Rede von
Karl
Hofmann
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat in seinem Antrag zur Vertrauensfrage das vorher festgelegte Verhalten der beiden Koalitionsfraktionen damit begründet, daß die Bundesregierung ein nach der Regierungsübernahme abgegebenes Versprechen einhalten wolle und die Bundesregierung nur für einen inhaltlich und zeitlich befristeten Auftrag das Vertrauen der Abgeordneten der CDU, der CSU und der FDP erhalten habe. Dieser Auftrag hieß nach Koalitionsversion: Verabschiedung des Bundeshaushalts 1983 und der entsprechenden Begleitgesetze. Wenn das so ist, dann müßten Herr Dr. Kohl und seine Regierung zurücktreten; denn ihre Aufgabe ist erfüllt.
Doch statt dessen will der Bundeskanzler, der im Gegensatz zu der Regierung Brandt/Scheel 1972 oder zu der Minderheitsregierung Helmut Schmidt vom September 1982 eine ausreichende Mehrheit hinter sich hat, über eine künstlich gestellte und ebenso künstlich beantwortete Vertrauensfrage eine vorzeitige Auflösung des Deutschen Bundestages erreichen. Ich halte dieses Verfahren verfassungsrechtlich und verfassungspolitisch für unzulässig, aber nicht aus dem vielleicht naheliegenden Grund, daß ich durch diese Maßnahme in meinen mir durch das Grundgesetz übertragenen Rechten unmittelbar gefährdet wäre; Sie wissen, der Bundestag wird auf vier Jahre gewählt. Nein, meine Einwände sind anderer Natur. Ich will sie in sechs Punkten darlegen.
Erstens. Die Verfassungsväter des Parlamentarischen Rates haben auf Grund der Weimarer Erfahrungen die Möglichkeit zur Auflösung des Bundestages so weit wie möglich eingeschränkt. Die Auflösung sollte immer nur Ultima ratio, letzter Weg, sein. Gerade diese Absicht, dieses Wollen der Verfassungsväter wird durch die heutige getürkte Vertrauensfrage eindeutig durchkreuzt.
Zweitens. Durch das heutige, vom Bundeskanzler eingeleitete Verfahren und die — möglicherweise — Billigung des Bundespräsidenten wird die Machtbefugnis des Bundeskanzlers in unzulässiger Weise ausgeweitet. Hier wird ein Präzidenzfall geschaffen, der es dem jeweiligen Kanzler ermöglicht, künftig zu einem ihm gelegenen Zeitpunkt die Parlamentsauflösung zu betreiben. Die Meinungsforscher, ihre Umfrageergebnisse und deren Auswertung haben dann Vorrang vor dem Grundgesetz.
Drittens. Eine weitverstandene Auflösungsmöglichkeit nach Art. 68 GG — mit der dadurch eröffneten Möglichkeit für den Mehrheitskanzler, jederzeit an das Volk zu appellieren — würde zu einer erheblichen Verstärkung des plebiszitären Elements führen. Mit diesem Beugen — um nicht zu sagen: Verbiegen — des Grundgesetzes kommen wir nahe an Weimar und seine Folgen; genau das wollten die Verfassungsväter nicht.
Viertens. Das nun eingeschlagene Verfahren führt meines Erachtens zu einer Herabwürdigung des Verfassungsinstruments der Vertrauensfrage zum technischen Notbehelf für die Herbeiführung von Neuwahlen. Hier wird der Charakter der Vertrauensfrage grundsätzlich geändert. Die Ablehnung des Vertrauens für den Bundeskanzler hat künftig nicht mehr die Bedeutung eines Makels oder Scheiterns der Regierung.
Fünftens. Die Regierung Kohl/Genscher hat eine regierungsfähige wie handlungsfähige Mehrheit; für die Auflösung des Bundestages besteht keine Not. Die Wahlergebnisse in Hamburg und Hessen lassen darauf schließen und befürchten, daß wir heute eine Parlamentsstabilität gegen eine instabile Bundestagszusammensetzung tauschen werden.
