnvierteln desselben Markts nicht trinken sollen?
Wieso, Herr Schwarz-Schilling, kann ich kein französisches Telefon kaufen? Wieso kann ein Engländer kein deutsches Fernsehgerät kaufen und anschließen? Wieso können die Eisenbahnen Europas nicht Lokomotiven oder Waggons oder Signaleinrichtungen aus den anderen Wohnvierteln, aus den anderen Ländern Europas kaufen?
Wieso muß ein Lastwagenfahrer auf dem Weg von Deutschland nach Italien bei angeblich von Ihnen geschaffenen offenen Grenzen ganze 27 Dokumente parat halten und vorzeigen?
Der in aller Welt so genannte „common market" ist in Wirklichkeit bisher ziemlich „uncommon", auf deutsch: ziemlich ungewöhnlich.
Dies ist ganz gewiß nicht die Schuld der gegenwärtigen Bundesregierung; ganz gewiß nicht. Die Bundesregierung hat das meiste so vorgefunden, wie es heute ist. Ich darf Ihnen versichern: Vor 15 Jahren war das alles noch sehr viel ärger.
Aber die Bundesregierung sollte bitte nicht verschlimmbösern. Ein deutsches Veto, Herr Bundeskanzler, gegen eine Rationalisierung dieses Marktes hat es zu unserer Zeit in der Tat niemals gegeben
mit all seinen Rückwirkungen in Frankreich.
So wie etwa der Airbus nur deshalb auf der ganzen Welt konkurrenzfähig ist — und damit dürfen sich frühere Bundesregierungen durchaus schmükken — oder die Ariane oder die Satelliten der ESA, weil sie in einem europaweiten Maßstab entwickelt und finanziert und produziert und nicht etwa in einer rein französischen oder rein italienischen oder sonstigen nationalen Bastelstube gebaut werden, so ist es doch auch mit der Wirtschaft Europas insgesamt!
Im Wettbewerb mit den Unternehmensleitungen, den Arbeitnehmern und den Regierungen dieser vier anderen großen homogenen Märkte der Welt können wir in Europa auf die Dauer nur dann bestehen, können wir unseren Lebensstandard und unsere Beschäftigung auf die Dauer nur dann steigern, wenn wir uns die potentiellen Vorteile der wirtschaftlichen Größenordnung Europas tatsächlich zunutze machen
oder wenn wir uns, wie man in Amerika sagt, die Economy of scale zunutzen machen.
Ich weiß, daran wird gerarbeitet. Der Bundeskanzler hat erwähnt, 300 Harmonisierungsrichtlinien seien noch fällig. Hoffentlich gehen dann die Regierungen mit der Umsetzung dieser Harmonisierungsdirektiven etwas vernünftiger um, als die Bundesregierung mit dem vor vier Jahren beschlossenen einheitlichen Muster für den europäischen Paß umgegangen ist. Eigentlich sollte er am 1. Januar dieses Jahres ausgestellt werden. Inzwischen liegt seit Sommer dieses Jahres ein ganz anderer Paßgesetzentwurf im Innenausschuß, und vom Einführungsdatum für den europäischen Paß ist in diesem Entwurf keine Rede mehr.
George Bernard Shaw hat einmal geschrieben: Die besten Reformer der Welt sind diejenigen, die bei sich selber anfangen.
Wer z. B. das Veto in den europäischen Räten abschaffen will, der könnte verbindlich erklären: Die deutsche Bundesregierung wird kein Veto mehr einlegen.
— Das können Sie leicht erklären. Auch wir haben das 13 Jahre lang nicht gemacht. Wir haben uns allerdings nicht damit gebrüstet. Wir fangen heute an, uns damit zu brüsten, nachdem Sie sich hier als die Erfinder Europas dartun.
Wer europaweite Ausschreibungen und Käufe aller Regierungen und staatlichen Stellen — Bundesbehörden, Bundeswehr, Post, Bahn usw. — einführen will, der könnte doch sofort erklären, daß wir in Deutschland auf nationale Beschränkungen unserer Ausschreibungen und Beschaffungen verzichteten. Wer bei jeder solchen Sache immer erst die
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Gegenleistung des anderen schriftlich auf den Tisch haben will
— und ich kenne natürlich schon alle Gegenargumente, Herr Kollege, welche ebenso natürlich den Vorteil für den Leistungswettbewerb und für den Fiskus des Herrn Stoltenberg abstreiten wollen —, der ist dann eben doch bloß ein Politiker. Lloyd George hat einmal gesagt, ein Politiker sei jemand, mit dessen Politik man nicht übereinstimme. Wenn man aber mit ihr übereinstimme, dann sei er ein Staatsmann.
Und jetzt ohne Spaß: Europa braucht vielleicht nicht alle seine Politiker, aber es braucht einige wenige Staatsmänner. Oder wie mein Freund Callaghan vor ein paar Tagen formuliert hat:
Europa braucht einen modernen Ernest Bevin oder Robert Schuman oder Jean Monnet mit deren Kraft — ich zitiere Callaghan —, mit deren konstruktiver Energie und mit deren Vorstellungsvermögen — „imagination", so sagt er —, um die institutionellen Hemmnisse zu überwinden.
