Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, Herr Kollege Westphal,
diese Darstellung ist, wenn ich sie exakt bewerte, nicht korrekt. Es ist nach meiner sicheren Erinnerung so, daß der Bund — das galt übrigens schon in der Zeit, als ich die Ehre hatte, das zuständige Ministerium zu leiten, nicht erst seit 1969 — vorfinanziert hat, auch in den 70er Jahren. Aber es ist richtig, daß die Länder nachher in der zweiten Hälfte der 70er Jahre überwiegend mit ihren Finanzleistungen nachgezogen haben. Der auf dieser Grundlage vereinbarte Ausbauplan ist durch die Finanzentscheidungen des Bundes seit 1980 in schlimmer
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Weise erschüttert worden. Ich bezweifle persönlich auch die verfassungsmäßige Legitimität dieses Verhaltens.
Was mir aber noch wichtiger ist, Herr Matthöfer, man kann nicht über zehn Jahre Bildungsexpansion mit dem vorrangigen Ziel des Hochschulstudiums in den Mittelpunkt linker Bildungsplanung und -werbung stellen und in dem Moment, in dem die meisten Absolventen aus den starken Jahrgängen die Hochschulen aufsuchen wollen, sagen, das sei überflüssig oder das sei nicht wachstumsfördernd oder das sei eine Sparkasse für unvermeidliche Kürzungsentscheidungen. Hier liegt der Punkt.
Wir haben die Gemeinschaftsaufgaben kurzfristig gestärkt. Wir haben das schon kurz erwähnte Sonderprogramm in Höhe von 2,5 Milliarden DM für den Wohnungsbau in den Jahren 1983/84 ermöglicht. Wir können noch lange über die Einzelheiten der Investitionshilfeabgabe streiten und diskutieren, ohne diese Entscheidung der neuen Koalition könnten wir 1983 und 1984 nicht den Verfügungsrahmen von 2,5 Milliarden DM ausschöpfen, um damit wesentlich höhere private Investitionen — in dem Sinne ja auch Nachfrage nach vielen Gütern anderer Wirtschaftszweige — auszulösen. Manche Sachverständige meinen, daß hierdurch eine private Investition von bis zu 10 Milliarden DM ermöglicht wird. Ich stelle mit großer Freude fest — es ist eben von Herrn Gärtner schon gesagt worden —, wie sehr sich nun auch Institute wie die Bank für Gemeinwirtschaft, die Neue Heimat, viele sozialdemokratisch bestimmte Wohnungsbaugesellschaften in ihrer Werbung und in ihren Dispositionen auf die große Möglichkeit einstellen. Ich hoffe übrigens, daß das auch viele sozialdemokratische Mitglieder und Wähler tun werden, denn dieses ist ein Angebot für Bürger aus allen soziologischen Gruppen, und es ist ein Angebot für Bürger aller politischen Orientierungen, die sich ein Eigenheim oder Eigentum in einer Kleinsiedlung schaffen wollen.
Spätestens, Herr Ehmke, Herr Matthöfer, an diesem Schwerpunkt unseres neuen Programms wird doch klar, wie unsinnig dieses ganze Gerede von der Umverteilung von unten nach oben ist.
Wer will denn bauen in diesem Lande? Wer sind denn diejenigen, die in großer Zahl für sich und ihre Familien Eigenheime oder Kleinsiedlungen schaffen wollen? Das sind doch genauso wie Angestellte und Beamte, wie Selbständige auch sehr viele Arbeiter, und für sie alle bietet das Angebot der neuen Bundesregierung eine Möglichkeit, die sie — auch zum Nutzen der Bauwirtschaft und der Bauarbeiter — nutzen werden.
