Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zehn Wochen Beschäftigungs-, Haushalts- und Finanzpolitik der neuen Regierung geben genug Anschauungsmaterial, alte Versprechen und tatsächliches Verhalten der Rechtskoalition miteinander zu vergleichen.
Wo bleibt die Rückgabe heimlicher Steuererhöhungen,
die CDU/CSU-Redner mit großem Pathos zu fordern hier nicht müde wurden?
Lehnte man nicht noch vor drei Monaten eine Mehrwertsteuererhöhung deshalb ab, weil die beabsichtigte Senkung der Lohn- und Einkommensteuer nicht im selben Gesetz geregelt war?
Soll jetzt keine Senkung beschlossen werden und
das ungeheuer dynamische Wachstum des Lohn-
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steueraufkommens einfach so weiterlaufen, gewissermaßen als zusätzlicher Beitrag zur Umverteilung zugunsten der oberen Einkommensschichten? Es nützt überhaupt nichts, Herr Kollege Waigel, wenn Sie hier die hohe Belastung der Arbeitnehmer beklagen, aber die von uns geplante Lohnsteuersenkung zum 1. Januar 1984 nicht durchführen.
Bedrückt es den Herrn Bundeskanzler nicht, daß er trotz aller schwerwiegenden Bedenken, die er hier von diesem Platz vor kurzer Zeit vorgetragen hat, die Mehrwertsteuer nun doch erhöhen will, eine Zwangsanleihe einführen will und mit höheren Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung, vorgezogenen Beitragserhöhungen zur Rentenversicherung die Abgabenlast kräftig erhöhen will, Herr Waigel? Ist es richtig, Herr Bundeskanzler, daß Sie für die Zeit nach dem 6. März weitere Mehrwertsteuererhöhungen planen?
Sie haben versprochen, Bürokratie abzubauen. Und was tun Sie? Statt der verfassungsrechtlich einwandfreien Ergänzungsabgabe führen Sie eine fragwürdige bürokratieerzeugende Zwangsanleihe mit komplizierter Investitionsgegenrechnung ein. Die konzentrationsfördernde Insolvenzrücklage, die Umwandlung von BAföG-Zahlungen in Darlehen, die Kostenbeteiligung beim Krankenhausaufenthalt sind gleichfalls mit enormem bürokratischem Aufwand verbunden.
Was kostet die Einführung der Einkommensgrenze beim Kindergeld wirklich, Herr Bundesfinanzminister?
Wie hoch ist das Aufkommen? Müssen wir nur mit 150 oder 200 Millionen DM Verwaltungskosten rechnen? Ich halte die 100 Millionen DM, die der Haushaltsausschuß eingesetzt hat, nach den mir damals vorgelegten Zahlen, die ich sorgfältig geprüft habe, für viel zu niedrig. Sind die Kosten für die Millionen nicht betroffener Kindergeldbezieher, die ja wohl ebenfalls — es ist technisch gar nicht anders zu machen — eine Erklärung abgeben müssen, und die Kosten der Finanzämter, die die Bescheinigungen ausstellen müssen, in diese bürokratieerzeugende Maßnahme einbezogen?
Sie haben versprochen, die Nettokreditaufnahme zu senken. Noch im September haben Sie eine vom jetzigen Bundeskanzler und von den anderen Mitgliedern der CDU/CSU-Fraktion unterzeichnete Klage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht, in der die Höhe der damaligen Nettokreditaufnahme für 1981 und für 1982 als verfassungswidrig bezeichnet wurde. Wenige Wochen später erhöhen Sie diese angeblich schon verfassungswidrige Nettokreditaufnahme ohne jede weitere Begründung um viele Milliarden, ohne auch nur den Versuch zu machen, mit allen Mitteln der Ausgabekürzung die Notwendigkeit, Kredite aufzunehmen, zu vermindern.
Die Begründung, Sie hätten zuwenig Zeit gehabt, Herr Bundesfinanzminister, kann ich nicht akzeptieren. Auch sozialdemokratische Finanzminister haben in kurzer Frist reagiert, wenn sich wirtschaftliche Daten veränderten. Und Sie hätten gewiß schneller, gründlicher und besser arbeiten können, wenn Sie nicht so viele loyale, qualifizierte und leistungsfähige Beamte Ihres Ministeriums aus dem aktiven Dienst vertrieben
oder nur deshalb von Entscheidungsprozessen ausgeschlossen hätten, weil sie Sozialdemokraten sind.
Was ist denn eigentlich aus der fünf-, acht- oder auch zehnprozentigen Minderung aller Subventionen geworden, die Sie immer und immer wieder gefordert haben, obwohl ich Ihnen, Herr Bundeskanzler, ausführlich die Undurchführbarkeit dieses Vorschlags dargelegt hatte? Nun stellt sich heraus, daß er offenbar gar nicht ernstgemeint war und nur zur Täuschung und Irreführung der Wähler diente. Jetzt, wo Sie die Mehrheit hätten, um ihn zu verwirklichen, versuchen Sie das nicht einmal.
