Rede von
Jürgen
Vahlberg
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Lenzer, Sie haben Unverständnis über unseren Alleingang geäußert. Nun, uns kam es darauf an, im Einstieg in diese Enquete-Kommission die Problemfelder etwas differenzierter aufzureißen, als dies in Ihrem Antrag der Fall ist. Wir fühlen uns in unserem Bemühen nachträglich auch bestätigt, wenn wir feststellen, daß Sie gemeinsam mit den GRÜNEN — eine etwas eigenartige Koalition — in Ihrem Antrag z. B. das Wort „Arbeitsbedingungen" im dritten Spiegelstrich herausgestrichen haben.
— Natürlich, lesen Sie es nach, es ist herausgestrichen worden.
Wir wollten das Problemfeld schon in dem Antrag etwas differenzierter angehen. Nach einem zugegebenermaßen langen Diskussionsprozeß sind wir jetzt so weit, daß wir eine Enquete-Kommission haben werden, daß wir uns mit den Auswirkungen der neuen Technologien beschäftigen wollen.
— Wir haben ihn nicht verzögert, sondern wir sind der Meinung, daß man sorgfältig an eine solche Sache herangehen muß.
In der Tat ist es so, daß die technische Zivilisation in einer Krise ist. Die Werte der Industriegesellschaft sind entzaubert. Wir stellen eine zunehmende Selbstzerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen fest mit wachsenden psychischen, sozialen und ökologischen Kosten auf der einen Seite und einem abnehmenden Nutzen auf der anderen Seite, ausgedrückt in immer mehr mehr oder weniger sinnvollen Gütern. Die fast euphorische Hochschätzung technischer Möglichkeiten ist heute nicht mehr feststellbar. 1980 glaubten nur noch 33% der Menschen in der Bundesrepublik, daß der technische Fortschritt die Menschen freier mache. 56 % vertraten dagegen die Ansicht, der technische Fortschritt führe zu mehr Unfreiheit. Dabei kritisieren wir nicht, wie es bei den Fundamentalisten innerhalb der GRÜNEN zu hören ist, die Industriegesellschaft schlechthin. Es wäre nach unserer Auffassung ein verhängnisvoller Irrtum, die Industriegesellschaft als neuzeitliche Fehlentwicklung zu beklagen und den Ausstieg aus ihr zu propagieren.
Die industrielle Produktion hat ermöglicht, daß immer mehr Menschen in ihrer Existenz gesichert sind. Wohlstand und soziale Sicherheit auch Befreiung von Abhängigkeit, all dies ist eine Frucht der industriellen Entwicklung.
Sozialdemokraten können dies jedenfalls nicht vergessen.
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1984 8055
Vahlberg
— Das sehen Sie auch so. Gott sei Dank.
Aber die Angst, die sich in bezug auf die neuen Techniken breitmacht, ist real. Sie ist nicht nur eingebildet, wie vielfach behauptet wird. Es ist nicht nur Technikfeindlichkeit, wenn die Bürger den neuen Technologien auch kritisch begegnen. Die Angst ist begründet. Dabei diskutieren wir im Moment erst wenige Probleme, die auf uns zukommen werden. Es gibt Problemfelder, die überhaupt nicht in der öffentlichen Diskussion, sondern bisher vielleicht nur von Experten angerissen worden sind. Ich streife z. B. das, was unter dem Stichwort „fünfte Computergeneration" auf uns zukommt: künstliche Intelligenz, lernende Systeme, Expertensysteme, in denen das Fachwissen ganzer Teilbereiche zu 100% gespeichert ist. Das wirft die Frage auf, inwieweit wir von solchen Computersystemen abhängig werden. Diese Frage wurde leider immer leichthin verneint. Es wird behauptet: Der Mensch, der die Technik geschaffen hat, bleibt auch Herr dieser Technik.
— Er stellt die Fragen. Aber versetzen Sie sich einmal, Herr Lenzer, in die Situation eines Arztes, der ein Diagnosesystem befragt, nachdem er bestimmte Krankheitssymptome festgestellt hat, der dann darauf eine Antwort bekommt, was das für eine Krankheit ist und wie er sie therapieren soll. Der Computer kann dies schon heute perfekter als der Arzt. Die Situation wird zukünftig so sein, daß ein Mensch nicht mehr in der Lage ist, sich gegen die Entscheidung eines Computers zu stellen, weil er weiß, daß seine Datenbasis, seine Informationen nicht so perfekt wie die des Computersystems sind.
