Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Kollege Haussmann, Sie haben einen Solidarpakt empfohlen, einen Pakt, der sich mit beschäftigungspolitischen Problemen befaßt, und damit ein Angebot aufgegriffen, das Hans-Jochen Vogel der Öffentlichkeit unterbreitet hat. Ich finde es sehr interessant, daß hier Berührungspunkte für eine künftig gemeinsamere Behandlung bestimmter Probleme deutlich werden.
8752 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Dezember 1982
Dr. Mitzscherling
Sie haben — und, Herr Kollege Glos, vielleicht darf ich auf Ihre Anmerkungen eingehen — einen gewissen Optimismus sichtbar werden lassen über die künftige Entwicklung der Wirtschaft, die von einem Aufschwung nach diesem Haushalt gekennzeichnet sein werde, einen Optimismus, den ich nicht teilen kann. Einen solchen Aufschwung sehen wir nach dem, was uns an Papieren, an Antworten der Bundesregierung, an Antworten des Kanzlers und der Minister vorliegt, eigentlich mehr denn je in einer weiten, weiten Ferne. Sie werden mit diesen Antworten der Politik die Investitionsschwäche sicherlich nicht beenden. Sie werden sicherlich die Binnennachfrage weiter schwächen, und die Arbeitslosigkeit wird dadurch mit Sicherheit nicht verringert werden. Ob Sie das nun wollen oder nicht, meine Damen und Herren von der Union: eine Politik, die in groben Zügen als die eines wirtschaftspolitischen Attentismus bezeichnet werden kann, der sich nur auf eine Stärkung des Angebots richtet, paßt nicht in die Landschaft. Sie wird den strukturellen und den konjunkturellen Erfordernissen nicht gerecht. Sie konsolidieren, Sie kürzen die verfügbaren Einkommen der meisten Verbraucher und warten darauf, daß die Unternehmen irgendwie etwas veranlassen werden, warten darauf, daß sie investieren und eines Tages irgendwann Arbeitsplätze entstehen könnten.
Ich fürchte, meine Herren Vorredner, daß Ihre Erwartungen bitter enttäuscht werden. Sie kennen doch die Probleme, die weltweit sind. Sie müssen doch wissen, daß in den westlichen Industrieländern die Zahl der Arbeitslosen auf 35 Millionen zugeht. Sie müssen doch wissen, daß in den Vereinigten Staaten und daß in den EG-Ländern jeweils nunmehr fast 11 Millionen arbeitslos sind. Daran wird doch deutlich, daß wir uns offensichtlich in einer Weltwirtschaftskrise befinden. In fast allen Industrieländern ist ein wirtschaftlicher Aufschwung in weiter Ferne.
Der Welthandel, meine Damen und Herren von der Union, stagniert. Das verschärft die Konkurrenz und führt zu größerer Bereitschaft der Regierungen, wie das heute ja auch schon mehrfach angeklungen ist, protektionistische Restriktionen zu veranlassen. Wenn aber der Welthandel stagniert, wenn er — wie in diesem Jahr — sogar schrumpft, dann kann sich kein Land Hoffnungen auf einen durch Exportsteigerung ausgelösten Konjunkturaufschwung machen, schon gar nicht die Bundesrepublik als zweitgrößtes Welthandelsland. Denn das, was wir heute mehr exportieren würden, ginge doch zu Lasten anderer Länder, und eine beggar-myneighbour-policy, eine Außenhandelspolitik, die einseitig Außenhandelsüberschüsse erzielen will, läßt sich heute niemand mehr so leicht gefallen. Das gilt auch für den EG-internen Handel, und das gilt, wie schon gesagt wurde, vor allem im Handel mit Frankreich.
Lassen Sie mich hier ein Wort, Herr Kollege Haussmann, aufgreifen, das Sie eben im Zusammenhang mit dem Fall Thomson-Brandt erwähnten. Der vorliegende Antrag begründet sich selbst. Wir haben böse Erfahrungen machen müssen. Ich
erinnere nur an Videocolor. Wir sind der Auffassung, daß eine derartige Zusammenführung, wenn sie zustande kommen sollte, einer dringenden Partnerschaft bedarf, daß wir ein Mitspracherecht haben, wenn es um den Bestand und den Erhalt von Arbeitsplätzen geht.