Meine Fraktion hat Ihnen eine Entschließung über das, was jetzt praktisch zu tun ist, vorgelegt und ich greife daraus die Punkte 3, 4 und 5 heraus. Wir stimmen weitgehend überein mit einer einstimmigen Empfehlung, welche das Monnet-Komitee im Juni dieses Jahres hier in Bonn unter Vorsitz von Karl Carstens an die Adresse der Regierenden in Europa gerichtet hat. Diese drei Empfehlungen haben den großen Vorteil, daß sie keinen neuen völkerrechtlichen Vertrag, keine Ergänzung der europäischen Verträge, keine langdauernden Ratifikationsverfahren in zwölf Parlamenten erfordern, sondern daß die Regierungen sie verwirklichen können, ohne neue Institutionen dafür zu schaffen. In einem Wort: Es handelt sich um das jetzt, um das hier und um das sogleich Machbare.
Erstens. Wir halten z. B. den weiteren Ausbau des Europäischen Währungssystems und der ECU-Währung für einen heute gangbaren und zugleich notwendigen Schritt. Sie, Herr Bundeskanzler, haben Ihre ablehnende, Ihre negative Einstellung heute breit dargelegt, und ich möchte darauf antworten. Gewiß, für die schließliche Vollendung des Europäischen Währungssystems wird man eine Ergänzung der Römischen Verträge brauchen, wie etwa Präsident Delors das im Herbst vorgeschlagen hat. Heute wäre die Einrichtung einer autonomen europäischen Zentralbank noch nicht geboten. Die Vertragsergänzung aber, die vorgestern in Luxemburg zustande gebracht worden ist, besteht nun tatsächlich nur aus unverbindlichen, allgemeinen Redensarten. Damit kann jetzt jeder tatsächliche Fortschritt auf Eis gelegt werden, bis der Ergänzungsvertrag nach einer Reihe von Jahren schließlich ratifiziert ist, wenn er denn überhaupt zustande kommt. Aber genauso, wie das EWS ohne Vertragsänderung geschaffen werden konnte, genauso könnte es heute ohne Vertragsänderung seine zweite Ausbaustufe erreichen.
Ich stimme Ihrem Bedauern darüber zu, Herr Bundeskanzler, daß Frau Thatcher trotz gegenteiliger Meinung der englischen Finanzwelt immer noch nicht mitmachen will, aber der weitere Ausbau des EWS wird dadurch doch nicht behindert. Eher im Gegenteil: Je erfolgreicher sich das Europäische Währungssystem entwickelt, um so wahrscheinlicher wird Englands Beitritt.
Der Hauptwiderstand gegen den Ausbau des EWS kommt in Wahrheit aus Deutschland, genauer: aus Frankfurt und aus der Rheindorfer Straße in Bonn. Der Bundeskanzler hat ihn von dorther übernommen. Der Finanzminister ist sogar bis zur Forderung vorgedrungen, selbst bei Änderung des EG-Vertrages dürfe die Autonomie der Bundesbank nicht berührt werden. Die „Financial Times" hat dazu sarkastisch geschrieben, einige westdeutsche Währungspolitiker schlichen auf Zehenspitzen um diese obskure Sache herum, als könnte da eine Bombe hochgehen. Und tatsächlich kam ja jüngst ein Brief aus Frankfurt hier nach Bonn, der demjenigen des Ministers Weinberger an seinen Präsidenten ähnelte, als dieser in Genf gerade mit Generalsekretär Gorbatschow zu reden hatte.
Die Bundesbank muß erkennen: Jedes Verbot, den ECU zu verwenden, tendiert dazu, das Quasi-Monopol des Dollars aufrechtzuerhalten und damit die Giralgeldschöpfung unserer Geschäftsbanken von den extremen Kursschwankungen des Dollars abhängig zu machen.
Ich rufe in Ihre Erinnerung: Zu Jahresbeginn 1980 war der Dollar 1,70 DM wert, in diesem Frühjahr, im Frühjahr 1985, war er 3,40 DM wert — doppelt so viel —, im Augenblick ist er nur 2,50 DM wert; der Kurs der EWS-Währungen hingegen hat wesentlich geringer geschwankt als derjenige der frei floatenden Währungen, etwa der des Dollars. Die Wechselkurskorrekturen im System sind genauso reibungslos abgelaufen wie früher einmal zu Zeiten des Systems von Bretton Woods. Sie haben sich an den fundamentalen Faktoren wie den unterschiedlich hohen Inflationsraten in Europa und den Zahlungsbilanzgleichgewichten orientiert. Sie waren deshalb berechenbar. Das EWS hat seine Partnerstaaten in Europa gegenüber dem Rest der Welt begünstigt und uns vor allzugroßen Verzerrungen der Preise, der Kosten, der Allokationen bewahrt.
Regierungen und Notenbanken sollten Schritt für Schritt ganz pragmatisch lernen, in der Währungspolitik sowohl EG-intern als auch im Verhältnis zu Amerika und zu Japan an einem Strang zu ziehen. Wenn sie es nicht lernen, dann sehe ich nicht, wie Europa seinen schwindenden Einfluß auf der inter-
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nationalen ökonomischen Bühne zurückgewinnen soll. Ich sehe dann auch keine Besserung, keine dauerhafte Besserung der Arbeitslosigkeit in Europa.
Wenn wir, Herr Bundeskanzler, 1979 den Tendenzen der Bundesbank gefolgt wären, dann gäbe es das EWS überhaupt nicht, ein System, dem alle europäischen Ökonomen heute den Erfolg bescheinigen. Heute ist — anders als die Warner in Frankfurt schreiben oder schreiben lassen — klar ersichtlich — siehe das Beispiel Frankreich —, daß geld- und währungspolitischer Gleichlauf die Regierungen zur Konvergenz ihres allgemeinen wirtschaftspolitischen Verhaltens zwingt. Wer aber, Herr Stoltenberg, die umgekehrte Reihenfolge verlangt, erst wirtschaftspolitischen Gleichlauf auf allen Feldern und erst dann — vielleicht — auch währungspolitischen Gleichlauf, der kann kein geschichtliches Beispiel für den Erfolg seines Rezeptes beibringen, und vielleicht will er diesen Erfolg ja auch gar nicht.