Stellen Sie sich Simulationsmodelle der Zukunft vor. Wir können das heute schon feststellen, wenn wir den Rüstungsbereich anschauen. Stellen Sie sich Simulationsmodelle vor, bei denen der, der in einer aktuellen Situation entscheiden soll, nicht mehr in der Lage ist, festzustellen: Was für Daten sind mit eingegangen, welche Kriterien sind zugrunde gelegt worden, als man dieses System konzipiert hat? Das heißt, wir müssen uns mit der Frage beschäftigen: Inwieweit gerät der Mensch in Abhängigkeit von solchen Systemen? Die Machtfrage stellt sich: Wer hat solche Systeme konzipiert? Wer darf eingeben? Wer hat Zugriff auf solche Systeme? Entwickeln sich neue Eliten mit unkontrolliertem Herrschaftswissen? Werden wir damit umgehen können, wenn es neben den Realitäten und Wirklichkeiten, die wir kennen — ob es sich nun um Menschen oder um Prozesse oder um Ereignisse handelt —, jeweils eine datenmäßige Abbildung, einen Datenschatten gibt? Werden wir mit solchen synthetischen Welten fertig werden können? Diese Frage stellt sich jedenfalls. Es sind Ersatzwelten, die gleichsam einen Schutzwall gegenüber der realen Welt schaffen, simulierte Welten, die uns möglicherweise in unserer Fähigkeit bedrohen, mit
den realen Problemen in einer realen Welt fertig zu werden.
Das Problem, vor dem wir stehen, ist doch folgendes: Wir stellen auf der einen Seite eine rasante Entwicklung der Technologien fest. Der Mensch aber hat sich in seinen psychischen, anthropologischen Strukturen seit Tausenden von Jahren nicht verändert; er ist konstant geblieben. Unser soziales und kulturelles Wertesystem ändert sich nur ganz, ganz langsam. Mit den Möglichkeiten, etwa mit der Gentechnologie umzugehen, können wir in unserem Wertesystem jetzt nicht klarkommen. Wir müssen es verändern. Das geht nur ganz, ganz langsam. Die Lücke wird immer größer. Es besteht die Gefahr, da wir mit unserem Wertesystem 'die Technologie in ihren Auswirkungen nicht mehr voll erfassen können, daß nach technischer Rationalität entschieden wird. Das können wir heute schon feststellen, Herr Lenzer. Ich komme hier auf mein Lieblingsthema, den computerlesbaren Personalausweis, der deshalb her muß, weil die Technologie da ist. Es wird gar nicht mehr danach gefragt, inwieweit das zu unserer Lebenswirklichkeit paßt und einen Sinn macht.
Es stellt sich eine weitere Frage: inwieweit wir heute im Gegensatz zu früher auf der politischen Ebene das Heft noch in der Hand haben. Es wird ja davon gesprochen, diese neuen Technologien seien eine Infrastruktur für unsere Wirtschaft. Als es früher darum ging, ein Schienensystem zu entwickeln, ein Straßensystem zu entwickeln, Kanalisation zu bauen, hat noch auf der politischen Ebene die Entscheidung stattgefunden. Das ist heute nicht mehr der Fall. Die neuen Technologien umstellen uns, ohne daß wir jemals dazu einen Beschluß gefaßt hätten. Wir stehen z. B. — das sehen Sie wahrscheinlich anders — der Arbeitslosigkeit tatenlos gegenüber. Wenn ich „wir" sage, dann schaue ich mehr auf die rechte Seite dieses Hauses, weniger auf die linke Seite. Wir hatten j a heute morgen dazu eine Debatte.
— Keine Proteste! Das sehe ich nun einmal so. Das können Sie mir nicht absprechen.
Ich sage Ihnen, warum: weil Sie sich mit den quantitativen und qualitativen Folgen der neuen Technologien nicht ernsthaft auseinandersetzen, weil Sie von dem Gestaltungsspielraum, wie groß er auch immer sein mag, nicht Gebrauch machen oder nicht Gebrauch machen wollen.
— Das ist keine persönliche Einschätzung; sie wird von vielen hier im Raume geteilt. Da bin ich ziemlich sicher.
Ich habe vom Gestaltungsspielraum gesprochen. Wir wissen, daß diese neuen Technologien ein Doppelgesicht haben. Sie lassen sich zum Nutzen des
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Vahlberg
Menschen einsetzen, sie können aber auch schweren Schaden verursachen. Wenn ich mir z. B. den Einfluß auf die Arbeitsplatzgestaltung, Tätigkeitsmerkmale und Arbeitsorganisationen anschaue — das sind ja alles Dinge, die Sie jetzt in Ihrem Antrag überhaupt nicht ansprechen wollten, so gibt es einerseits die Möglichkeit, auf Grund der Erfassung und der Vernetzung gewaltiger Informationsmengen menschliche Arbeit noch stärker zu kontrollieren, zu hierarchisieren, zu zentralisieren, also noch weiter zu entfremden. Auf der anderen Seite gibt es die Möglichkeiten, Arbeit wieder mit zusätzlichen Inhalten auszufüllen, Entscheidungsfreiheiten und Kompetenzen nach unten zu verlagern. — Ich bekomme hier ein Zeichen, und deshalb beende ich meine Ausführungen.
Es kommt darauf an, daß Technologien so eingesetzt werden, daß Energie und Rohstoffe geschont, daß soziale, beschäftigungspolitische wie ökologische Folgen berücksichtigt werden.