Ich muß an dieser Stelle sagen, daß angesichts der Brisanz dieses Themas das Verständnis dafür, daß der Bundeskanzler in Paris war und dieses Problem dort nicht einmal angesprochen hat, relativ gering ist.
Nun, meine Damen und Herren, wenn wir eine Exportpolitik, wie dargestellt, nicht mehr haben werden, wenn das heute nicht mehr so funktionieren kann, wie es früher funktioniert hat, dann muß man sich doch vor Augen führen, woran das liegt. Ich vermisse in all den Beiträgen, die von seiten der Regierungsfraktionen, auch von seiten der Minister und des Bundeskanzlers kamen, eine Antwort darauf.
Früher — daran haben wir uns offenbar gewöhnt — ging es irgendwo in der Welt immer aufwärts. Regelmäßig hat unser Export immer irgendwo Tritt gefaßt und wieder einen wirtschaftlichen Aufschwung eingeleitet, weil der Konjunkturzyklus der Bundesrepublik nicht mit dem in anderen Ländern übereinstimmte. Jetzt aber verläuft dieser Konjunkturzyklus synchron. Das bedeutet doch, daß zum selben Zeitpunkt alle Industrieländer in der gleichen Misere sind. Deshalb können wir auch nicht länger auf den Export als einen Konjunkturmotor setzen; wir nicht, aber andere Länder ebensowenig.
Was bleibt als Resultat dieser Überlegungen eines weltweit gedachten Konjunkturstimulans übrig, wenn der Export ausfällt, wenn auch, nicht zuletzt durch die vorliegenden Haushaltsbeschlüsse, der private Verbrauch real nicht mehr wächst und als Wachstumsmotor nicht mehr zur Verfügung steht? In der Tat bleiben ausschließlich die Investitionen. Das ist richtig. Der internationale Zinsrückgang in den letzten zwölf Monaten läßt da zwar hoffen. Zumindest in gewissen Teilen gilt das für den Wohnungsbau. Aber für die Anlageinvestitionen der Unternehmen gilt das doch kaum; denn überall, in allen Industrieländern sind die Kapazitäten unterausgelastet. Überall, in allen Industrieländern sind die Absatzerwartungen pessimistisch.
Warum aber — frage ich Sie — sollte es zu einem weltweiten Aufschwung privater Investitionen kommen, zumal die Zinsen immer noch hoch genug sind? Wir haben größte Zweifel, ob es zu dieser von Ihnen erhofften, von Ihnen erwarteten Entwicklung überhaupt kommen wird. Deshalb sagen wir ja auch, wir brauchen einen gemeinsamen, international abgestimmten Beschäftigungspakt der wirtschaftlich starken Länder. Ich bitte, das nicht als einen billigen Wahlkampfgag zu werten, sondern als das Resultat von Überlegungen, die angesichts der gegenwärtigen schwierigen internationalen Situation andere Wege kaum noch sichtbar werden
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lassen. Im übrigen stehen wir mit dieser Forderung ja nicht allein, auch der Sachverständigenrat hat eine parallele Aktion der wirtschaftlich starken Länder gefordert.
Wenn wir uns dabei vor allem auf öffentliche Investitionen stützen, so deshalb, weil wir der Meinung sind, daß sie schneller wirken. Wenn ich an die Hoffnung denke, die Sie haben, daß durch eine Umschichtung von den konsumtiven zu den investiven Ausgaben Mittel freigesetzt werden, muß ich sagen, daß das allenfalls ein Angebot ist. Wer gibt Ihnen die Zuversicht, daß dieses Angebot angenommen wird? Wer erklärt Ihnen, daß letztlich durch den entstehenden time-lag — Wirtschaftsminister Graf Lambsdorff hat das in seiner letzten Rede ja zum Ausdruck bringen müssen — nicht eine Bewegung entsteht, die wirtschaftlich eher nach unten gerichtet ist?