Der dritte Punkt, den wir unter diesen radikal verschlechterten Bedingungen geschaffen haben, ist die Entscheidung für vorgezogene Steuerentlastungen. Ab 1. Oktober 1982 gilt, wenn der Bundes-
tag jetzt so beschließt, der Schuldzinsenabzug für den Wohnungsbau, für eigengenutzte Häuser und Wohnungen. Ab 1. Januar 1983 gilt die Entlastung bei der Gewerbesteuer, die für den Schuldzinsenabzug bei Dauerschulden dringend notwendig ist, eine Entlastung mit einer Ausgleichsregelung, Herr Kollege Matthöfer, die den Städten und den Gemeinden insgesamt mehr bringt, als diese hierdurch verlieren. Mit Ihrer Kritik sollten Sie ein bißchen vorsichtig sein, wenn ich einmal an Ihre Politik in den vier Jahren, in denen Sie Bundesfinanzminister waren, bezüglich der Steuer- und Finanzverteilung im Hinblick auf Länder und Gemeinden erinnere.
Das haben Sie in dieser Form nicht fertiggebracht, obwohl — das füge ich hinzu — das Aufkommen aus der Mehrwertsteuererhöhung erst ab Jahresmitte 1983 zur Verfügung steht.
Sie können das hier noch ein paarmal ansprechen, aber es läßt sich überhaupt nicht bestreiten, daß wir die Mehrwertsteuererhöhung in einem unmittelbaren Gesetzgebungs- und Sachzusammenhang mit den steuerlichen Entlastungen sehen, während Sie sie immer wieder dazu benutzen wollten, Deckungslöcher zu stopfen.
Als vierten Punkt will ich schließlich die Sofort-entscheidung dieser Woche zur Festigung der erschütterten finanziellen Situation der Sozialversicherung, insbesondere der Rentenversicherung, hervorheben. Auf diesem Felde habe ich durch die bedrückende Entwicklung der letzten Monate und Jahre noch einiges dazugelernt. Obwohl wir die Rentenanpassung, die nächste Rentenerhöhung, um sechs Monate hinausschieben, mußten wir kurzfristig gegenüber Ihrer Beschlußlage Milliardenbeträge mobilisieren, damit die Liquidität der Rentenversicherung 1983 gewährleistet ist.
— Natürlich ist das richtig! Aber selbstverständlich, Herr Kollege Westphal!
— Meinen Sie denn, es hat uns Freude gemacht, die Beitragserhöhung um vier Monate vorzuziehen? Nicht nur die Rentenversicherer, sondern auch die Mitarbeiter Ihres früheren Ministeriums und meines Ministeriums haben das in eindringlicher Form verlangt. Natürlich haben wir den Finanzrahmen insgesamt gestärkt und verbessert.
Die ständige Schwächung und Aushöhlung der Finanzgrundlagen der sozialen Sicherung ist die schwerste sozialpolitische Sünde, die die Sozialdemokratische Partei — neben der Verantwortung, die sie für die steigende Arbeitslosigkeit übernehmen muß — begangen hat.
Lieber Herr Matthöfer, ich kann mich nur darüber wundern, daß Sie bei diesem Bild einer in
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wenigen Monaten so drastisch verschlechterten Finanzlage,
wie ich sie an Hand der Eckdaten noch einmal dargestellt habe, hier in Ihren Eingangsworten ausrufen: Wo bleibt die Rückgabe der heimlichen Steuererhöhungen? Das ist doch ein makabrer Witz!
Sie haben hier noch im September mit Herrn Lahnstein erklärt, die Finanzen des Bundes seien für 1983 um 18 Milliarden DM besser, als wir es vier Wochen später feststellten.
Und dann kommen Sie im Dezember hierher und fragen, wo die Rückgabe der heimlichen Steuererhöhungen bleibt! Nein, zunächst einmal muß der Schutt weggeräumt werden, den Sie uns hinterlassen haben, ehe wir über weitergehende Dinge reden können.
Lieber Herr Matthöfer, ich bitte Sie nun wirklich! Um 18 Milliarden DM in sechs Wochen hat sich die Lage verschlechtert, und Sie kommen hierher und fragen: Wo bleibt die Rückgabe der heimlichen Steuererhöhungen? Nein, wir haben noch ein paar Jahre — auf die Perspektiven nach der Wahl komme ich noch zu sprechen — in einer großen Gemeinschaftsleistung zu tun. Ich nehme an, daß Sie sich auch in der nächsten Wahlperiode von den Bänken der Opposition aus etwas tatkräftiger an der Lösung der Probleme beteiligen werden, als Sie es jetzt vor der Wahl in Ihren Reden tun.