Die Regierung und ihr Finanzminister haben detaillierte Vorschläge für den Ausbau des EWS auf dem Tische, z. B. u. a. auch von mir. Sie sollten den Rat eines bedeutenden Mannes befolgen, der gesagt hat
— ja, lachen Sie nicht zu früh —: Es ist die Schwäche der Regierungen, die Beschlüsse in der EG ständig verhindert, z. B. beim europäischen Währungssystem. — Der dies sagte, war Dr. Kohl; es war am 9. Januar 1981.
Damals, Herr Bundeskanzler, war das Europäische Währungssystem zwar längst in Funktion, aber in der Zwischenzeit — Sie sind seit drei Jahren im Amt — ist es nicht weiter ausgebaut worden. Also, bitte, zeigen Sie die Stärke, die Sie früher von anderen verlangt haben.
Dabei wird von Ihnen keineswegs erwartet, daß Sie der Bundesbank etwas wegnehmen oder gar das Bundesbankgesetz ändern. Das Gesetz muß lediglich angewandt werden.
Außenwährungspolitik bleibt schließlich Teil der allgemeinen Wirtschaftspolitik der Bundesregierung, und sie bleibt Teil der Außenpolitik, hier der Europapolitik der Bundesregierung. Was Sie zu dem Thema EWS ausgeführt haben, war eigentlich bloß die Bemäntelung einer Kapitulation vor vermeintlichen — vermeintlichen! — nationalen deutschen Interessen.
Zweitens. Was die Herstellung des einheitlichen Binnenmarkts bis 1992 angeht, so würde ich einräumen, daß das eine sehr viel kompliziertere Aufgabe ist als der Ausbau des Europäischen Währungssystems. Sehr viel komplizierter! Die vielen Harmonisierungen sind erwähnt worden. Aber auch auf diesem Felde kann einiges sofort geschehen, z. B. die
Europäisierung aller öffentlichen Ausschreibungen. Das Monnet-Komitee hatte Ihnen das schon für Mailand vorgeschlagen. Es wird Zeit, daß einer die Initiative ergreift. Delors hat Ihnen im Juli ein ganzes Paket von Vorschlägen für die Schaffung des Binnenmarkts vorgelegt: von der Vereinheitlichung der technischen Normvorschriften über die Steuerharmonisierung bis hin zu den unterschiedlichen Einzelwertberichtigungen und Mehrwertsteuersätzen usw. Ich will das nicht ausmalen. Sie selbst haben es erwähnt. Man muß aber auch an die Notwendigkeit erinnern, europäische Dienstleistungen zu ermöglichen. Ich habe bisher weder französische Wirtschaftsberatung bei Hamburger Firmen erlebt noch deutsche Wirtschaftsprüfung in Rom. Wohl aber erobern amerikanische Beratungsfirmen und hundertköpfige amerikanische Rechtsanwaltssozietäten inzwischen unsere Märkte in Europa, in jeder größeren Stadt. Das muß j a so nicht sein.
Binnenmarkt heißt natürlich abermals Souveränitätsverzicht, vor allem auch gegen den Wunsch national organisierter Interessenverbände.
Im übrigen haben einige Industrien erfolgreich gezeigt — ich denke z. B. an einen Bereich in der Elektrobranche —, daß die Unternehmen manches zur Herstellung gemeinsamer technischer Normenvorschriften beitragen können; leider geschieht das nicht in der Automobilwirtschaft.
Der dritte Bereich, in dem sofort und konkret ohne ratifikationsbedürftige Verträge gehandelt werden könnte, ist der Bereich des technischen Fortschritts in Europa. Präsident Mitterrand hatte im Mai 1984 in Straßburg drei technologische Felder genannt — Elektronik, Weltraum, Verkehrswesen —, die wir zur Wiedergewinnung europäischer Wettbewerbsfähigkeit fördern sollten. Wir Sozialdemokraten haben jene Vorschläge unter Hinzufügung der Umwelttechnologie im Bundestag unterstützt. Aber trotz des neuen und sehr schönen Eureka-Schlagwortes ist die Sache seither nicht viel weitergekommen.
Die funktionierenden europäischen Forschungs-und Technologiekooperationen hatte es j a längst vorher gegeben. Sie braucht man heute nun nicht künstlich unter ein neues Sekretariatsdach zu schaffen; sie haben ja doch bisher gut funktioniert. Das gilt genauso für die etwa 3 000 Personen, die in der Forschung und im Forschungsmanagement durch die EG beschäftigt sind. Man soll die bestehenden Institutionen nutzen und nicht ständig neue Bürokratien hinstellen, auch wenn sie sich vornehm Sekretariat nennen.
Warum lassen Sie Ihren Postminister nicht den Anstoß dazu geben, daß die Postverwaltungen der Staaten der EG untereinander ein einheitliches Glasfaserbreitbandnetz vereinbaren und voranbringen, statt diese ewigen Fehlinvestitionen in die Kupferverkabelung vorzunehmen?
