Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind in diesen Wochen Zeugen einer Legendenbildung.
Von der Bundesrepublik Deutschland wird eine Zustandsbeschreibung gegeben, die der tatsächlichen Lage unseres Landes nicht entspricht. Das fehlende Wirtschaftswachstum, die sehr hohe Arbeitslosigkeit und die hohe Staatsverschuldung werden als Beweis für ein angeblich bestehendes Chaos und einen angeblichen Trümmerhaufen angeführt. Immer wieder wird von einer katastrophalen Erblast gesprochen.
Der Herr Abgeordnete Dregger hat dem wirtschaftspolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Roth, am 14. Oktober zugerufen: „Ihr habt den Staat bankrott gemacht."
— Sie klatschen. Ich würde vorsichtig sein. Denn der Herr Bundesfinanzminister will ja im nächsten Jahr für diesen Staat 41 Milliarden DM Nettokredit aufnehmen. Es wird für Gläubiger, für Darlehensgeber schwierig sein, diese Summe zu günstigen Zinskonditionen einem Staat zu geben, von dem nicht ein x-beliebiger Abgeordneter, sondern der Vorsitzende der größten Bundestagsfraktion sagt, er sei bankrott. Ich würde es sehr überlegen, ob das die Position des Bundeswirtschaftsministers stützt.
Wer nicht ganz verbohrt ist, wird trotz unserer unbestreitbar schwierigen wirtschaftlichen Lage zweierlei nicht übersehen können:
Erstens. Alle Industriestaaten der Welt, gleichgültig wer sie regiert, befinden sich in großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, in einer Situation, wie es sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben hat.
Zweitens. Neben den ungünstigen Tatsachen in unserer Wirtschafts- und Finanzpolitik gibt es auch beachtliche Pluspunkte, die eine wichtige Grundlage für eine bessere Entwicklung sein können. Ich erinnere an die Verbraucherpreisentwicklung, in der wir hinter Japan weltweit den zweiten Platz einnehmen. Ich erinnere daran, daß wir mit einem Diskontsatz der Notenbank von 5,0 % gemeinsam mit der Schweiz — noch vor Japan — eine Spitzenposition einnehmen. Ich erinnere an die Leistungsbilanz unserer Wirtschaft, die 1980 mit einem Defizit von nahezu 30 Milliarden DM abgeschlossen hat und 1981 auch noch ein Minus von 16,6 Milliarden DM aufwies. In diesem Jahr dürfte es, wenn nicht noch ganz unerwartete Ereignisse eintreten, eine ausgeglichene Leistungsbilanz geben. Warum wird denn das nicht auch gesagt? Tun Sie doch nicht so, als wäre das alles geschehen, seitdem Sie die Regierung übernommen haben!
Ich habe auf der Fahrt im Auto hierher gehört, daß Herr Dr. Waigel gesagt hat: „Als wir die Regierung übernommen haben, hat die Bundesbank sofort zweimal den Diskontsatz gesenkt." — Der Diskontsatz ist seit dem vergangenen Jahr sechsmal gesenkt worden. Das hat doch mit Ihrer Regierungsübernahme nichts zu tun, sondern geht auf eine weltwirtschaftliche Entwicklung zurück, nämlich auf die parallele Entwicklung der Senkung der Zinsen in Amerika. Das ist doch klar nachweisbar.
Ein weiteres Positivum, das Sie nicht verschweigen dürfen, ist z. B. die Tatsache, daß die Bundesrepublik Deutschland mit weitem Abstand die höchsten Währungsreserven der ganzen Welt hat.
Was die Verschuldung angeht, so hat der Bundesfinanzminister mit Recht darauf hingewiesen, daß wir zwar, was die absolute Höhe angeht, noch einen mittleren Platz belegen, daß aber das Tempo der Verschuldung durchaus besorgniserregend ist. Das sage ich nicht zum erstenmal. Das sage ich, wie in den Protokollen des Bundesrates nachzulesen ist, seit 1978, also seit vier Jahren. Ich werde das auch begründen.