Ich muß das auch einmal zu einigen anderen Ausführungen hier wirklich sagen, die ich sehr schwer verstehen kann. Zunächst einmal sind Sie einer Fehlinformation aufgesessen; ich sage das wirklich in der höflichsten Form. Sie behaupten, die Regierung beschließt einen Gesetzentwurf zur Investitionshilfeabgabe, obwohl der Justizminister zu Protokoll gibt, daß er ihn für verfassungswidrig hält. Dies ist eine Fehlinformation. Seien Sie etwas vorsichtiger mit dem, was in den einschlägigen Organen über Kabinettsitzungen berichtet wird — bis zum PPP allerdings; Sie haben da Ihre eigenen Erfahrungen, daß das nicht immer ganz stimmt, was in wörtlichen Zitaten montags und donnerstags aus Hamburg und von woanders auf den Markt kommt. Da Sie selbst gelegentlich der Leidtragende waren und sind, empfehle ich, sich zuvor zu erkundigen. Auch dieser Beschluß des Kabinetts zur Investitionshilfeabgabe ist einstimmig gefaßt worden. Der Justizminister hat in der Debatte gesagt, es gebe unter den vielen hervorragenden Juristen einige, die gewisse rechtliche Probleme sehen würden. Das ist Ihnen ja auch nicht ganz neu, daß Justizminister gelegentlich so etwas sagen, auch zu Kabinettsbeschlüssen, die Sie vertreten haben. Dies ist einstimmig gefaßt worden, nachdem noch einmal die
Rechts- und Verfassungsjuristen des Finanzministeriums — die kennen Sie, die haben sich nicht verändert —, des Innen- und Justizministeriums nach gewissenhafter Prüfung gesagt haben: Jawohl, die Verfassungs- und Rechtsgrundlagen sind in Ordnung. — Nun wird irgend jemand dagegen klagen. Ja, wogegen wird in Deutschland nicht geklagt, Herr Matthöfer? Es wird fast kein Gesetz und keine Verordnung verkündet, gegen die nicht geklagt worden ist. Unser Wunsch ist es allerdings, die Zahl der für den Finanzminister und die Bundesregierung so negativen Verfassungsgerichtsurteile, wie Sie sie bekommen haben, in der Quote ein ganzes Stück herunterzubringen.
Deswegen nehmen wir auch manche Dinge etwas ernster.
Ich will auf Ihre Bemerkungen zu meiner Personalpolitik nicht eingehen. Ich sage das in Ihrem Interesse, Herr Matthöfer, daß ich darauf nicht eingehe. Ich sage nur eins. Wenn Sie das weitermachen — oder andere von Ihnen —, dann werden Sie sich natürlich an dem Beispiel messen lassen müssen, das Alex Möller 1969 im Finanzministerium gesetzt hat. Er hat den Kahlschlag gemacht und nicht ich. Das ist der Unterschied.
Aber ich gehe darauf aus Gründen, die ich mir überlegt habe, nicht weiter ein, obwohl es politisch gar nicht ohne Reiz wäre, das ein bißchen zu vertiefen. Ich schlage vor, daß wir diese Diskussion beenden. Unsere Personalpolitik ist überwiegend durch Kontinuität bestimmt. Ich habe, das will ich gerne Ihnen und meinen Vorgängern auch sagen, sehr viele tüchtige und erfahrene und fähige Beamte in einem insgesamt sehr leistungsfähigen Ministerium kennengelernt. Das ist ein positiver Teil der Erblast — um diesen Punkt auch einmal unter uns freundschaftlich hier abzuschließen.
Das gilt übrigens auch für den großen Rechtsprofessor Ehmke. Der hat ja seine Rede hier als Manuskript verteilt. Das ist immer sehr verdienstvoll. Er sagt auch unbekümmert weiter — als einen der großen Vorwürfe —, daß wir die von der sozialliberalen Koalition bereits beschlossene Begrenzung der Vorteile aus dem Ehegattensplitting wieder rückgängig machen. Nun gibt es ja mittlerweile ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von Anfang November. Daraus will ich dem Rechtsprofessor Ehmke — er ist mittlerweile da; das ist eine große Freude — einen Kernsatz vorlesen:
Das Ehegattensplitting ist keine beliebig veränderbare Steuervergünstigung, sondern unbeschadet der näheren Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers eine an dem Schutzgebot des Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Ehepaare orientierte sachgerechte Besteuerung.