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Warum lassen Sie den Verkehrsminister nicht seine Kollegen in Paris und in Brüssel anstoßen, damit in Europa — wie Mitterrand vorgeschlagen hat — ein gemeinsames Schnellbahnsystem errichtet wird? Holland, Italien, andere würden sich schnell beteiligen. Lassen Sie es planen von Rom bis nach Kopenhagen. Die französische Eisenbahn hat gezeigt, daß sie das kann. Die japanische kann es schon lange. Aber auch die Bundesbahn hat jüngst einen Hochgeschwindigkeitszug vorgestellt. Wieso geht das eigentlich nur national und nicht gemeinsam? Es ist doch ein gemeinsames Eisenbahnnetz.
Wenn wir Flugzeuge und Fernmelde- und Forschungssatelliten gemeinsam bauen konnten, wieso eigentlich nicht auch Satelliten zur militärischen Aufklärung, wie Paris es vorgeschlagen hat? Sollen denn wir Europäer auf ewig in der Abrüstungskontrolle von den Brosamen abhängig bleiben, die von den Tischen der Hunderte von Aufklärungssatelliten der beiden Großmächte fallen?
Meine Damen und Herren, SDI ist eine Sache — eine Sache, die zugleich eine Kernfrage künftiger Strategie bedeutet. Hoffentlich wird sie unter Berücksichtigung unserer europäischen Sicherheitsinteressen entschieden. Europäische industrielle Interessen sind dabei zwar nicht gleichgültig, aber sie sind bestenfalls zweitrangig. Man kann doch wohl eine strategische Revolution nicht nach ihrem technologischen spillover beurteilen wollen.
Eine durchaus andere Sache ist die Notwendigkeit Europas, sich technologisch gegen die vier großen, aber homogenen Wirtschaftskörper zu behaupten, von denen ich sprach. Ich habe in diesem Herbst einige hochtechnisierte japanische Unternehmen studiert. Manches hat mir imponiert. Einiges können wir schon von den Japanern lernen. Aber eine Sache hat mir zutiefst mißfallen. Eine japanische Elektrofirma baut serienweise Computer, die zum Schluß das Markenzeichen einer europäischen Elektronikfirma aufgeklebt bekommen und unter diesem Firmenzeichen in der ganzen Welt verkauft werden. Offenbar war die europäische Firma nicht in der Lage, die Geräte in gleicher Qualität selbst zu produzieren oder sie zu vergleichbaren Kosten zu produzieren.
Ob wir es also Eureka nennen oder ob wir es anders nennen: Nur wenn wir die Größenordnung ausnutzen, die uns durch über 300 Millionen intelligenter und fleißiger Europäer gegeben ist, nur wenn diese 300 Millionen ihre Forschung und Technik gemeinsam voranbringen, nur dann halten wir unseren relativen Lebensstandard und unsere Beschäftigung. Das gilt für das ganze Feld, von den Quarzuhren und den neuen Medientechniken bis hin zur Umwelttechnologie oder der Technologie der Kohle, der Kernenergie oder der Sonnenenergie. Schließlich haben uns allen ja die beiden Ölschocks und das Verhängnis der allzu hohen Ohmportabhängigkeit Europas deutlich genug das Fell verbrannt.
Ich will mich den institutionellen Vorschlägen zuwenden, die auf unseren Tischen liegen. Den Vertragsentwurf à la Luxemburg kennen wir zwar noch nicht genauer; er ist auch noch nicht fertig. Ein Dooge-Bericht lag aber vor, ein vollständiger europäischer Verfassungsentwurf des Straßburger Parlaments für eine Europäische Union liegt vor, viele Studien, Vorschläge, die Westeuropäische Union soll ausgebaut werden. Die „Welt" von gestern hat Sie zitiert, Herr Bundeskanzler; Sie sollen in Luxemburg gesagt haben: „So geht es nicht weiter." — Sie sollen auch gesagt haben: „Im Grunde sind wir völlig überfordert." — Sofern die beiden Zitate zutreffen und sofern sie auf den Wirrwarr all dieser Vorschläge gemünzt sind, kann ich ihnen meine Zustimmung nicht verhehlen. Es bleibt aber dann erstaunlich, daß der von CDU/CSU und FDP vorgelegte Entschließungsantrag das Ganze einen „Durchbruch" nennen will.
Für meine Person möchte ich Jean Monnet in Erinnerung rufen. In seinen „Lebenserinnerungen eines Europäers" lesen Sie, man solle „Breschen in die Mauern der nationalen Souveränitäten schlagen, die so begrenzt sind, daß sie Zustimmung erlangen können, gleichzeitig aber doch tief genug, um die Staaten zu der für den Frieden notwendigen Einheit zu bewegen".
Für mich selbst hat diese Überzeugung seit dem Scheitern des Projekts einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft vor mehr als dreißig Jahren immer gegolten. Ich bin deshalb in meiner Zustimmung zu umfassenden Entwürfen, die nicht bloß begrenzte Breschen schlagen sollen, sondern die ganz neue Grundmauern errichten wollen, zurückhaltend. Sie können in der Ratifikation genauso scheitern, wie die EVG Anfang der 50er Jahre im französischen Parlament gescheitert ist.
Wenn die Regierungschefs heute in der EG gemeinsam das Veto abschaffen oder einschränken wollen, das seit 20 Jahren, seit der Politik des leeren Stuhls, de facto eingeführt ist, dann genügte es doch, wenn sie gemeinsam erklärten, sie wollten sich von nun an tatsächlich an den geltenden Text der Römischen Verträge halten.
Notfalls könnten Sie dem geltenden Text eine gemeinsame Interpretation hinzufügen.