Als besonders unpassend empfinde ich, Herr Bundesfinanzminister, daß Sie einerseits von einer weltweiten Wirtschaftskrise sprechen, andererseits die Folgen der Änderung der vorausgeschätzten Wirtschaftsdaten als Erblast bezeichnen.
Und der für die Schätzung verantwortliche federführende Wirtschaftsminister sitzt daneben und lächelt und nickt Zustimmung.
Haben Sie sich denn entschlossen, Herr Graf Lambsdorff, die Frage des bayerischen Ministerpräsidenten Strauß nach Ihrem Aufenthaltsort in den letzten zehn Jahren zu beantworten?
Wo waren Sie denn? Auf dem Mond? Auf einem
Stern? In einer Taucherglocke in der Tiefsee? Ver-
schollen im indischen Dschungel? In einem sibiri-
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schen Schweigelager? Wo sind Sie denn in den zehn Jahren gewesen?
Oder haben Sie wirklich doch an allen wirtschafts- und finanzpolitischen Entscheidungsprozessen maßgeblich teilgenommen —
um dann natürlich anschließend Herrn Hoppe loszulassen, der sich von den auch mit seiner Zustimmung einvernehmlich erzielten Ergebnissen regelmäßig öffentlich distanzierte, offenbar um so den Wechsel vorzubereiten,
mit dem Sie sich dann endgültig aus der Verantwortung für die gemeinsame Politik schleichen wollen?
Aber dieser Wechsel wird platzen. Das deutsche Volk wird Ihnen am 6. März nicht nur für Ihren Wortbruch, sondern auch für diese Art politischer Drückebergerei die richtige Quittung geben.
Mißverstehen Sie mich nicht, Herr Bundesfinanzminister; ich halte die erhöhte Nettokreditaufnahme für 1982 und 1983 für richtig. Alles andere wäre wirtschafts- und finanzpolitischer Wahnwitz gewesen; Sie hätten noch größeren Schaden angerichtet, als Sie es sowieso schon tun.
Ich hätte aber doch gerne eine Antwort: Handeln Sie nun nach Ihren eigenen Kriterien, wie Sie sie in der Klagebegründung auf vielen Seiten dargelegt haben, bewußt verfassungswidrig, oder haben Sie Ihre Klagebegründung gar nicht ernstgemeint?
Haben Sie den Vorwurf verfassungswidrigen Handelns leichtfertig erhoben und das Bundesverfassungsgericht zum Instrument des politischen Tageskampfes herabgewürdigt?
Der Sachverständigenrat schreibt, die sozialliberale Bundesregierung habe die Grundlagen für den mittelfristigen Abbau des sogenannten strukturellen Defizits gelegt, und deshalb könne ein konjunkturell bedingter Anstieg der Neuverschuldung hingenommen werden. Sie, Herr Bundesfinanzminister, haben diese von uns immer vertretene Argumentation aufgegriffen. Wenn sie Ihnen hilft, den Anstieg der Neuverschuldung auf über 40 Milliarden DM — dabei wird es vor allen Dingen auch im
nächsten Jahr noch lange nicht bleiben — hinzunehmen, so soll uns das recht sein.
Wenn Sie sagen, hier würden zum erstenmal solide Zahlen geschätzt: Solange derselbe Wirtschaftsminister Ihnen die Zahlen liefert, so lange bleibe ich mißtrauisch gegenüber allen Prognosen, die ja immer auch einen berechtigten normativen Charakter haben müssen.
Sie halten es für richtig, trotz der konjunkturellen Verschlechterung, die sich im Rückgang des Bruttosozialprodukts im dritten Vierteljahr um 1,5 % oder im Jahresvergleich um 2 % zeigt, mit ungewöhnlicher Hektik mit starken Kürzungen in die Systeme der sozialen Sicherheit, des Familienlastenausgleichs, des Wohnungsbaus und Wohnungsmarktes und der Bildungschancen einzugreifen. Sie beschreiten damit einen gefährlichen Weg.
Ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, an dem sich nach einer anhaltenden Stockungsphase eine tiefe Rezession anbahnt, entziehen Sie dem volkswirtschaftlichen Kreislauf Kaufkraft und Nachfrage in einer Größenordnung von einem Prozent des Bruttosozialprodukts
und schaffen damit zusätzliche Arbeitslosigkeit weit über das aus weltwirtschaftlichen Gründen unvermeidliche Maß hinaus. Wir bezweifeln, ob es richtig ist, über das bereits von uns geplante Maß hinaus Haushaltskonsolidierung in einer verstärkt rezessiven Phase zu betreiben, und wir bezweifeln, daß dies der Schlüssel zur Belebung der Investitionstätigkeit und zur Schaffung von Arbeitsplätzen sein kann. Eine ausreichende Nachfrage — dies habe ich Ihnen als Bundesfinanzminister hier immer wieder gesagt, meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion —,
ein stetig steigendes Masseneinkommen
sind gewiß keine hinreichende, aber eine unabdingbar notwendige Bedingung für Wachstum und Beschäftigung.