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Es steht nicht zu Ihrer Disposition, Herr Ehmke, in der Form, wie Sie sich das vorgestellt haben.
Dieses Urteil läßt dann die Möglichkeit offen, es in ein Familiensplitting umzuwandeln.
— Es geht um den Grundsatz, daß es in der von Ihnen gewählten willkürlichen Kappungsform nicht zur Disposition steht, Herr Ehmke.
— Machen Sie sich keine Sorge. Sie werden mit Ihrer Auffassung in der ernsthaften sachverständigen deutschen Öffentlichkeit praktisch keine Unterstützung mehr finden. Das ist die schlichte Wahrheit.
— Da kommen, Herr Spöri, die Zwischenrufe von jenen Finanzpolitikern der SPD, die jene Gesetzgebung zu vertreten haben, die das Verfasungsgericht im selben Urteil auch in Frage stellt wegen Benachteiligung der alleinstehenden Erzieher und der Familien. Seien Sie ein bißchen vorsichtiger, gehen Sie in sich, wenn solche Urteile über ihre Taten der vergangenen acht bis zehn Jahre hier jetzt zum Zeitpunkt des Regierungswechsels kommen!
Meine Damen und Herren, die von mir genannten vier Punkte der neuen Politik zeigen: Nur durch konsequente Sparentscheidungen gewinnen wir den Handlungsspielraum für Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik wieder.
Bis heute wird von den Sozialdemokraten dieser Zusammenhang und die Begründung der einzelnen Sparentscheidungen im Interesse des vorrangigen Ziels, Mittel, Kräfte zur Lösung der Wirtschafts- und Arbeitsmarktprobleme zu mobilisieren, systematisch verschwiegen und systematisch verdreht, wenn ich die Rede von Herrn Ehmke von gestern noch einmal unter diesem Gesichtspunkt bewerte.
Die eigene Verantwortung für die Krise wird geleugnet. Es ist die bekannte Methode, Herr Ehmke, der letzten 12 Jahre: Immer, wenn es aufwärtsging, war das ein großer Erfolg der Regierungen Brandt und Schmidt; aber immer wenn es abwärtsging, wenn die Talfahrt begann, gab es nur einen Verantwortlichen: die anonyme Weltwirtschaft und ihre Krise.
Dieses simple Grundmuster nehmen Ihnen die meisten, nimmt Ihnen die große Mehrzahl der urteilsfähigen Bürger unseres Landes nicht mehr ab.
Sie sollten, wenn Sie unsere Positionen kennzeichnen, von diesen Klischees einmal herunterkommen.
Wir haben in der ersten Lesung hier in mehreren Beiträgen aller Fraktionen eine vertiefte und ernsthafte Erörterung der nationalen und internationalen Ursachen für die Krise in ihren verschiedenen Komponenten und Elementen geführt. Es ist einfach schlicht unwahr, wenn Sie bestreiten, daß viele von uns, auch ich in meinen Reden von der Bank des Bundesrates, in den vergangenen Jahren jemals bestritten oder geleugnet hätten, daß es neben nationalen Fehlentscheidungen, deren Folgen offenkundig sind, auch schwerwiegende Folgen weltwirtschaftlicher Prozesse und Verwerfungen gibt. Sie unterschätzen uns in unserer Weite der Betrachtung und in unserem Verantwortungsbewußtsein der vergangenen Jahre, wenn Sie das weiter behaupten wollen.
Aber wahr ist auch, Herr Kollege Ehmke, Herr Kollege Matthöfer, daß vor mehr als zehn Jahren zwei namhafte sozialdemokratische Bundesfinanzminister zurückgetreten sind, weil sie die Verantwortung für eine Politik nicht mehr tragen wollten, deren schlimme Spätfolgen uns alle jetzt ergreifen und belasten.