— Aber sicher, Herr Abgeordneter Dregger, ich werde das genau begründen.
Nun sollen natürlich nicht nur für die hohe Verschuldung des Bundes, sondern auch für die nicht minder hohe Verschuldung der Länder und Gemeinden die frühere Bundesregierung und die frühere Koalition verantwortlich sein.
Ich greife noch einmal den total unangemessenen Begriff der katastrophalen Erblast und das von dem Herrn Bundesfinanzminister gerade gebrauchte Bild von dem „Schutt", den Sie angeblich wegräumen müßten, auf. Meine Damen und Herren, es handelt sich um eine gemeinsame Erblast, weil nämlich während der letzten 13 Jahre keine wesentliche Ausgabenerhöhung und keine Einnahmenminderung in den öffentlichen Haushalten ohne Mitwirkung des Bundesrates beschlossen worden ist.
Dies ist der entscheidende Unterschied zu allen
Partnerstaaten der Europäischen Gemeinschaft.
8724 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Dezember 1982
Minister Dr. Posser
Dies ist viel zu wenig in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gekommen.
Viele hier im Hause wissen es nicht oder wollen es nicht wahrhaben: Während der ganzen 13 Jahre sozialliberaler Regierungsverantworung hat es eine parteipolitisch anders zusammengesetzte Mehrheit des Bundesrates gegeben. Von 1949 bis 1969 gab es übereinstimmende Mehrheiten im Deutschen Bundestag und im Bundesrat. Dies ist in der letzten Zeit anders gewesen. Es gab nicht nur eine andere Mehrheit im Bundesrat, sondern seit 1976 auch ein Patt im Vermittlungsausschuß und später sogar eine Mehrheit für Sie im Vermittlungsausschuß. Das erwähnen Sie überhaupt nicht. Über die Hälfte aller Bundesgesetze sind zustimmungsbedürftig. Bei diesen Gesetzen hat der Bundesrat also eine echte Vetoposition gehabt, nicht nur ein überstimmbares Einspruchsrecht.
Wenn ich von den Bereichen Außenpolitik und Rechtspolitik absehe, gibt es kein einziges wichtiges finanzwirksames Gesetz, das nicht ausdrücklich der Zustimmung des Bundesrats bedurft hätte.
Dann sind diese Gesetze, teils nach langwierigen Vermittlungsverfahren, zustande gekommen.
Der Herr Bundesfinanzminister hat sich bei der Aussprache über die Regierungserklärung am 13. Oktober 1982 zu diesem Hinweis geäußert und gesagt, er müsse daran erinnern, daß immerhin der Bundesrat bei drei ausgabewirksamen Gesetzen die Zustimmung verweigert habe, und zwar im Juni 1980 beim Verkehrslärmschutzgesetz — dem übrigens die CDU/CSU-Bundestagsfraktion zugestimmt hat —,
beim Strafvollzugsfortentwicklungsgesetz und beim Jugendhilfegesetz.
Nur, Herr Bundesfinanzminister, langjähriger verehrter Kollege im Bundesrat: Sie dürfen eines nicht übersehen: Die von Ihnen genannten Beispiele sagen über die Situation des öffentlichen Haushalts überhaupt nichts aus.
Denn sie sind j a gar nicht zustande gekommen und können sich also finanziell auch im Hinblick auf die Verschuldung des Bundes gar nicht ausgewirkt haben.
Aber jetzt will ich doch mal — wegen der fortgeschrittenen Zeit kann ich es leider nur sehr kurz machen — erwähnen, was alles im Bundesrat an Mehrforderungen gestellt worden ist.
Sie haben beispielsweise am 30. November 1979 einen Gesetzentwurf über Familiengeld für Nichterwerbstätige — angegebene Mehrkosten: 750 Millionen — beschlossen. Es hat einen Entwurf zum Abbau steuerlicher Hemmnisse für die Vermögensbildung der Arbeitnehmer gegeben. Das ist alles vom Ziel her durchaus begrüßenswert; es war nur nicht zu finanzieren. 2 Milliarden DM!