Wenig aussichtsreich erscheinen dagegen Versuche, durch einen formalen Vertrag tatsächlich eine gemeinsame Außenpolitik zustande zu bringen, etwa auf dem Felde der Sicherheit, das der Bundeskanzler hier in diesem Zusammenhang ausdrücklich hervorgehoben hat. Wie kann eine gemeinsame Sicherheitspolitik tatsächlich verfolgt werden, wenn Irland neutral ist; wenn Frankreich zwar der Allianz, nicht aber der NATO angehört; wenn zwar Frankreich und England Nuklearmächte sind, aber nur einer von beiden den Atomteststoppvertrag und nur einer von beiden den Nichtverbreitungsvertrag für Atomwaffen unterschrieben hat; wenn wir anderen mittleren und kleineren Staaten in der EG den Nichtverbreitungsvertrag zwar natürlich ratifiziert
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haben und auch peinlich genau einhalten, aber leider seit 15 Jahren vergeblich darauf warten, daß auch die nuklearen Vertragspartner ihre Abrüstungsverpflichtungen aus Art. 6 endlich erfüllen;
und wenn sich schließlich die nichtnuklearen Staaten in der EG in zwei unterschiedliche Interessengruppen aufteilen, in solche, die keine fremden Atomwaffen auf ihrem Boden dulden wollen, und solche wie Italien, Deutschland, Belgien und Holland, die dies nach schwierigen inneren Auseinandersetzungen gestatten?
Aus all diesen — auch völkerrechtlichen — Unterschieden im Sicherheitsstatus und außerdem aus unterschiedlichen geographischen Lagen ergeben sich sehr verschiedene Interessen, z. B. gegenüber den meisten Abrüstungsproblemen. Wir Deutschen haben ein dringliches, ein vordringliches Interesse am Erfolg der Verhandlungen über atomare Mittelstreckenwaffen, die jüngst von Gorbatschow und Reagan wieder in den Mittelpunkt gerückt worden sind, über eurostrategische Waffen, die auf uns gerichtet sind. Für die Portugiesen dagegen kann dies nur eine von vielen anderen, für sie gleichrangigen Fragen sein. Für London hat die „special relationship" zu Amerika jedenfalls bisher vor vielen europäischen Interessen Vorrang. Für die gleichfalls mit Washington verbündeten Franzosen sieht das erheblich anders aus, siehe die völlig unterschiedlichen Haltungen in London und in Paris gegenüber SDI.
Was nützt aber nun in solcher Situation eine vertragliche Festlegung, bei allen zukünftig vorkommenden sicherheitspolitischen Fragen einer Meinung sein zu wollen? Welcher Meinung denn? Oder wird vielleicht die sehr interessante, aber in Amerika wie in Europa sehr umstrittene Idee des amerikanischen Präsidenten, mit Hilfe von SDI die Strategie des Bündnisses völlig umzuwälzen, von dem neuen Vertrag ausgenommen?
Meine Herren,
durchaus ohne Vertrag über die gemeinsame Außenpolitik haben die europäischen Regierungschefs und Außenminister häufig genug auf vielen wichtigen außenpolitischen Feldern gemeinsam agiert, z. B. in der Mittelostpolitik, z. B. einige Jahre lang in der Namibiapolitik, z. B. in der Abwehr des amerikanischen Röhrenembargos. Am erfolgreichsten haben sie — ohne jede Vertragsgrundlage — bei der Konzipierung der Harmel-Doktrin 1967 kooperiert, vor allem bei ihrer tatsächlichen Anwendung und Befolgung.
Das reichte doch vom Nichtverbreitungsvertrag, von SALT I und ABM über die deutschen Ostverträge und das Viermächteabkommen über Berlin bis hin nach Helsinki.
Die Harmel-Doktrin der Atlantischen Allianz war eine sehr brauchbare Gesamtstrategie.
Sie war präzise in ihrem doppelten Kern, aber doch allgemein genug, um von allen europäischen Bündnisstaaten und von den Amerikanern gemeinsam getragen werden zu können. Sie verzichtete darauf, die sich erst später entwickelnden Politiken der Verteidigung, der Rüstungsbegrenzung oder der vertraglichen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion im Vorwege im Detail oder geradezu in Paragraphen zu regeln. Das ganze Dokument war der Form nach ein bloßer Ratsbeschluß; es war, wenn ich mich recht erinnere, nicht länger als zweieinhalb Druckseiten.
Jener nach dem damaligen Vorsitzenden des Rates — es war der Belgier Pierre Harmel — genannte Beschluß hatte zwei Voraussetzungen. Er setzte erstens den Druck der sowjetischen Weltmacht auf Europa voraus, und er setzte zweitens, daraus resultierend, die fortdauernde Notwendigkeit des Bündnisses der Europäer mit der anderen Weltmacht, mit den USA, voraus. Beide Voraussetzungen bestehen heute noch genauso, wie sie 1967 bestanden haben.
Der Kern der Doktrin bestand aus zwei Punkten. Erstens: Die Allianzpartner verpflichteten sich selbst zu erheblichen gemeinsamen Verteidigungsanstrengungen, um durch tatsächliche Verteidigungsfähigkeit abzuschrecken. Zweitens: Auf der Basis der so hergestellten Sicherheit boten sie der Sowjetunion Zusammenarbeit an, vornehmlich auf dem Felde der Rüstungsbegrenzung und Abrüstung, aber auch auf wirtschaftlichem Felde usw. Wenn Sie so wollen, war das eine Doppelstrategie im wahren Sinne dieses heute inflatorisch mißbrauchten Wortes.