Sie weisen unsere beschäftigungspolitischen Vorschläge zurück. Sie können das offenbar auch nicht anders; denn Sie haben ja Beschäftigungsprogramme jahrelang als Strohfeuer bezeichnet. Sie haben das als eine Entwicklung bezeichnet, die zum Staatsbankrott führe, zu einer Währungsreform. Sie haben die Leute verunsichert. Daß Sie in dieser Situation heute den Vorschlag eines derartigen Beschäftigungshaushalts natürlich nicht begrüßen, liegt bei Ihrem Selbstverständnis auf der Hand.
— Sie werden mir abnehmen, daß ich dazu eine andere Meinung habe als Sie. — Ich stelle dazu nur fest, daß eine weitere Untätigkeit der Regierung, wie auch immer motiviert, aus meiner Sicht zusätzliche Arbeitslosigkeit schafft.
Ich kann nur vor dieser weiteren Untätigkeit warnen. Wir alle wissen nicht — auch Sie nicht, meine Damen und Herren von der Union —, wie sich Erwartungen, wie sich Verhaltensweisen bei langanhaltenden wirtschaftlichen Schwächeperioden verändern. Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß das Angstsparen, das heute schon feststellbar ist, um sich greifen kann. Wir alle müssen uns darauf einrichten, daß die Banken größere Sicherheiten für ausgeliehene und auszuleihende Kredite verlangen, daß Unternehmen um jeden Preis konsolidieren und daß sie Investitionen hinausschieben. Diese Gefahr liegt doch auf der Hand.
Das bedeutet, daß die Übervorsichtigen zunehmend Oberwasser bekommen. Wenn dies so ist, bleibt der kräftige wirtschaftliche Aufschwung, den wir brauchen, den wir dringend brauchen, aus. Er rückt immer weiter in die Ferne; denn die von Ihnen zitierten Gründerjahre brauchen nicht die Übervorsichtigen, sondern sie brauchen die innovativen Elemente: die Techniker, die Ingenieure, die Kaufleute, die wagemutig sind, die früher gezeigt haben, daß man es machen kann. Eine Wirtschafts- und Finanzpolitik muß aber dementsprechend ausgerichtet sein.
Wir dürfen nicht riskieren — da stimme ich mit dem Wirtschaftsminister überein —, daß sich pessimistische Grundhaltungen immer stärker ausbreiten und künftig der risikoscheue Buchhalter bestimmt, was im Unternehmen investiert wird.
Meine Damen und Herren, die Wirtschaftspolitik wird handeln müssen. Sie wird anders, nämlich stärker und entschlossener handeln müssen, als es in dem vorliegenden Haushalt zum Ausdruck kommt. Wir können es uns schließlich auch eher leisten. Wir sind, ob Sie das nun hören wollen oder nicht, stärker als die meisten anderen Industrieländer. Der Bundeswirtschaftsminister hat es ja als einen Erfolg seiner Politik herausgestellt. Wenn aber andere Länder gegenwärtig nicht oder noch nicht zu einem gemeinsamen Beschäftigungspakt bereit sind, dann müssen wir eben zunächst allein beginnen, auch wenn die Wirkung dann zugegebenermaßen geringer sein wird.
Wir brauchen da nicht auf die Erfahrungen der Jahre 1978 bis 1980 zurückzugreifen oder gar zu erschrecken. Ich darf nämlich daran erinnern — auch das gerät häufig in Vergessenheit —, daß wir 1978 gemeinsam mit den Japanern auf einen Weltwirtschaftsgipfel gedrängt wurden, um dort gleichsam als eine Lokomotive zu wirken, um eine Rolle zu übernehmen, die angesichts der Kraft, die man uns damals zugetraut hat, sicherlich auch eine Zumutung darstellte und nicht etwa eine Vermessenheit von Helmut Schmidt war.
Wären die Ölpreise 1978/79 nicht zum zweitenmal explodiert, was, wie vielleicht noch in Erinnerung, unsere Leistungsbilanz damals ins Defizit brachte, so wären wir auch nicht zu Gefangenen der amerikanischen Hochzinspolitik geworden.