Oder nehmen Sie den Antrag zur Umgestaltung der Kilometerpauschale in eine Entfernungspauschale. Steuerausfälle: 800 Millionen!
Ich könnte Ihnen — ich habe das am 26. Juni 1981 im Bundesrat aufgelistet — eine ganze Liste von Gesetzen vorlegen, die am Verantwortungsbewußtsein der damaligen Mehrheit des Deutschen Bundestages für die Finanzsituation des Bundes gescheitert sind.
Sonst wäre die wirtschaftliche Situation noch sehr viel schwieriger, als sie sich jetzt darstellt.
— Aber, Herr Kollege Hüsch, lenken Sie doch nicht vom Thema ab! Ich rede jetzt über die Mitverantwortung des Bundesrates.
— Ich werde, wenn die Zeit es erlaubt, noch auf Ihren Hinweis eingehen.
Die Tatsache, daß Sie für den Bundeshaushalt 1983 eine sehr viel höhere Nettokreditermächtigung benötigen, als Sie — davon gehe ich aus — selber gehofft haben,
sollte Sie doch nachdenklich machen.
Sie nennen ja auch die Gründe.
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Minister Dr. Posser
Sie sagen: Das Wirtschaftswachstum ist sehr viel schlechter verlaufen, als man noch im Sommer angenommen hat, und die Ausgaben durch die gestiegene Arbeitslosigkeit sind sehr viel höher als die, die ursprünglich angenommen worden sind.
Und gerade die Tatsache, daß Sie jetzt beginnen,
zur Rechtfertigung der Nettokreditermächtigung auch auf objektive Entwicklungen hinzuweisen, weckt in mir die Hoffnung, daß wir nun langsam aufhören mit diesen Verunglimpfungen
in die Richtung der alten Bundesregierung und daß dieses Thema versachlicht wird.
Denn die alte Bundesregierung hat auch nicht eine einzige Mark ohne eine Ermächtigung durch Bundestag und Bundesrat ausgeben können.
Das ist das, was übersehen wird.
Was wir gemeinsam brauchen, ist nicht eine polemisch verzerrte Zustandsbeschreibung mit verunglimpfenden Vorwürfen an die frühere Bundesregierung und die frühere Regierungskoalition, sondern eine Analyse der Haushaltslage von Bund, Ländern und Gemeinden.
— Das ist das, was Sie immer verwechseln: eine Analyse, die sorgfältig erstellt wird, und eine Zustandsbeschreibung, bei der Sie wichtige Punkte einfach unterschlagen.
Diese Haushaltsanalyse zeigt, daß die Bundesrepublik Deutschland nach der ersten Ölpreisexplosion eine verhältnismäßig starke Neuverschuldung eingehen mußte, der aber eine Konsolidierungsphase gefolgt ist, denn es gelang von 1975 bis 1977, die Finanzierungsdefizite aller Gebietskörperschaften zu halbieren, von 64 Milliarden auf 32 Milliarden DM zurückzuführen. Dann wurde — das ist im
Rückblick sehr genau festzustellen — die Weiche falsch gestellt.
— Jawohl, gut, wenn Sie das auch einsehen. Denn die Sachverständigen und alle Sachkundigen haben damals die politisch Verantwortlichen gemahnt. Ihr Rat hieß, der Konsolidierungskurs, nämlich die Halbierung der Haushaltsdefizite bei Bund, Ländern und Gemeinden von 64 auf 32 Milliarden DM, sei zu früh eingeschlagen und zu nachhaltig fortgeführt worden.