Diese außenpolitische gemeinsame Strategie Europas und der Amerikaner ist ein Jahrzehnt lang sehr erfolgreich gewesen. Sie wurde von der Sowjetunion akzeptiert. Sie hat nicht nur den Einmarsch in die Tschechoslowakei überstanden, sondern auch den Vietnam-Krieg, an dem beide Weltmächte beteiligt waren. Dann ist sie in der zweiten Hälfte der 70er Jahre zerbröckelt. Auf beiden Seiten wurden Fehler gemacht. Der größte Fehler war die SS-20-Rüstung, dann der Einmarsch in Afghanistan, so daß Präsident Carter danach öffentlich gesagt hat, jetzt erst erkenne er den wirklichen Charakter der Sowjetunion. Das ehrte ihn zwar seiner Ehrlichkeit wegen. Wir Europäer hingegen hatten solche Aha-Erlebnisse nicht; denn wir hatten ja keine Illusionen gehabt. Aber in den Vereinigten Staaten wurde nun jede tatsächliche oder auch jede angebliche Illusion über sowjetische Politik ins krasse Gegenteil verkehrt. SALT II wurde nicht mehr ratifiziert, und bis zum „evil empire" war es dann nach dem Präsidentenwechsel nicht mehr weit. Der Abschuß des koreanischen Verkehrsflugzeuges hat zu alledem erheblich beigetragen.
Die Harmel-Epoche, meine Damen und Herren, war möglich gewesen, weil die Europäer außenpolitisch zusammengearbeitet haben. Sie ging kaputt
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von dem Zeitpunkt an, wo die Zusammenarbeit zwischen Europäern und Amerikanern zerbröckelte. Der europäische Einfluß auf die Gesamtstrategie Washingtons ist ab 1977 zunächst langsam und dann schrittweise zerbröckelt, gemeinsam mit der Harmel-Doktrin. Sie war eine Gleichgewichtsdoktrin — das ist europäisches Interesse —, sie war keine Überlegenheitsstrategie. Sie kennzeichnet darum in Sachen Friedenssicherung die bei weitem erfolgreichste Phase der Nachkriegszeit. Aber das kann doch, Herr Bundeskanzler, jetzt nicht durch einen rein formalen, von der Substanz her inhaltslosen außenpolitischen Kooperationsvertrag der Europäer untereinander wiederhergestellt werden.
Denn ohne den Willen Amerikas geht es schon gar nicht.
Es gibt gegenwärtig keine gemeinsame Gesamtstrategie des Bündnisses. Statt eines, wie ich glaube, substanzlosen, wenn auch wahrscheinlich unschädlichen außenpolitischen Kooperationsvertrages, schiene es mir wichtiger, wenn die europäischen Regierungen untereinander die langfristige Interessenlage ihrer Staaten im Verhältnis zur Sowjetunion, auch zu den USA, auch untereinander, erneut in die Tiefe gehend analysierten. Sie würden dann wahrscheinlich erneut auf die alte Erkenntnis stoßen, die der geschichtserfahrene Winston Churchill damals 1946 in Zürich ausgesprochen hat. Die europäische Familie, so sagte er, braucht ein Zusammengehen von Frankreich und Deutschland. Monnet und Schuman, später de Gaulle und Adenauer und später wieder andere in Paris und Bonn haben das verstanden. Sie haben nach diesem Verständnis praktisch zu handeln versucht. Dabei sind — Sie haben recht, Herr Bundeskanzler — große Fortschritte erreicht worden. Vor allem anderen nenne ich die freundschaftliche Gesinnung der Franzosen und der Deutschen gegenüber einander.
Natürlich sind manchmal auch Fehler gemacht worden, jedenfalls sind Erschwernisse eingetreten. Die prononcierte Wiederaufnahme der autonomen nuklearen Verteidigungskonzeption de Gaulles „à tous azimuts", gegen alle Himmelsrichtungen, durch den gegenwärtigen Präsidenten in Paris hat das deutsche Dilemma wiederaufleben lassen. Unsere gegenwärtige Bundesregierung und wir alle leiden daran. Ich meine jenes Dilemma, das uns Deutschen der große Präsident de Gaulle heute vor 20 Jahren durch seinen Auszug aus der NATO beschert hat.
Dieses Dilemma besteht darin, geschichtlich und politisch und psychologisch vornehmlich auf die Legitimation durch den französischen Partner angewiesen zu sein und doch zugleich, in Sachen unserer eigenen Sicherheit auf Frankreichs Hilfe nur eingeschränkt rechnen dürfend, militärisch und bündnispolitisch vornehmlich auf den amerikanischen Partner angewiesen zu sein — und dies beides bei ganz erheblicher Divergenz der Politik und der Strategie des französischen und des amerikanischen Partners.
Als dieses Dilemma vor zwei Jahrzehnten zum ersten Mal — eigentlich schon während der Verhandlungen zum Elysée-Vertrag und über MLF — auftauchte, gab es bei den beiden großen Parteien hier in diesem Hause durchaus verschiedenartige Tendenzen in der Beurteilung, wie man sich verhalten solle. Ich erinnere mich, daß Baron Guttenberg und Franz Josef Strauß und Kurt Georg Kiesinger entsprechend ein gaullistisches Epitheton ornans angehängt bekommen haben. Gerhard Schröder, Fritz Erler, Herbert Wehner, auch Willy Brandt oder mich, uns nannte man „Atlantiker". Diese Beinamen waren allerdings schwere Übertreibungen. Aber das zugrundeliegende Dilemma war real. Das Dilemma steht heute leider wieder stärker im Vordergrund als zur Zeit von Giscard d'Estaing oder von Pompidou.
