Rede von
Dr.
Hans-Jochen
Vogel
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine Fraktion hat die Aktuelle Stunde beantragt, weil sich möglicherweise bereits heute abend entscheidet, ob der soziale Friede in unserem Land gewahrt bleibt oder ob er an einem zentralen Punkt aufs Spiel gesetzt, nein, geradezu aufgekündigt wird.
Bei Ihren Gesprächen, Herr Kollege Blüm, geht es nämlich nicht um die Änderung irgendeines beliebigen Paragraphen, es geht vielmehr darum, daß das Kräfteverhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern massiv zuungunsten der Arbeitnehmer verschoben wird.
Denn genau das ist das Ziel derer, die immer ultimativer eine Änderung des geltenden Rechts verlangen.
Das geltende Recht hat sich bewährt. Das geltende Recht hat es den Gewerkschaften ermöglicht, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Es hat bewirkt, daß die Arbeitgeberverbände die Gewerkschaften bei den Tarifverhandlungen ernst nehmen. Es hat bewirkt, daß die Gewerkschaften immer wieder eine gerechte Beteiligung am Sozialprodukt, kürzere Arbeitszeiten und eine Vielzahl sozialer Verbesserungen durchsetzen konnten, und zwar für alle Arbeitnehmer, für die, die keiner Gewerkschaft angehören, ebenso wie für die, die Gewerkschaftsmitglieder sind.
Es geht, meine Damen und Herren, eben nicht um die Interessen einiger Funktionäre, es geht um die Interessen aller Arbeitnehmerinnen und aller Arbeitnehmer. Das ist das Thema.
Sie, die Sie diese Gesetzesänderung fordern, wollen die Arbeitnehmer schwächen. Sie wollen Arbeitnehmern, die an konkreten Arbeitskämpfen überhaupt nicht beteiligt sind, auf Grund von Entscheidungen, die allein die Unternehmensleitungen treffen, in viel weiterem Umfange als bisher den Lohn, das Kurzarbeitergeld und den Versicherungsschutz einschließlich der Krankenversicherung nehmen. Das ist das Ziel Ihrer Aktivität.
Sie erhoffen sich davon, daß sich diese Arbeitnehmer dann aus verständlicher Sorge um ihren Lebensunterhalt gegen gewerkschaftliche Forderungen wenden. Das heißt, Sie wollen die Solidarität der Arbeitnehmer aufbrechen, Sie wollen die Arbeitnehmer spalten. Sie nehmen einmal mehr Partei gegen die Schwächeren in unserem Lande. Das ist der Hintergrund.
Ich frage Sie, Herr Kollege Blüm: Warum tun Sie das eigentlich? Warum rütteln Sie an einem Tarifsystem, um das uns die ganze Welt beneidet? Wem, Herr Kollege Blüm, sind Sie eigentlich diese Beflissenheit in dieser Sache schuldig? Wer fordert diese Beflissenheit ein?
Der § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes, den Sie jetzt ändern wollen, gilt seit 1969. Alle Gerichte haben seine bisherige Auslegung bestätigt. Besonnene warnen Sie, daran etwas zu ändern. Herr Benda, der aus Ihren Reihen hervorgegangene langjährige Präsident des Bundesverfassungsgerichts und andere hohe Richter warnen Sie. Ihr Freund und Förderer Hans Katzer, Herr Kollege Blüm, warnt Sie öffentlich. Abgeordnete aus Ihrer eigenen Fraktion, die Kollegen Müller , Scharrenbroich und Link, erklären öffentlich, sie würden einer solchen Gesetzesänderung nicht zustimmen, sie würden die Zustimmung verweigern.
Ja, sogar Ihr Parteifreund Diepgen, Regierender
Bürgermeister von Berlin, erklärt öffentlich auf Betriebs- und Gewerkschaftsversammlungen, es gebe
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. Dezember 1985 13685
Dr. Vogel
keinerlei Notwendigkeit, § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes zu ändern.
Herr Kollege Blüm, diese Warnungen, den Widerstand der Gewerkschaften, auch unseren Widerstand, den Widerstand aus Ihren eigenen Reihen, können Sie ebensowenig mit ein paar Späßchen beiseite schieben wie Herr Kohl mit seiner oberflächlichen Optimismuskampagne die heute bekanntgewordenen Arbeitslosenzahlen, die erneut einen absoluten Höchststand seit der Währungsreform darstellen.
Herr Kollege Blüm, hier geht es um das Fundament unserer sozialen Ordnung. Deshalb fordere ich Sie als Bundesarbeitsminister ganz persönlich auf: Machen Sie sich nicht länger zum Handlanger derer, die das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen! Nehmen Sie die Androhung der Gesetzesänderung vom Tisch! Wenn Sie aber auf diesem Gebiet weiterhin Wind säen, dann werden Sie Sturm ernten.