Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf der Rentenanpassung stellen Sie sich wieder einmal das Zeugnis einer unausgewogenen und unsoliden Politik aus, obwohl doch Ihr Noch-Regierungsmitglied Dr. Geißler am Dienstag im Deutschlandfunk sagte, daß Sie als Volkspartei CDU eine Politik für alle Bürger machen müßten. Nun frage ich mich: Wie sieht denn diese Politik für alle Bürger aus? Für große und breite Massen eine schlechte und für eine kleine Minderheit dieser Gesellschaft eine außerordentlich gute Politik.
Im Grunde genommen findet sich das auch im Prinzip Ihrer Regierungspolitik wieder, und zwar auch in dem jetzigen Gesetzentwurf. Weil hier soviel von den aufgerissenen Löchern gesprochen wird, Herr Minister, sage ich: Das Stopfen und Flicken selbst aufgerissener Löcher ist die Folge Ihrer sozialen Kürzungspolitik, ist die Folge einer schon fast leichtfertigen Aufforderung zu Lohnpausen, ist die Folge einer Aufforderung für die Zukunft, Tariflöhne zu unterschreiten, ist die Folge zu erwartender Arbeitszeitverkürzungen, die Sie ohne Lohnausgleich wollen.
Herr Mischnick, eine Senkung der Vermögensteuer ist für mich schlimmer als eine Anpassung der Rente um 9%.
Allein die Kürzungen in der Rentenpolitik belaufen sich nach wissenschaftlichen Untersuchungen auf 5 Milliarden DM. Daß hier Kaufkraft ausfällt,
welche wiederum, Herr Kolb, zu weiterer Arbeitslosigkeit führt, kommt Ihnen überhaupt nicht in den Sinn.
Daß das weiter zur Arbeitslosigkeit führt und es damit zu weiteren Rentendefiziten und damit zu neuen Löchern kommt, ist Folge Ihrer Politik. Begreifen Sie das doch mal endlich!
Der Teufelskreis wird von Ihnen aufgemacht, und Sie selbst haben durch die Kürzungen mitverursacht, daß es zum Rentendefizit in dieser Höhe gekommen ist, und Sie werden weiter dafür sorgen, daß es bis zum Ende des Jahres noch zum Rentendefizit in Höhe von 3 bis 5 Milliarden DM kommen wird.
Aber was noch schlimmer ist: Um das alles runterzuspielen, versuchen Sie nun, um die Wogen zu glätten, die Arbeitnehmer gegen die Rentner auszuspielen.
Aussagen wie „die Belastungen sind zu hoch", obwohl Sie selbst zur Zeit die Beitragssätze weiter erhöhen müssen, machen das deutlich.
Sie schüren ein Feuer, das zur Entsolidarisierung der Gruppen innerhalb dieser Gesellschaft führt, und ich sage dazu: Das wollen Sie.
Bei Licht betrachtet, meine Damen und Herren, geht der verheißende Aufschwung sowohl an großen Teilen der Arbeitnehmer als auch den Rentnern vorbei. Der „Spiegel" stellte am 15. April 1985 fest — ich zitiere —:
Die Wende im Verteilungskampf ist längst vollzogen. 1982 gingen die Gewinne um 13,3% nach oben, 1983 setzten die Firmen ein Plus von 43% drauf, und 1984 waren es noch einmal 17 %.
Das heißt doch, daß die Arbeitnehmer, daß die Rentner immer mehr, stärker als je zuvor, in eine Negativbilanz rutschen. Ich zitiere hier den Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Johannes Rau, der sagt: „Ein Aufschwung, der nur der Dividenden wegen vorgenommen wird, kann uns gestohlen bleiben, wenn dieser Aufschwung an den Arbeitnehmern und an den Rentnern dieser Gesellschaft vorbeigeht".
Ihre Regierungszeit von nur zwei Jahren hat einen Reallohnverlust in nie gekanntem Maße für die Rentner gebracht, trotz des von Ihnen verheißenen Aufschwungs. Kommen Sie mir nicht immer wieder mit dem Argument, aber die Preise seien stabil geblieben! Das Absinken der Lohnquote oder des Bruttoeinkommens aus unselbständiger Arbeit hat Ende 1980 einen Anteil von 74,7 % am Volkseinkommen gehabt. Bis Ende vorigen Jahres sank diese Zahl auf 69,9 % ab. Das gleicht auch die von Ihnen so viel beschworene Preisstabilität in den letzten zwei Jahren nicht mehr aus.
Die Wählerinnen und Wähler aus kleinen und mittleren Schichten spüren tagtäglich an ihrem Geldbeutel, wie Ihre Politik aussieht.
Manchmal frage ich mich, ob Sie überhaupt noch die Beurteilungskraft für die finanzielle Situation der kleinen und mittleren Einkommen in dieser Bundesrepublik haben.
Herr Minister Blüm, Sie reden so gerne von den hochdotierten Rentnern — Sie haben es eben wieder getan — und von den vielen Mehrfacheinkommen der Rentner in der Familie.