Dazu kam die Empfehlung des Weltwirtschaftsgipfels im Sommer 1978 — das kommt in Ihrer Zustandsbeschreibung überhaupt nicht vor —, in der unter anderem der Bundesrepublik Deutschland als einem starken Industriestaat eine Lokomotivfunktion für die Weltwirtschaft zugemessen wurde: ein Prozent des Bruttosozialprodukts. Dann erfolgte eine Stützung und Absicherung der Konjunktur durch verstärkte Staatsausgaben, durch Kredite.
Übrigens ist das Defizit des Bundes, ist die Nettoneuverschuldung des Bundes in den Jahren nach 1975 bis einschließlich 1980 trotz eines wesentlich gestiegenen Haushaltsvolumens nie mehr so hoch gewesen wie 1975, während das bei den Ländern aus vielerlei Gründen anders ausgesehen hat.
Nachdem diese Stützung der Konjunktur durch verstärkte kreditfinanzierte Staatsausgaben gestartet war, und zwar unter allgemeiner Zustimmung, wie man den Protokollen entnehmen kann, wurde freilich nicht gewartet, bis sich die öffentlichen Kassen wieder gefüllt hatten. Es war ja die Philosophie, man müsse zur Ankurbelung Geld in den Wirtschaftskreislauf pumpen, dann werde es zu Wirtschaftswachstum, zu Investitionen kommen und damit auch zu Steuermehreinnahmen.
Der Fehler war, daß gleichzeitig die Konjunkturförderung auch durch massive Steuerverzichte auf der Einnahmeseite vorgenommen wurde. Es geschah beides. Allein die von 1977 bis Ende 1980 von Bundestag und Bundesrat gemeinsam beschlossenen Steueränderungsgesetze
haben im Bundesgebiet zu einem jährlichen Entlastungsvolumen von 42 Milliarden DM geführt.
Diese Scherenentwicklung von verstärkten kreditfinanzierten Mehrausgaben und starken Steuermindereinnahmen hat zu den bedrückenden Haus-
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Minister Dr. Posser haltsschwierigkeiten geführt, mit denen Bund, Länder und Gemeinden jetzt zu kämpfen haben.
— Ich komme darauf.
Die Haushaltsprobleme des Bundes wären noch größer, wenn es dem Bund nicht gelungen wäre, durch Anhebung einiger Verbrauchsteuern mehr Einnahmen zu erzielen. Dies gelang bei den Verbrauchsteuern, deren Aufkommen zu 100% dem Bund zufließt, so daß in diesem kleinen Bereich der Bundesrat keine Vetoposition besaß, sondern nur ein überstimmbares Einspruchsrecht hatte.
Die Bundesratsmehrheit hat dem Bund in allen Fällen die Möglichkeit nehmen wollen, Steuermehreinnahmen zu erzielen und seine Haushaltsposition zu verbessern. Zugleich wurde eine von allen Parteien geforderte Änderung der Steuerstruktur verhindert, die ein Gleichgewicht von direkten und indirekten Steuern herstellen sollte.
Das war z. B. das 9. Gesetz zur Änderung des Mineralölsteuergesetzes: Ablehnung durch den Bundesrat am 23. Juni 1978, Anrufung des Vermittlungsausschusses; schließlich wurde der nach Zustandekommen des Vermittlungsergebnisses eingelegte Einspruch des Bundesrates von der Mehrheit des Bundestages überstimmt.
Oder nehmen wir das Mineralöl — und Branntweinsteueränderungsgesetz 1981. Es sollte zu Mehreinnahmen beim Bund führen und hat diesen Effekt auch erzielt.
— So billig, als wäre es um das Schnäpschen der kleinen Leute gegangen, können Sie es machen, Herr Hüsch!
Dieses Gesetz wurde vom Bundesrat am 20. Februar 1981 abgelehnt. Es folgte wiederum die Anrufung des Vermittlungsausschusses, und dann mußte wieder der vom Bundesrat eingelegte Einspruch vom Bundestag überstimmt werden.
Nächstes Beispiel: das Verbrauchsteueränderungsgesetz 1982 mit der Erhöhung von Verbrauchsteuern.