Die Ursachen für das Hervortreten dieses Dilemmas liegen nur zum Teil in Paris. Sie liegen zum Teil in Bonn, zum Teil in Washington. Vor ein paar Tagen hat Jean François-Poncet im „Figaro" geschrieben — ich zitiere wörtlich —:
Regelmäßige Treffen, Höflichkeiten und Dementis ändern nichts an der Tatsache, daß die deutsch-französischen Beziehungen nicht mehr das sind, was sie einmal waren.
Zum Beleg führte er dann sieben wichtige Meinungsverschiedenheiten an: SDI, neue GATT-Runde, europäisches Kampfflugzeug, Raumstation Columbus statt Hermes, die Aufschiebung einer Entscheidung über den Beobachtungssatelliten, die zögerliche Behandlung von EUREKA und natürlich das Kiechlesche Veto. Hier kennen eine ganze Menge von uns François-Poncet als einen nüchternen Mann. Ich will mir — trotz seiner Nüchternheit — seine Schlußfolgerung nicht zu eigen machen. In ihr ist von einer „tiefgreifenden Verschlechterung" die Rede.
Ich weiß auch, daß bei Verstimmungen zwischen Menschen oder Regierungen oder den öffentlichen oder veröffentlichten Meinungen von Völkern meist auf beiden Seiten Fehler gemacht worden sind. Deshalb sollte man sowohl im Elysée als auch im Kanzleramt prüfen, ob Fehler vorliegen und wie sie für die Zukunft vermieden werden können. Weder liegt es in Frankreichs Interesse, uns Deutsche in alternative oder polarisierende Entscheidungssituationen zu drängen oder drängen zu lassen, noch dürfen wir selbst uns in polarisierende Entscheidungssituationen hineinbegeben.
Beide Chefs müssen wissen, daß das Ausbleiben einer eindeutig kooperativen sicherheitspolitischen Entscheidung Frankreichs die Sache heute stärker erschwert als zur Zeit der Harmel-Strategie in den 70er Jahren.
Die Zeit für eine neue, den europäischen Interessen dienliche Gesamtstrategie unseres westlichen Bündnisses ist trotz des Genfer Gipfels, der ein erster Schritt auf einem viele Meilen langen Wege gewesen ist, zwischen den Regierungen des Westens offenbar noch nicht reif. Aber Europa wird in diesem Bündnis und in der Welt nur dann wieder ein Gewicht in die Waagschale legen können, wenn
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dies gemeinsam und im engen Einvernehmen zwischen Deutschen und Franzosen geschieht.
Am Montag dieser Woche hat mein Freund Giscard d'Estaing hier vor dem DIHT in Bonn gesprochen und gesagt:
Dort, wo Deutschland und Frankreich einig sind, kommt Europa voran.
Dort, wo Deutschland und Frankreich sich trennen, tritt Europa auf der Stelle.
Beides trifft den Kern.
Und wenn ich einen bescheidenen persönlichen Rat hinzufügen darf: So wie Präsident Mitterrand selbstverständlich und selbstverständlich taktvoll Kontakt pflegt und Kontakt pflegen läßt zu führenden Personen der Opposition in Bonn, so sollte die deutsche Seite Kontakt pflegen in Paris, nicht nur zu Herrn Fabius, sondern auch zu den Herren Chirac, Chaban-Delmas, Giscard, Raymond Barre, natürlich auch zu Rocard. Persönliche Freundschaften, meine Damen und Herren, zwischen den Staatslenkern Frankreichs und Deutschlands sind ein Geschenk. Die kann man nicht durch Beschluß kreieren. Aber freundschaftliche Kontakte und Verständigung zwischen den wichtigen Personen der politischen Klasse in beiden Ländern, die hingegen können durchaus erarbeitet werden —
damit es bei abermaligen Regierungswechseln nicht noch mal so hergehen muß wie Montag und Dienstag in Luxemburg, etwa nach dem Diktum Rossinis über Wagners Lohengrin: „Sehr schöne Momente, aber böse Viertelstunden".
Ich möchte auf zwei Personen hinweisen, die außerhalb der Regierungen stehen, zwei Staatsmänner, konzeptionsstark und urteilskräftig, deren ausgleichenden Ratschlag man sowohl in Paris als auch in Bonn als auch anderswo in Europas Hauptstädten hören sollte. Ich meine den englischen Konservativen Lord Carrington, und ich meine den französischen Sozialdemokraten Jacques Delors. Das sind beides gestandene, ausgewiesene Männer. Es würde mir sehr schwerfallen, ihren Rat auszuschlagen.
Warum läßt man sie nicht agieren, z. B. im Vorfelde des Genfer Gipfels? Etwa jener New Yorker Nachmittag, der ominöserweise mit dem französischen Präsidenten nicht abgestimmt war und zu dem er deshalb nicht erschien, der konnte doch wohl einen deutlichen europäischen Einfluß nicht ersetzen, der vor Genf lange Zeit völlig gefehlt hatte.
Oder z. B. im Vorfeld der Euro-Gipfel von Mailand
oder Luxemburg. Nur dann, Herr Bundeskanzler,
sollen die Staatslenker persönlich die Details regeln, wenn Kommissionspräsident und Minister das wirklich nicht können. — Aber das letztere ist doch gar nicht der Fall.