Sie tun so, als hätten die Rentner keine anderen Sorgen, als die luxuriösen Wünsche ihrer Enkel zu finanzieren. Wie die Wirklichkeit für viele Rentner aussieht, konnte ich zumindest aus einem Fernsehbericht entnehmen, wo es hieß: „Rentner essen
9914 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 133. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. April 1985
Reimann
Kitekat" oder „Rentner kochen sich einen Topf Suppe für die ganze Woche, weil ihr Geld zu mehr nicht reicht".
— Ich weiß, daß Ihnen das nicht paßt, meine Herren.
Ein Blick in die Statistiken zeigt — jetzt passen Sie einmal gut auf —, daß nach 35 Versicherungsjahren die Durchschnittsrente der Arbeiter 1174 DM beträgt. Wenn eine Witwe davon 60 % bekommt, sind das sage und schreibe 704 DM Rente. Nun frage ich mich: Fällt denn, wenn der Partner stirbt, automatisch auch die Hälfte der Unkosten für die zurückgebliebene Rentnerin weg? Mit Sicherheit nicht.
Herr Blüm, man kann nicht davon reden, daß die Renten dazu da sind, Omas oder Opas in der Gesellschaft reich zu machen. Denn fast 80 % aller Arbeitnehmerrenten von Frauen liegen unter 700 DM. Jetzt sagen sie bitte nicht, daß uns nur eine Differenz von 0,3 Prozentpunkten trennt. Millionen von Menschen in dieser Gesellschaft sind auf jeden Pfennig angewiesen. Deshalb kämpfen wir so für diese Rentenangleichung
um einen höheren Prozentsatz, als Sie ihn vorgenommen haben.
Wenn Sie weiter von den Rentnern Sparopfer verlangen, ist das ein Hohn für diese Gesellschaft durch Sie.
Ihre Politik macht die Reichen in diesem Land reicher und die Armen ärmer.
Es ist so, wie es der große Philosoph Bloch formuliert hat: Weil das Geld für alle nicht ausreicht, müssen die Armen aushelfen. So sieht Ihre Rentenpolitik in dieser Gesellschaft aus, meine Damen und meine Herren.
Ihre ständigen Diskussionen um die Rente und Ihr ungenügendes Handeln schüren auch die Angst bei jüngeren Menschen.
In der Tat: Wenn Sie noch lange weiterregieren würden, wäre die Frage berechtigt, wie in zehn oder zwanzig Jahren die Rente aussieht. Wenn Sie immer davon tönen, daß die Rente in dieser Gesellschaft sicher sei, dann kann man natürlich sagen: Das ist richtig. Aber in welcher Höhe? Die Rente
wird immer niedriger. Somit kommen immer mehr Rentner in die Sozialhilfe.
Damit schaffen Sie eine neue Verelendung. Damit schaffen Sie eine neue Armut in dieser Gesellschaft. Aber das ist die Wende. Das haben Sie gewollt. Diese Wende haben Sie gewollt.
Wenn hier soviel vom Zuschuß gesprochen wird, den die Bundesregierung jetzt eingebracht hat, dann will ich Ihnen in Erinnerung rufen, daß sich der Herr Stoltenberg als Finanzminister sehr wohl bei dem Zuschuß, den er jetzt zu erbringen hat, schadlos halten wird. Ich befürchte, daß weitere und neue soziale Kürzungen von Ihnen in dieser Gesellschaft schon in Vorbereitung sind und daß wir sie in den nächsten Monaten und Jahren zu erwarten haben.
Der Herr Bangemann, der j a hier so oft zitiert wird, hat zwar seinen Vorschlag zur Grundrente zurückgenommen, aber er hat viel Schaden angerichtet. Ich sage es jetzt einmal ketzerisch und provokativ: Manchmal kommt mir der Herr Wirtschaftsminister vor, als sei er der teuerste Auszubildende der Bundesrepublik.
Ich frage mich, wie Sie mit diesen Fragen fertig werden wollen, da Sie im Rahmen Ihrer Kürzungspolitik auch für die kommende Zeit einen Verschiebebahnhof vorprogrammiert haben. Ich sage Ihnen: Es wäre gut für Sie, wenn Sie die Vorschläge unserer Partei annehmen würden.
Es wäre gut für Sie, wenn Sie unsere Vorschläge zur Konsolidierung der Rentenfinanzen übernehmen würden. Es ist wenige Minuten vor zwölf —, bei mir auch, denn meine Redezeit läuft ab.
— Das freut Sie, denn es tut ja weh, wenn Sie sich anhören müssen, was ich Ihnen sage.
Ich sage Ihnen: Wenn der Sachverstand, den Sie und Ihre Regierung haben, nicht ausreicht, um die Rentenproblematik zu lösen, dann nehmen Sie unseren Sachverstand in Anspruch,
denn wir werden Ihnen beweisen, daß wir in der Lage sind, trotz schwieriger wirtschaftlicher Bedingungen die sozialen Probleme dieser Gesellschaft zu lösen.
— Nachdem Sie sich hier durch Zwischenrufe und
Proteste voll ausgetobt haben, empfehle ich Ihnen,
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 133. Sitzung. Bonn. Freitag, den 19. April 1985 9915
Reimann
gegen Ihren Gesetzesvorschlag zu stimmen und unsere Vorlagen anzunehmen.