Aber diese Situation, meine Damen und Herren, ist heute anders. Eine neue Ölpreisexplosion steht nicht vor der Tür. Wir brauchen auch nicht zu befürchten, daß wir wieder in eine stärkere Abhängigkeit von den amerikanischen Zinsen geraten; denn gerade in den letzten Monaten ist deutlich geworden, daß der Dollar fundamental schwächer geworden ist. Experten rechnen für 1983 mit einem amerikanischen Außenhandelsdefizit von 75 bis 100 Milliarden Dollar und mit einem Leistungsbilanzdefizit von 40 Milliarden Dollar. Das dürfte inzwischen allen bekanntgeworden sein.
Diese Defizite, meine Damen und Herren, werden auch diesmal wieder einen starken Druck auf den Dollar ausüben. Das gilt allerdings nur dann, diese Einschränkung muß man an dieser Stelle machen, wenn es nicht — und davor ist heute keiner sicher; ich habe auch kein Wort dazu gehört — zu einem unerwarteten und krisenhaft sich zuspitzenden Entwicklungsprozeß kommt, der einen internationalen und schwerwiegenden Bankenkrach auslösen könnte. Wenn dies eintritt, stehen wir vor einer neuen Situation. Bleibt uns das erspart, kann man heute schon feststellen, daß die D-Mark, die jetzt schon zweifellos zu den gesuchten Währungen gehört, diese positive Bewertung beibehalten wird. Das müssen wir ausnutzen. Das muß die Bundesbank bei ihrer Politik berücksichtigen. Sie muß jeden Spielraum, der sich ergibt, nutzen — das wird durch die ausgeglichene Leistungsbilanz erleichtert —, um die Zinsen bei uns noch weiter nach
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unten zu drücken. Dabei sind wir natürlich auch der Auffassung, daß eine völlige Abkoppelung von den amerikanischen Zinsen angesichts des freien Kapitalverkehrs nicht möglich ist.
Zwar rechnet augenblicklich jedermann in dieser Welt mit weiter sinkenden Dollarzinsen. Wir können deshalb auch mit weiter sinkenden D-Mark-Zinsen rechnen. Aber — diese Frage muß man einfach stellen — worauf gründet sich eigentlich diese Hoffnung? Doch nicht auf eine vertrauenerweckende amerikanische Wirtschaftspolitik! Dafür gibt es keinerlei Anzeichen. Die Hoffnung gründet sich doch allein auf ein weiteres Sinken der amerikanischen Zinsen, weil man damit rechnet, daß die Rezession in Amerika anhält und die private Kapitalnachfrage deshalb so schwach bleibt, daß die Zinsen sinken können, obwohl das gigantische amerikanische Haushaltsdefizit finanziert werden muß.
Das muß man sich einmal vor Augen halten, meine Damen und Herren: Alle Welt hofft auf Zinssenkungen in den USA. Die kann und wird es aber nur geben, weil eine wirtschaftliche Besserung in den USA in weiter Ferne liegt. Kommt es in den Vereinigten Staaten jedoch früher zu einer konjunkturellen Erholung, dann werden dort die Zinsen wieder steigen, wenn es bei der gegenwärtig betriebenen amerikanischen Politik bleibt. Dann wird eine beginnende konjunkturelle Erholung bei uns im Keim erstickt werden.
Bei dieser Konstellation kann Zuschauen wohl kaum die geeignete Strategie für eine mittelfristig ausgerichtete Wirtschaftspolitik sein. Ich muß deshalb an die Bundesregierung appellieren: Tun Sie alles, um einer weiteren Abschwächung der Binnennachfrage entgegenzuwirken! Tun Sie alles, um sich dem wachsenden Pessimismus entgegenzustellen, bevor die Lage unkontrollierbar wird! Ihr Haushalt reicht dazu nicht aus. Drängen Sie die amerikanische Regierung zu mehr Solidarität, zu einer Wirtschaftspolitik, die auf die Belange der anderen Länder Rücksicht nimmt! Machen Sie sich für diesen internationalen Beschäftigungspakt, wie ihn Hans-Jochen Vogel vorgeschlagen hat, stark!
Es ist nicht die Zeit für nationale Nabelschau und gegenseitige Schuldzuweisung, meine Damen und Herren.
Es ist die Zeit für ein gemeinsames und entschlossenes Handeln, national und international. — Ich danke Ihnen.