Rede von
Hermann
Kroll-Schlüter
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung — und, ich darf hinzufügen, Gerechtigkeit.
Zur Erinnerung: Die Sinti und Roma sind nicht erst seit gestern, seit einigen Jahren deutsche Bürger, sondern seit Jahrzehnten und Jahrhunderten. Schon zu Beginn des 15. Jahrhunderts wanderten aus Indien über die Türkei und Griechenland diese Menschen ins deutschsprachige Mitteleuropa. Die Roma kamen größtenteils vor 100 bis 150 Jahren aus dem ungarischen Raum hierher und in den 50er Jahren aus dem Osten unseres Vaterlandes und aus Polen
Die Leidensgeschichte von Sinti und Roma ist lang. Auf dem Reichstag von Landau zu Verrätern erklärt, konnten sie Ende des 15. Jahrhunderts als Freiwild gejagt und getötet werden. Der Versuch Friedrichs des Großen, die Sinti und Roma einzugliedern und seßhaft zu machen, scheiterte. In den folgenden Jahrzehnten sind Sinti und Roma zwar nicht mehr völlig rechtlos, aber doch weiterhin besonderen Schikanen ausgesetzt. Während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gab es die Nürnberger Gesetze, die Erfassung und Untersuchung durch die rassenhygienischen Forschungsstellen des Reichsgesundheitsamts, Beginn der Deportation nach Polen, Auschwitz-Erlaß und dessen Ausführungsbestimmungen. Sinti und Roma wur-
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. November 1985 12811
Kroll-Schlüter
den in Buchenwald, Auschwitz, Kulmhof, Bergen-Belsen und Ravensbrück gefoltert und gemordet. Angesichts des grenzenlosen Leides und der grenzenlosen Qualen. denen diese Menschen ausgesetzt waren, müssen Diskussionen hinsichtlich der Zahl der Opfer verstummen. Hierzu hat die Bundesregierung im Dezember 1982 ausgeführt:
Den Sinti und Roma ist durch die NS-Diktatur schweres Unrecht zugefügt worden. Sie wurden aus rassischen Gründen verfolgt und viele von ihnen ermordet. Diese Verbrechen sind als Völkermord anzusehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der heutigen Debatte diskutieren wir die Große Anfrage zur Lage der Sinti und Roma und bekräftigen — wie die Bundesregierung — eine besondere Haltung. Bewußt und zu Recht hat der Bundespräsident die Sinti und Roma in seiner Rede zum 8. Mai gewürdigt und in sein Gedenken eingeschlossen. Angesichts des „Gebirges menschlichen Leides", wie er es nannte, das der Nationalsozialismus hinterlassen hat, muß der Satz „Die Zeit heilt alle Wunden" fragwürdig erscheinen. Zumindest was das individuelle Schicksal betrifft, wird es wohl Wunden geben, die niemals ganz verheilen können. Wir leben jedoch in der Hoffnung, daß die nachgeborenen und zukünftigen Generationen die offenen Wunden ihrer Geschichte schließen können; die verbleibenden Narben werden uns wohl immer begleiten. Wir können vergangenes Unrecht nicht ungeschehenen machen, aber wir können versuchen, in redlicher Weise zur Versöhnung beizutragen.
Freilich, Worte füllen den Kopf, vielleicht auch das Herz; daneben waren und sind aber finanzielle Entschädigungen nötig. Die von den Nationalsozialisten aus rassischen Gründen verfolgten Sinti und Roma konnten und können — ebenso wie andere verfolgte Gruppen — die ihnen nach dem Bundesentschädigungsgesetz zustehenden Entschädigungsleistungen erhalten. In Ergänzung hierzu haben die damals drei Fraktionen des Bundestages bestimmte Maßnahmen in der sogenannten Härteregelung beschlossen; diese ist 1981 verabschiedet worden.
Jetzt begrüßen wir in besonderer Weise eine Fortführung. Wir begrüßen die vom Land Niedersachsen im Oktober dieses Jahres im Bundesrat beschlossene Initiative zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes mit dem Ziel der Gleichbehandlung der durch den Nationalsozialismus Verfolgten mit den Kriegsopfern. Das ist eine gute Initiative, nach der Renten nach dem Bundesentschädigungsgesetz zukünftig teilweise nicht mehr auf die Sozialhilfe angerechnet werden.
Ungeachtet der finanziellen Regelungen und der Anerkennung des NS-Völkermordes an Sinti und Roma müssen wir uns unvoreingenommen fragen, ob die Diskriminierung dieser Menschen in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945 beseitigt ist. Richtig ist, so glauben wir, daß von einer generellen Diskriminierung von Sinti und Roma nicht gesprochen werden kann. Es hieße jedoch die Augen vor der Realität verschließen, wenn wir vorurteilsgesteuerte Handlungen beim Umgang mit Sinti und
Roma bei deutschen Mitbürgern und Behörden einfach leugnen würden. Hier ist noch einiges verbesserungsfähig. Wir wollen uns da anstrengen.
Wir begrüßen in diesem Zusammenhang die Klarstellung der Bundesregierung, daß Sinti und Roma im Informationssystem INPOL nicht gesondert erfaßt werden und die Länder — entsprechend dem anliegen des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma — den Zusatz ZN, also Zigeunername, gestrichen haben. Durch mehr Toleranz, durch Mehr-aufeinander-Zugehen und vor allem durch den Willen, sich gegenseitig zu verstehen, müssen, wollen und können wir zu einer weiterreichenden, gleichberechtigten Teilnahme der Sinti und Roma am gesellschaftlichen, politischen und auch am wirtschaftlichen Wohlstand beitragen.
In diesem Sinne begrüßen wir es auch, daß in dem geplanten „Haus der Geschichte" in der vorgesehenen Ausstellung „Last der Vergangenheit" die Verfolgung dargestellt werden soll.
Darüber hinaus fordern wir, bitten wir die Bundesregierung, zu prüfen, ob weitere Maßnahmen ergriffen werden können, die dazu beitragen, daß auch vereinzelte Fälle von Diskriminierung in Zukunft unterbleiben, die Bevölkerung über die Herkunft und Lebensweise der Sinti und Roma noch umfassender informiert wird, das kulturelle Erbe der Sinti und Roma erhalten bleibt, die Lebenssituation dieser Menschen in bezug auf die Bereitstellung von Wohnungen, Ausbildung, Berufsberatung und Berufsausbildung sowie die Gesundheits- und Sozialfürsorge verbessert werden können.
Unter uns leben 30 000 Sinti und etwa 10 000 Roma. Sie sind mit ihrer Kultur seit langer Zeit ein Teil Deutschlands. Die Bundesregierung hat bereits durch die Bereitstellung finanzieller Mittel die Selbsthilfe, Selbstdarstellung und Selbstorganisation gefördert, z. B. beim Aufbau der Geschäftsstelle, der sozialen Beratungsstellen.
Aufarbeitung und Abbau der Vorurteile kann jedoch nicht nur Aufgabe der Parteien, der Fraktionen sein, es ist eine Aufgabe aller Bürger. Nur allzuoft war es Unkenntnis über die Fremden, den anderen, die zu einer ungerechten Behandlung und gegenseitigen Abschottung geführt hat. Versuchen wir, Unbekanntes in Bekanntes zu wandeln! Helfen wir, wirkliche Begegnung herzustellen! Lernen wir, miteinander zu leben, nicht gegeneinander!
Herzlichen Dank.