Das Gesetz wurde am 27. November 1981 vom Bundesrat abgelehnt; der Vermittlungsausschuß wurde angerufen.
Mit anderen Worten: Wenn Sie die schwierige Finanzsituation des Bundes so beklagen, müssen Sie in Ihrer Analyse einfach berücksichtigen, daß die
Bundesratsmehrheit der unionsregierten Länder es gewesen ist, die jede Möglichkeit verhindert hat, die Einnahmeposition des Bundes zu verbessern!
Sie hat vielmehr immer dann, wenn der Bund allein die Steuereinnahmen bekommen sollte, versucht, die Gesetze im Vermittlungsverfahren zu verändern.
— Nein, das nicht, aber Sie haben j a here Grundsätze aufgestellt. Sie haben — so zuletzt noch der Herr Abgeordnete von Wartenberg — erklärt, man müsse dafür sorgen, daß die Struktur des Steueraufkommens verändert werde; die Belastung mit direkten Steuern solle zugunsten der Anhebung der indirekten Steuern gesenkt werden; dies werde seit langem gefordert. Als im Bundesrat die Probe aufs Exempel gemacht werden konnte, haben Sie gerade diese Steuerstrukturverbesserung abgelehnt!
Jetzt sagen Sie: Wir brauchen einen neuen Anfang, wir müssen jetzt alles in Richtung solidarischer Gesellschaft entwickeln. Da kann ich nur sagen: Richtig, dem stimmen wir voll zu; auch die Länder machen da sicher mit. Aber ich will Ihnen gern auch sagen, wo in dieser Hinsicht die großen Unterschiede liegen, und ich bleibe einmal bei der Steuerpolitik.
Sie erklären, die Abgabenlast sei zu hoch oder dürfe nicht weiter erhöht werden. Da stimme ich Ihnen zu. Aber die Abgabenlast besteht aus der Steuerlast und der Sozialabgabenlast.
Die Steuerlastquote ist heute niedriger als in den 50er und den 60er Jahren; das bestreiten Sie ja wohl nicht ernsthaft. Wenn Sie berücksichtigen, daß 1974 bei der Änderung des Familienlastenausgleichs das Kindergeld — übrigens gegen eine Übertragung erheblicher Anteile an der Umsatzsteuer durch die Länder auf den Bund — bar vom Bund übernommen wurde, und wenn Sie einmal annehmen, das wäre über steuerliche Kinderfreibeträge gegangen, was Sie ja am liebsten hätten und wohin Sie das System jetzt auch wieder ändern wollen, wäre heute die Steuerlastquote noch niedriger — und zwar um 0,9 % niedriger —, als sie jetzt schon ist, und sie ist jetzt bereits niedriger als zu Zeiten der Kanzlerschaft von Adenauer und Erhard.
Hier wird immer der Eindruck zu erwecken versucht, als würden Überlegungen zur Einführung einer Ergänzungsabgabe schon die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen treffen.
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Minister Dr. Posser
Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik Deutschland hat den niedrigsten Höchstsatz der Einkommensteuer in der ganzen Europäischen Gemeinschaft. Er beträgt 56 %.
Es wird der Eindruck erweckt, als müßte schon der geringer Verdienende 56 % oder zumindest 50 % an Steuern zahlen.
In Wirklichkeit ist es ganz anders. Wissen Sie, wann jemand 55% seines Einkommens an Steuern zahlen muß`? Sie operieren immer mit Grenzsteuersätzen, aber Sie müssen mit dem Durchschnittssatz rechnen. Wann muß ein Steuerzahler in der Bundesrepublik Deutschland 55% entrichten? Das muß er dann, wenn er als Lediger ein Jahreseinkommen von 1,5 Millionen DM hat. Dann muß er 55% Einkommensteuer zahlen.
Wenn er verheiratet ist, erreicht er den Steuersatz von 55% seines Einkommens erst bei 3 Millionen DM im Jahr.