Warum läßt man z. B. Delors nicht einen Marshall-Plan oder einen Reagan-Plan für Zentralamerika ausarbeiten und qua EG der amerikanischen und der japanischen Regierung ein Angebot machen, das so lauten könnte: Costa Rica und El Salvador, Guatemala, Honduras, Nicaragua, die Staaten der zentralamerikanischen Landbrücke haben zusammen ein Bruttosozialprodukt von ganzen 30 Milliarden Dollar. Das ist ungefähr 1 % des amerikanischen oder des europäischen Sozialprodukts. Wir schlagen euch in Washington und in Tokio vor, das Sozialprodukt pro Kopf in Zentralamerika, sagen wir, in sieben Jahren zu verdoppeln. — Natürlich könnten wir uns das leisten. Es würde jeden von uns weniger als ein Zehntel Prozent unseres jährlichen Sozialprodukts kosten. Aber natürlich würde damit endlich eine wirtschaftliche und soziale Grundlage geschaffen, auf der dann Contadora und Vernunft sich durchsetzen könnten gegen ziellose Revolutionäre und Contras und Diktaturen.
Und natürlich wäre das ein positiver Beitrag europäischer Außenpolitik zur Entgiftung der Welt.
Oder ein anderes Beispiel: Warum läßt man Delors nicht die Initiative von Jim Baker in Seoul aufgreifen. Da hat zum erstenmal ein Amerikaner in die richtige Richtung gedacht, zum erstenmal Washington die Schuldenkrise als langfristige Aufgabe, als politische Aufgabe verstanden und ernst genommen. Jetzt müssen wir Europäer das Problem endlich auch als langfristiges Problem verstehen, sowohl als finanzökonomisches, vor allem aber als weltpolitisches Problem. Warum liefern wir nicht die bei Jim Baker noch fehlenden wesentlichen Elemente?
Das sind zwei Beispiele für Ansatzpunkte zum konkreten Handeln hier und heute. Der außenpolitische Kooperationsvertrag des Europäischen Rats kommt erst in Jahren, und der wird ganz gewiß weder für Seoul noch für Zentralamerika Rezepte liefern.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich am Schluß sagen: Wir Sozialdemokraten, und so auch ich, sind des deutschen Schicksals in der Zukunft unserer Nation wegen immer überzeugte Europäer gewesen, immer Freunde Amerikas,
immer auch — auf der Basis der eigenen Sicherheit — überzeugte Verfechter der Verständigung mit unserem mächtigen Nachbarn Sowjetunion.
Wenn heute, wie wohl meistens, meine Ausführungen zu Europa nicht so euphorisch geklungen haben, so bedenken Sie bitte, daß sich bei uns lebenslanger Idealismus mit nüchterner, pragmatischer, realistischer Vorstellung von dem, was heute machbar ist, verbindet. Ich selbst habe in der Politik Optimismus immer für fast ebenso gefährlich gehalten wie Pessimismus; und tatsächlich, die Pro-
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gnosen der Optimisten und die Prognosen der Pessimisten erweisen sich im Durchschnitt der politischen Lebenserfahrung in gleichem Maße als fehlerhaft und irreführend,
so bei der Wettervorhersage, so bei der Konjunkturprognose, so auch bei der Vorhersage von epochemachenden Wirkungen des Luxemburger Gipfels. Aber ich gebe durchaus zu: Im Durchschnitt leben die Optimisten glücklicher als die Pessimisten.
Manchmal sind Sie, Herr Bundeskanzler, allein Ihres Optimismus wegen glücklich.
Ich denke dabei ganz besonders an die Schlußpassage Ihrer Erklärung vorhin. Aber lassen Sie uns bitte dabei die Wirklichkeit nicht schöner malen, als sie ist. In der Wirklichkeit ist in all den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft eine gewisse Europamüdigkeit eingetreten; ein Effekt von zu vielen euphorischen Reden und Ankündigungen und zu vielen nachfolgenden Enttäuschungen.
Lassen Sie uns seltener große Ziele ankündigen, aber dafür häufiger, nein, immer das konkrete Machbare tatsächlich tun.
Auch wenn das Tun dann begrenzt bleibt, bringt es uns in seiner Summierung doch weitaus besser voran als verpuffende Euphorie.
Sie haben, Herr Bundeskanzler, am Schluß vom gemeinsamen europäischen Ziel der Demokraten gesprochen. Ich habe gemeint, daß sich das auch an uns richtet. Das war gut. Ich füge hinzu: Der Urgrund des westeuropäischen Zusammenschlusses liegt in der Vorgeschichte des letzten Weltkrieges, an den Sie erinnert haben. Er liegt auch in der präsenten Nähe des mächtigen kommunistischen Nachbarn. Er liegt im Willen, zu verhindern, daß sich je die Schrecken der Vergangenheit wiederholen. Er liegt auch im Willen zur Selbstbehauptung der Völker Europas. Ich stimme Ihnen zu: aller Völker Europas. Sie haben die im Osten ausdrücklich namentlich genannt, und auch ich schließe sie ein. Er liegt auch im Willen zur Selbstbehauptung aller Völker Europas gegenüber der immer noch steigenden militärischen und wirtschaftlichen und insgesamt politischen Macht der beiden Weltmächte.
Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, daß wir gelassene und respektierte Nachbarn der einen Weltmacht, Sowjetunion, bleiben und daß wir gegenüber der anderen Weltmacht, Amerika, Freunde, Verbündete, Weggenossen, Partner bleiben, daß wir Europäer aber nie auf den Status von Klienten, von Schutzbefohlenen absinken, sondern daß wir Partner bleiben!
Herzlichen Dank.