Herr Ehmke geht zwar leichtfertig mit den Tatsachen um, wie er gestern wieder bewiesen hat,
aber er wird doch jedenfalls noch den Kalender respektieren. Der Rücktritt von Alex Möller 1971 und der Rücktritt von Karl Schiller im Frühjahr 1972 lagen vor der ersten Weltwirtschaftskrise, um die Kausalitäten und Zusammenhänge einmal richtig darzustellen.
Wir müssen sehr auf Herrn Ehmke aufpassen, sonst wird er die Weltwirtschaftskrise demnächst auch noch um zwei Jahre zurückverlegen, in der Art, wie er sonst hier mit den Fakten umgegangen ist.
Herr Ehmke, Sie haben Ihre ganz besondere Form der Mitwirkung gerade beim Rücktritt von Karl Schiller gehabt, was man alles bei Baring nachlesen kann.
Ihre Rolle wollen wir hier gar nicht näher erörtern. Das ist von dem bedeutenden sozialdemokratischen Politikwissenschaftler Arnulf Baring in seinem lesenswerten Buch „Machtwechsel" schon im einzelnen beschrieben. Darauf gehe ich aus Zeitgründen
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jetzt nicht ein. Herr Ehmke, das behalte ich mir für eine spätere Debatte vor, wenn Sie hier noch einmal in der Form antreten, wie Sie das gestern getan haben. Das ist etwas mehr für Kenner und Beteiligte.
Die Rücktrittsschreiben dieser beiden bedeutenden sozialdemokratischen Politiker sind Schlüsseldokumente nicht nur für die spätere historische Forschung, sondern auch für die aktuelle vertiefte politische Diskussion, weshalb wir in diese schlimme Lage hineingekommen sind, die wir jetzt mit einer großen Kraftanstrengung und auch manchen Einschränkungen für die Bürger überwinden müssen. Das ist der entscheidende Punkt.
Herr Kollege Wieczorek, damit wir die entscheidenden Tatbestände richtig sehen: In der Momentaufnahme ist das sicher richtig, was Sie hier vorgetragen haben über den Umfang der Verschuldung einer Reihe namhafter westlicher Länder, gemessen am Sozialprodukt.
In der Momentaufnahme ist das sicher richtig. Aber seit zwei, drei Jahren, Herr Kollege Westphal, ist es so, daß wir uns im Tempo der Neuverschuldung bedrohlich der Spitzengruppe nähern. Im Tempo der Neuverschuldung hat sich die Position der Bundesrepublik Deutschland leider — spätestens seit 1980 spürbar — verschlechtert, übrigens auch im Vergleich zu einem Land wie Großbritannien, das hier in seinen Schwierigkeiten ein bißchen abfällig und mit einem bißchen Überheblichkeit zitiert wurde, die Ihnen, Herr Kollege Matthöfer, eigentlich nicht mehr zusteht.
Das Problem des Tempos der Neuverschuldung ist das eigentlich Beunruhigende, nicht die Momentaufnahme, die ja nicht so sehr aussagekräftig ist.
— Ja, zwei Währungsreformen und die Tatsache,
daß wir bis 1969 keine Schulden gemacht haben,
das alles geht natürlich in diese Rechnung mit ein.
Meine Damen und Herren, Kürzungen tun weh. Diese Erfahrung hat jeder Bundesfinanzminister gemacht, auch der Herr Kollege Matthöfer. Ich will den großen Redner der SPD, Herrn Ehmke, noch einmal an die Erfahrung vor gut einem Jahr erinnern, nachdem er schon bemüht war, die Erinnerung an den September aus seinem Bewußtsein zu tilgen.
Ich gehe jetzt sogar ein Jahr zurück. Vor einem Jahr hatten wir im Bundestag, im Bundesrat und im Vermittlungsausschuß die großen Debatten über die sogenannte Operation 1982 der Regierung Schmidt. Ich will hier ausdrücklich bestätigen, daß es damals auch von uns Kritik an Einzelpunkten
Ihrer Kürzungsvorschläge gegeben hat, etwa in den Stellungnahmen des Bundesrats.