Der Sachverständigenrat schreibt völlig zu Recht:
Wenig Unterstützung kommt 1983 voraussichtlich vom Export. Für diese Einschätzung braucht man kein sonderlich pessimistisches Szenario für die Weltkonjunktur zu zeichnen. Die schwache Stelle ... ist und bleibt 1983 der private Verbrauch.
Wir sagen Ihnen, es ist eine außerordentlich riskante, ja geradezu unverantwortliche Strategie, so-
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wieso schwache Stellen durch bewußte politische Entscheidungen noch weiter zu schwächen.
Aber was kann man von einem Bundeskanzler und Parteivorsitzenden erwarten, der wirklich ernsthaft zu glauben scheint, im kommenden Wahlkampf dem deutschen Volk einreden zu können, die weltweite Wirtschaftskrise, von der der Bundesfinanzminister neuerdings immer wieder spricht, sei von der SPD dadurch verursacht worden, daß sie eine Umverteilung zugunsten der unteren Einkommensschichten vorgenommen habe — die „Nivellierung" von Herrn Waigel von vorhin —, und man könne die Welt dadurch wieder in Ordnung bringen, daß man den Reichen in der Bundesrepublik Deutschland mehr Geld verschaffe.
Muß jemand, der einen solchen Unsinn verbreiten läßt und verbreitet, nicht notwendigerweise eine falsche Politik machen?
Nun habe ich gestern mit großer Freude gehört, daß der Herr Bundeskanzler von einem konjunkturell bedingten Defizitanteil sprach. Das ist ein wirklicher Fortschritt! Nun, wie hoch ist dieser konjunkturell bedingte Anteil?
Wenn man Haushalte aufstellt, hört — das wissen die Herren Haushälter ganz genau — das allgemeine Gesabbel auf;
dann muß man Zahlen nennen. Wie hoch ist dieser Anteil'?
Beträgt er 15 Milliarden Steuerausfall und 10 Milliarden zusätzliche Mehrausgaben — mit unterschiedlicher Gewichtung dieser Faktoren; darüber läßt sich reden —,
also etwa 25 Milliarden DM? Warum, Herr Bundeskanzler, sagen Sie uns nicht, wie hoch Sie ihn schätzen?
Und wenn Sie uns dann gesagt haben, wie hoch dieser konjunkturbedingte Anteil ist: Wie hoch schätzt man dann den anderen notwendigen Anteil des Defizits, nämlich den kreislaufbedingten Anteil des Defizits? Ich empfehle Ihnen den Ihnen als Bundestagsdrucksache zugestellten Jahresbericht des Sachverständigenrates zur Lektüre. Dort finden Sie auf Seite 112 eine Darstellung dieses auch in normalen Vollbeschäftigungsjahren aus Kreislaufgründen notwendigen Defizits der öffentlichen Hände. Der Sachverständigenrat schätzt dieses Defizit auf etwa 20 Milliarden. Es gibt andere, die sagen: Es sind 40 Milliarden. Dies hielte ich für zu hoch; ich selbst meine, daß es zwischen 28 und 30 Milliarden DM sind, davon 15 Milliarden Bundesanteil.
Das ist das in Normaljahren erforderliche Defizit der öffentlichen Hände.
Wenn Sie nun die 25 Milliarden, die wir vorhin als konjunkturbedingt bezeichnet haben, und die kreislaufbedingten 15 Milliarden nehmen, kommen Sie auf den Betrag von 40 Milliarden DM, der in diesem Jahr in der Tat als Defizit entstanden ist. Das berühmte Märchen vom strukturellen Defizit, das durch die „hemmungslose Ausgabenwirtschaft" — Herr Finanzminister, Sie erinnern sich noch an Ihre Rede in München — und durch die „Schuldenmacherei" entstanden sei,
bricht in sich zusammen.
Ihre perfide Kampagne der letzten Jahre — „Schuldenmacherei" —
und der geplante Wahlkampf, der ja jetzt schon mit Zeitungsanzeigen anfängt, brechen in sich zusammen.
Sie werden, wenn Sie sich vernünftig verhalten, genauso viele Kredite aufnehmen müssen wie wir, oder Sie werden Massenarbeitslosigkeit erzeugen und anschließend ein noch höheres Defizit haben.
Es nützt ja nichts, über die Tücken des volkswirtschaftlichen Kreislaufzusammenhangs — —