— Herr Hüsch, reden Sie doch nicht immer dazwischen, es stimme nicht. Selbstverständlich stimmt das. Oder kommen Sie hierher und beweisen Sie das Gegenteil.
Richtig ist, daß die Kombination von Steuerlast und Sozialabgabenquote das Problem ist. Aber wie sind Sie ihm denn begegnet? Und wie ist das bei der Mehrheit des Bundesrates gewesen? Sie haben immer gesagt, diese Abgabenlastquote dürfe nicht erhöht werden. Dem stimme ich ausdrücklich zu. Sie haben dann Steuersenkungen vorgenommen, die zu einem großen Teil in die Taschen derjenigen kamen, die überhaupt keine Sozialabgaben zu entrichten haben,
bei denen es also gar nicht um eine Überbelastung ging, denn die zahlen weniger Steuern als unter Adenauer und Erhard. Bei den anderen wurde dann das, was an Steuerentlastung erreicht wurde, durch Erhöhung von Beiträgen für Sozialversicherungsabgaben usw. weggenommen.
Herr Waigel hat heute morgen gesagt, der nordrhein-westfälische Finanzminister sei überhaupt gegen jede Steuersenkung. Nein, ich sage seit Jahren, daß man sie jetzt nicht machen kann, solange wir diese Haushaltssituation haben. Das habe ich auch schon gesagt, als die alte Bundesregierung im Amte war. Das werden hier viele bestätigen, daß ich das gesagt habe.
Wenn wir Steuersenkungen machen, dann — das
kann ich sagen — nur, wenn in erster Linie die
Steuersenkungen denen zugute kommen, die auch Sozialabgaben zu entrichten haben, denn die sind belastet.
Alle Nichtarbeitnehmer und alle diejenigen Arbeitnehmer sind es nicht, die mit ihrem Einkommen über den Beitragsbemessungsgrenzen der Sozialversicherung liegen; mit dem Teil werden sie auch nicht für Sozialabgaben erfaßt. Es gibt einige geschickte Leute in unserem Land, die können in der Steuerpolitik diejenigen, die nicht gemeint sind, verrückt machen und verunsichern, damit diejenigen, die gemeint sind, ungeschoren davonkommen.
Die nordrhein-westfälische Finanz- und Steuerverwaltung hat eine Fallsammlung vorgelegt, die bisher von niemandem bestritten werden konnte. In dieser Fallsammlung haben wir nachgewiesen, daß es in unserem Land Bürger gibt, die 400 000, 500 000 DM und mehr im Jahr verdienen und überhaupt keine Mark Steuern zahlen.
Wir haben das nachgewiesen. Wir haben das veröffentlicht. Ich habe es an meine sämtlichen Finanzministerkollegen in den Ländern geschickt.
— Ich komme darauf. — Und das geschieht dadurch, daß Möglichkeiten, Gestaltungsmöglichkeiten des Steuerrechts, die für diese Zwecke nicht gedacht sind, und Lücken der Steuergesetzgebung benutzt werden, um solche gewaltigen Steuerersparnisse zu erreichen.
— Aber sicher, Herr Hüsch, haben wir einen Antrag gestellt. Im Bundesrat hat das Land NordrheinWestfalen sofort, als wir diese Erkenntnisse hatten, einen Antrag gestellt, um Einschränkungen bei Verlustzuweisungen und bei Bauherrenmodellen zu erreichen. Leider ist dieser Antrag, ohne daß in den Ausschüssen des Bundesrates auch nur über Alternativen geredet wurde, am 26. November 1982 abgewiesen worden. Das heißt, er kommt erst gar nicht in den Deutschen Bundestag.
Wir werden hier nicht locker lassen. Dies gehört zu einer solidarischen Gesellschaft, daß die unbestreitbar notwendigen Einschränkungen und Lasten gerechter getragen werden, als es jetzt nach Ihrem Konzept der Fall ist.