— An einer Reihe von Punkten. Frau Simonis, ich spreche hier für den Bundesrat und für mich und mit gewissen Varianten — denn wir sind nicht ein uniformer Block in Bundestag und Bundesrat — auch für die damalige CDU/CSU-Fraktion. So erinnere ich mich, daß wir damals Ihre Kabinettsentscheidung kritisiert haben, die Anfangsförderung bei den Werkstätten für Behinderte abzuschaffen oder die originäre Arbeitslosenhilfe zu streichen. Wir haben dann im Vermittlungsverfahren gewisse Korrekturen erreicht.
— Herr Kollege Matthöfer, ich komme gleich noch auf diesen Punkt.
Ich erinnere Sie aus zwei Gründen: einmal, weil die von Ihnen begonnene, aber in den Ergebnissen
eben nicht überzeugende Politik der Einsparungen nach 1980 auch leider gar nicht daran vorbeikam, wenn man kürzen mußte — und Sie mußten es vor ein, zwei Jahren auch —,
soziale Bereiche, Besitzstände, auch der unteren und mittleren Einkommensgruppen anzutasten — hier sogar, was ich als eine Härte empfunden habe, bis in den Bereich der Behinderten hinein.
— Herr Spöri, Sie sollten bei dem, was Sie jetzt vortragen, nicht vergessen, was Kürzungspolitik in Ihrer Verantwortung im Grundsatz bedeutet hat.
Es gibt so Sprüche des Herrn Hans-Jochen Vogel
— ich will einmal etwas freundlicher „Reden" sagen —, denn man muß im Moment darüber diskutieren, wie der Herr Ehmke hier zustimmend zitiert
— ich suche das aus der Ehmke-Rede heraus, die wirklich eine wahre Fundgrube ist —:
„Maßhalten beginnt nicht bei der Sozialhilfe, sondern bei der Vergütung von Aufsichtsräten."
Ich habe nichts dagegen, daß die Aufsichtsratsvergütungen herabgesetzt werden.
Es gibt eine Reihe bedeutender Mitglieder in Aufsichts- und Verwaltungsräten aus Ihrem politischen Lager, für die ich heute Verantwortung trage. Ich warte auf den ersten, der dort einmal Anträge stellt,
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meine Damen und Herren. Ich werde keine Schwierigkeiten machen, wenn die Vorlagen kommen.
Ich kann insofern dem Herrn Kollegen Hans-Jochen Vogel zustimmen, daß es in dieser schwierigen Situation auch einmal an der Zeit ist, in den Vorständen und Aufsichtsräten darüber zu reden, ob man nicht ein Zeichen der Solidarität in freiwilligen Entscheidungen gibt, ein Stück nach unten zu gehen. Ich begrüße es, daß Herr Esser an die Wirtschaft appelliert hat, auch öffentlich, in der Frage der Besoldung der leitenden Angestellten einigen Überlegungen von Norbert Blüm näherzutreten, als das andere getan haben. Ich bin damit einverstanden. Nur, wenn ein führender Politiker meint, den Eindruck erwecken zu können — und Herr Ehmke das hier zitiert —, als ob es eine Alternative zwischen Begrenzungen bei den Aufsichtsräten und Kürzungen und Eingriffen in soziale Besitzstände gäbe,
dann wäre das eine grobe Täuschung.
Im übrigen, Herr Ehmke, hat mich Ihre neue Art des Zitierens sehr beeindruckt. Der Herr Kollege Ehmke — wir werden das, sicher nicht mehr in diesem Hohen Hause, aber vielleicht später, noch ein paarmal erleben — hat also gesagt, daß der geschätzte Kollege Hans-Jochen Vogel den Papst Johannes Paul II. richtig zitiert habe. Warum zitieren Sie den Papst nicht selbst? darf ich einmal fragen.
Herr Kollege, diese Methode ist erweiterungsfähig. Das nächste Mal sagen Sie dann — ich gebe mal eine Anregung —, daß Willy Brandt zu Recht das Zitat von Hans-Jochen Vogel hervorgehoben habe, in dem er auf die hervorragenden Worte des Heiligen Vaters hingewiesen habe.
Wir geben Ihnen bessere Anregungen, als Sie sie uns bisher in den Fragen der Finanzpolitik gegeben haben. Das müssen Sie doch absolut zugeben.