Die Warnung vor der Unregierbarkeit unseres Landes unterstreiche ich voll und ganz. Mir ist aber unverständlich, daß gerade die davor warnen, die mit den Neuwahlen das Tor für die öffnen, die unser Land unregierbar machen — auf Kosten der FDP. Die damit erneute, aber dann tatsächlich notwendig werdende Auflösung des Bundestages wird heute heraufbeschworen und eingeleitet. Ich erinnere auch hier an die Auflösung der Reichstage in der Weimarer Zeit. Dies sage ich im Wissen um die drastisch steigende Zahl der Arbeitslosen wie der Firmenzusammenbrüche. Sollten wir dem als Drittes einen instabilen Bundestag hinzufügen, wie der Reichstag es damals war?
Sechstens. Mit der heutigen Vertrauensfrage, die sicher so beantwortet wird, wie die Parteien das wünschen, wird die Entscheidung über das Wohl unseres Volkes der Verantwortung eines einzelnen übertragen. Der Bundespräsident kommt in den Zwang, abzuwägen, wodurch den Gesamtinteressen des Staates am besten gedient wäre: durch die Ablehnung des Vorschlags des Bundeskanzlers oder durch die Auflösung des Bundestages. Wird die Entscheidung vom Geiste des Grundgesetzes getragen sein, oder wird die Entscheidung den Wünschen der Parteien entsprechen? Wird dem Willen der Verfassungsväter nachgekommen, damit sich Weimar nicht wiederhole? Diese Entscheidung wird nicht nur von der Bevölkerung mit Spannung erwartet, sondern sie wird sicher auch die Verfassungsrichter interessieren, ja interessieren müssen.
Aus den aufgezeigten Gründen halte ich das heutige Verfahren zur Auflösung des Deutschen Bundestages für unzulässig.
Zu dieser Auffassung gelange ich auch auf Grund der Art des Verfahrens. Bei der Abstimmung über die Vertrauensfrage werden die Freunde dem Freund indirekt das Vertrauen entziehen, das sie ihm gestern gegeben haben und ihm morgen wieder geben wollen. Dieser Umgang vor allem auch mit dem Grundgesetz ist der parlamentarischen Demokratie nicht würdig. Eine rasch hingeworfene Zusage, Neuwahlen durchzuführen, kann nicht höherwertig sein als die Achtung vor dem Grundgesetz.
Meine Entscheidung gilt daher nicht einer Person
und nicht einer Partei, sondern gilt allein dem Verfahren und ist allein geprägt von der Sorge um den
8966 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1982
Hofmann
Erhalt der freiesten Staatsform unseres Volkes und der Regierbarkeit unseres Landes.
Ich fordere Sie, Herr Bundeskanzler, daher auf, die übernommene Verantwortung weiter zu tragen oder, wenn Sie diese Verantwortung nicht mehr tragen wollen, zurückzutreten. Das Verfahren aber, heute von der Mehrheit der Vertretung des Volkes indirekt das Aussprechen des Mißtrauens zu verlangen und morgen das Volk direkt um Vertrauen zu bitten, schlägt nicht nur als Unglaubwürdigkeit auf alle Parteien zurück, sondern birgt auch die Gefahr in sich, daß sich die Wähler auf den Arm genommen fühlen müssen und sich eben jenen zuwenden, denen wir alle Deutschland nicht anvertrauen können. Diesem Verfahren kann ich nicht zustimmen.
Es geht heute nur um das Verfahren; denn der Kanzler hat eine Mehrheit, die sofort sichtbar würde — wie gestern —, wenn jeder einzelne seinem Gewissen entsprechend die Stimme abgäbe.
Meine Damen und Herren, wir haben gestern viel von Gewissen gehört; nicht vom eigenen, sondern vom Gewissen anderer, von der Gewissensentscheidung junger Leute zur Wehrdienstverweigerung. Wir sind heute zum Thema Gewissen selbst gefordert.
— Wir haben zu zeigen — und jungen Menschen vorzuleben —, wie wir mit unserem Gewissen dem Staat gegenüber umgehen. — Ich danke Ihnen.