Rede von
Gabriele
Potthast
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (GRÜNE)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich zitiere:
Ein Programm, das die sozialen Fragen ausschließlich über Wirtschaftswachstum lösen wollte, wäre das Programm eines blanken Materialismus, deshalb ein unmenschliches, unsoziales Programm. Der Mensch muß wachsen, und das Bruttosozialprodukt ist dazu kein hinlänglicher Maßstab.
Diese Sätze stammen einmal nicht aus den Reihen der GRÜNEN, sondern von dem „Prachtstück" unserer Regierung, dem Bundesarbeitsminister höchstpersönlich.
Wenn wir uns allerdings die Realitäten ansehen, dann spricht aus diesen soeben zitierten Sätzen blanker Hohn, denn wie heißt es doch so schön in der Bibel: An ihren Taten sollt ihr sie erkennen!
Diese Taten umfassen auf der einen Seite Steuerentlastungsgesetze für die Unternehmer und auf der anderen Seite Sozialabbaumaßnahmen zu Lasten all derjenigen, denen eine entsprechende Lobby im Parlament fehlt und die ohnehin schon zu den sozial schwach Gestellten in diesem Staate gehören. Denn die durch Ihre Steuerentlastungsgesetze verminderten Steuereinnahmen in Milliardenhöhe, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, werden durch eine Art Sozialabbauextremismus, der seinesgleichen sucht, wieder hereingeholt.
Und das alles wegen der vagen Hoffnung, daß die Unternehmer das gesparte Kapital wieder in die Betriebe investieren, um so angeblich notwendige Rationalisierungsmaßnahmen finanzieren zu können, die die BRD
auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig halten sollen. Diese Hoffnung entbehrt jeglicher Grundlage, wie mein Kollege Stratmann heute morgen schon überzeugend dargestellt hat.
Als Kerze vor Weihnachten bieten Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU/FDP-
Koalition, den Arbeitnehmern das Vermögensbildungsgesetz an. Holde Worte klingen aus dem Mund des „Prachtstücks" der Regierung: Bürgereigentum höre ich da. Herr Blüm, warum verschweigen Sie, daß diese Vermögensbeteiligung nicht an mehr Mitsprache- und Mitbestimmungsrechte geknüpft ist? Warum, verschweigen Sie, daß der groteske Fall eintreten kann, daß ein Arbeitnehmer dem Unternehmer billiges Geld zur Verfügung stellt, das dieser für Rationalisierungsmaßnahmen verwenden kann, ohne daß der Arbeitnehmer auch nur ein Vetorecht hätte?
Das heißt: Ein Arbeitnehmer kann unter Umständen in die Vernichtung seines eigenen Arbeitsplatzes investieren — ein völlig absurder Zustand.
Absurd und unerträglich ist es auch, wenn über 1 Million Frauen Renten unter dem Sozialhilfesatz beziehen. Dabei handelt es sich um Frauen, die ihr Leben lang unbezahlte oder unterbezahlte Schwerstarbeit geleistet haben, die in diesem Staate die schlechtesten Ausbildungsplätze, die niedrigsten Löhne und die niedrigsten Renten erhalten. Ich frage mich manchmal, was für einen Arbeitsbegriff Sie haben — Sie, Herr Blüm, und Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/ CSU. Denn wenn ich so höre, was über die Rente gesagt wird — ich zitiere wieder einmal dieses „Prachtstück" der Regierung: „Rente ist ein Verdienst für Lebensarbeit und keine staatliche Zuteilung" —,
dann kann ich mich nur fragen, wie Sie die Lebensarbeit von Frauen bewerten, die nicht erwerbstätig sind, dafür aber zu viel an Arbeit haben.
Zuviel an unbezahlter Arbeit, ohne die dieses System überhaupt nicht funktionieren würde.
Es ist unseres Erachtens weiterhin ein unerträglicher Skandal,
wenn die Zahl derjenigen Frauen, die in die soziale Armut gedrängt werden, durch die Haushaltspläne der Regierung, z. B. durch die Einschränkungen bei der Erwerbsunfähigkeits- und Berufsunfähigkeitsrente, noch zu steigen droht,
wenn Rentenbezieher mit Kindern durch die Streichung des Kinderzuschusses in die Sozialhilfe gezwungen werden und
wenn überhaupt die Sozialhilfe schon längst nicht mehr ihrem gesetzlich fixierten Auftrag, nämlich ein menschenwürdiges Leben und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu sichern, nachkommen kann, weil die Regelsätze nach Auffassung eines Großteils der Experten schon über 30 % unter den tatsächlichen Aufwendungen liegen, oder
wenn die Bundesregierung die Rentenversicherung auch weiterhin nur als Manövriermasse zur Liquiditätssicherung für den Bundeshaushalt mißbraucht und sich weigert, dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN im Bundestag auf Erhöhung des
3176 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1983
Frau Potthast
Bundeszuschusses an die Rentenversicherung um 19 Milliarden DM zuzustimmen. Dabei handelt es sich hierbei um Gelder, die den Rentnerinnen und Rentnern zustehen.
Wenn Sie schon Staatsschulden abbauen wollen, warum fangen Sie dann nicht z. B. mit Maßnahmen an, die die finanziell besser Gestellten in diesem Lande treffen, warum fangen Sie nicht mit der Streichung des Bauherrenmodells an oder des Ehegattensplitting?
Warum führen Sie nicht ein Quellenabzugsverfahren ein, um die Zinsgewinne zu besteuern?
Ich möchte zum Schluß
nur noch ein paar Worte von den für die rigiden Sozialkürzungen verantwortlichen Politikern zitieren. Da heißt es nämlich: „Wir alle haben über unsere Verhältnisse gelebt." — „Wir müssen den ungeschminkten Realitäten ins Auge sehen." — „Wir müssen umdenken." — „Wir müssen von den liebgewonnenen Ansprüchen, Standards und Besitzständen Abschied nehmen." — „Wir müssen den Mut zu schweren und bitteren Entscheidungen haben." Dieses „wir" kommt ausgerechnet aus den Reihen derjenigen, die von all diesen finanziellen Kürzungsmaßnahmen überhaupt nicht betroffen sind.
Dieser Widerspruch wird noch an folgendem Beispiel deutlich: Wenn die zur Zeit vorgesehene Kürzung der Rentenversicherungsbeiträge für Behinderte in Werkstätten von 90 auf 70% des durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelts schon vor 20 Jahren wirksam geworden wäre, ergäbe sich heute daraus ein Rentenanspruch, der in etwa bei 214 DM läge. Das wäre nach 20 Jahren Beitragszahlung — mit Verlaub — weniger als die Hälfte des Geldes, das die Diätenerhöhung für einen einzigen Abgeordneten monatlich ausmacht, eine Diätenerhöhung, die leider nur von uns GRÜNEN abgelehnt wurde.