Aber ich will zur Sache zurückkehren. Kürzungen tun weh. Ich will das hier in allem Ernst sagen. Ich habe die Beispiele aus Ihren Sparvorschlägen vor einem Jahr genannt. Man kommt daran nicht vorbei — und das hat der frühere Bundeskanzler Schmidt zu Recht gesagt —, wenn man drastisch sparen muß, die breiten Schichten der Bevölkerung und Sozialleistungen nicht freizustellen.
— Es geschieht dazu j a auch einiges.
Darauf komme ich noch.
Ich will daran erinnern, daß wir vor einem Jahr
— bei aller Kritik an vielen Ihrer Entscheidungen
— Mitarbeit, Mitverantwortung und eigene Vorschläge geleistet haben.
— Nein, nicht nur. Zu Ihrer Rede über Sozialhilfe und dem, was Herr Ehmke hier gesagt hat, sage ich nur — das war ziemlich schlimm —:
Sie wissen ganz genau aus öffentlichen Erklärungen sozialdemokratischer Ministerpräsidenten — schauen Sie sich nur noch einmal die Erklärungen der Bremer und des Hamburger Senats an; ich könnte auch andere zitieren, die es mir gesagt haben —, daß es die einmütige Meinung der Verantwortlichen in den Ländern wie den kommunalen Spitzenverbänden war, daß die Kostenexpansion bei der Sozialhilfe durch gesetzliche Entscheidungen abgebremst werden muß,
Herr Ehmke, auch aus Gründen, die in der Diskussion der Gewerkschaften und anderer eine Rolle spielen. Die Zahl der Stellungnahmen, Eingaben und kritischen Bemerkungen gerade aus dem Bereich der Gewerkschaften und Berufsverbände, in denen wir alle darauf hingewiesen werden, daß manche Berufstätige, die vielzitierte Frau mit 30 Jahren, verwitwet oder geschieden, mit zwei Kindern, die als Verkäuferin arbeitet, nach Meinung der Gewerkschaft ÖTV und des Deutschen Beamtenbundes auch manche in den untersten Einkommensgruppen des öffentlichen Dienstes, ein geringeres Familieneinkommen haben als manche aus der Sozialhilfe, nimmt doch zu.
Auch ich bin der Meinung, daß man Veränderungen in der Sozialhilfe im Rahmen einer Neuordnung des Systems sehr sorgfältig im Hinblick auf Wirkungen und soziale Härten hin entwickeln und diskutieren muß und das, was wir hier vorgesehen haben, nur ein Übergangsschritt sein kann.
Ich habe in einem Gespräch, das der Bundeskanzler mit den kommunalen Spitzenverbänden geführt hat, an sie appelliert, mit ihrem Sachverstand dafür sorgfältig erwogene Vorschläge zu machen. Aber, Herr Ehmke, es ist nicht nur eine finanzielle Frage — für die Kommunen in einer schon bedrängenden Weise —, es ist auch eine sozial-ethische Frage für uns, ob wir nicht in eine Entwicklung hineingekommen sind, in der immer mehr berufstätige Menschen, gerade Menschen mit kleinen Einkommen, sich fragen, ob ihnen im Vergleich zu anderen, die vergleichbar sind, nicht die materielle Anerkennung für berufliche Tätigkeit und Leistung vorenthalten wird.
Diese Frage muß man auch ernst nehmen, wenn
man über das Verhältnis von Arbeitnehmereinkommen, aber auch von manchen Selbständigen in den
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unteren Einkommensgruppen und bestimmten sozialen Leistungen, heute redet.
Meine Damen und Herren, ich will nur noch folgendes sagen. Sie haben Kritik an Sparbeschlüssen geübt. Sie haben uns jetzt Einzelentscheidungen der Regierung Schmidt angelastet. Herr Ehmke sagt auf Seite 8 seines Manuskripts — ich bin ja nun schon einiges von ihm gewohnt, aber ich habe meinen Augen nicht getraut, als ich das las —, die Selbstbeteiligung an den Krankenhauskosten sei ein Beispiel unsinniger Bürokratie.
— Das habt ihr doch beschlossen im Sommer vergangenen Jahres, verehrte Kollegen.