Rede von
Gerhart Rudolf
Baum
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war wichtig, daß heute der Bundeskanzler mit der Autorität seines Amtes für die Bundesregierung klar ausgesprochen hat, was gewesen ist, nämlich Völkermord. Es war wichtig, daß er sich für die Gleichbehandlung und gegen jede Diskriminierung eingesetzt hat. Es war auch wichtig, daß der Führer der Opposition, Herr Vogel, die Gemeinsamkeit in diesem Hause bekundet hat. Ich hoffe, daß es uns gelingt, in dieser wichtigen Frage auch zu einer gemeinsamen Entschließung zu kommen.
Den Sinti und Roma ist in der Nazidiktatur schweres Unrecht zugefügt worden, das als Völkermord anzusehen ist. Sinti und Roma sind Opfer von rassisch begründeter Verfolgung und von Mord geworden. Diese Tatsache ist spät, viel zu spät ins öffentliche Bewußtsein gerückt worden und noch heute vielen Bürgern unseres Landes gar nicht genau bewußt. Aber nach alledem, was in deutschem Namen an schrecklichem Unrecht geschehen ist, können wir uns Gedankenlosigkeit und Gleichgültigkeit nicht leisten.
Die heutige Debatte leistet einen wichtigen Beitrag dazu, an die Leidensgeschichte der Sinti und Roma zu erinnern und das Verständnis für sie zu verbessern.
Es gilt, was der Bundespräsident am 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag im Zusammenhang mit der Vernichtung der jüdischen Mitbürger gesagt hat. Er hat gesagt:
Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder
jung, müssen die Vergangenheit annehmen.
Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen.
Damit, meine Kolleginnen und Kollegen, tun wir uns mitunter sehr schwer. Das zeigt zur Zeit die aufwühlende Diskussion um das Faßbinder-Stück in Frankfurt. Ich erwähne das hier, weil es einen unmittelbaren Zusammenhang mit unserem heutigen Thema hat.
Legt uns nicht unsere besondere Betroffenheit für die Folgen, legt uns nicht unsere Haftung, von der der Bundespräsident spricht, die Pflicht auf, alles zu vermeiden, bei denen, die Opfer des Völkermordes waren, die Furcht vor erneuter Ausgrenzung zu wecken?
Ich lehne Zensur strikt ab, aber ich sage denen, die dort für die Aufführung des Stückes eintreten: Unsere Vergangenheit verpflichtet uns zu behutsamem Umgang mit denen, die Opfer waren. Nicht alles, was erlaubt ist, sollte auch geschehen.
Ein Rechtsstaat, eine Demokratie werden daran gemessen, wie sie mit Minderheiten umgehen,
wie sie sie ertragen, wie sie sie respektieren. Wir sollten uns auf unsere Verfassung besinnen:
Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.
Seit vielen hundert Jahren leben Sinti und Roma als ethnische Minderheit mit eigener Sprache und Kultur in Deutschland; aber noch immer begegnen sie Vorurteilen und Benachteiligungen in unserer Gesellschaft. Es ist unsere demokratische Pflicht, mit allen Mitteln dagegen vorzugehen.
Die Überlebenden haben Anspruch darauf, daß materielle Schäden ausgeglichen werden. Das ist mit dem Bundesentschädigungsgesetz auch im Hinblick auf die Sinti und Roma geschehen. Wir fordern die Bundesregierung auf, einen Bericht über die Praxis der Härteregelung von 1981 zu geben. Wir möchten wissen, wie der Wiedergutmachungsdispositionsfonds funktioniert und ob hier nicht im Interesse der Betroffenen eine erleichterte Härteregelung — sie bedarf keiner Gesetzesänderung — Platz greifen kann.
Wichtig sind alle Bemühungen zur Stärkung der kulturellen und sozialen Identität der Roma und Sinti. Das Schicksal der Sinti und Roma während der NS-Diktatur sollte noch umfassender als bisher erforscht werden. In dem geplanten „Haus der Geschichte" sollte das Schicksal der Sinti und Roma während der Nazizeit dargestellt werden. Wir fordern die Bundesregierung auf, daran mitzuwirken, das kulturelle Erbe der Sinti und Roma zu erhalten
12814 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. November 1985
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und zu fördern, auch im Hinblick auf die Errichtung eines Kultur- und Dokumentationszentrums. Wir erwarten, daß dazu umgehend Gespräche mit den Ländern aufgenommen werden.
Wir begrüßen die Bereitschaft der Bundesregierung, finanzielle Mittel zur Förderung von Selbsthilfe, Selbstdarstellung und Selbstorganisation der Sinti und Roma bereitzustellen. Wir unterstützen die Initiative des Deutschen Städtetages aus dem Jahre 1984 und die Initiative des Landes Niedersachsen zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes.
Wir wissen, auch heute begegnen die fünfzigtausend Menschen, über die wir reden, in der Bundesrepublik Deutschland vielen Vorurteilen und manchen Benachteiligungen. Wir appellieren an unsere Mitbürger, an die staatlichen Stellen in Bund, Ländern und Gemeinden, jegliche Diskriminierung zu unterlassen und für die Gleichbehandlung dieser Menschen einzutreten. Auch in den Gesetzen und im staatlichen Verwaltungshandeln darf Diskriminierung nicht zugelassen werden. Wir begrüßen die Absicht der Bundesregierung, das Ausländerrecht entsprechend zu ändern wie auch in den polizeilichen Informationssystemen Diskriminierung nicht mehr zuzulasen.
Meine Damen und Herren, der Umgang mit Minderheiten ist ein Prüfstein für die Reife unserer Demokratie und für unsere politische Kultur.