Rede von
Helmut
Wieczorek
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach-
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Dezember 1982 8689
Wieczorek
dem wir gestern den Einzelplan 04 beraten und dabei die Grundzüge der Politik — einschließlich der Schaufensterreden — gehört haben,
habe ich eigentlich erwartet, Herr Kollege Carstens, daß wir uns heute sachlich mit dem Haushalt auseinandersetzen, daß wir jetzt wirklich zwei Tage lang eine Haushaltsdebatte führen, wobei auch die politischen Begleitumstände angesprochen werden.
Ich muß allerdings sagen: Sie haben an das angeknüpft, was gestern hier schon von Ihrem Bundeskanzler gesagt wurde. Ich möchte daran nicht Kritik üben, sondern versuchen, mit der gebotenen Sachlichkeit an dieses Thema heranzugehen.
Meine Damen und Herren, der jetzt aufgerufene Nachtragshaushalt ist die Basis für den Haushalt 1983 und für die folgenden Jahre. Leider hat es diese Regierung gescheut, Licht in die mittelfristige Finanzplanung zu bringen.
Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit scheinen unter dem Gesichtspunkt der bevorstehenden Wahlen nicht mehr oberstes Gebot zu sein.
Ohne die Debatte während der Aktuellen Stunde noch einmal aufrollen zu wollen, nur eine Anmerkung dazu: Alle Kreise unserer Bevölkerung, die Wirtschaft wie die Gewerkschaften, können das vielzitierte Vertrauen in unseren Staat nur gewinnen, wenn sie wissen, was der Staat in den nächsten Jahren von ihnen erwartet, und wenn sie wissen, was sie vom Staat zu erwarten haben.
In der Debatte ist gestern sowohl vom Bundeskanzler als auch vom Fraktionsvorsitzenden Dr. Dregger immer wieder der Versuch unternommen worden, unter Außerachtlassung der dringend gebotenen intellektuellen Redlichkeit an die Existenzangst und an die Gefühle der Menschen draußen zu appellieren. Die Verschleierungspolitik mündete in einer Verleumdungskampagne gegenüber der sozialliberalen Koalition.
Es ist schon erstaunlich, meine Damen und Herren, mit welcher Selbstgefälligkeit Herr Dr. Dregger Eigenlob verteilt, und es fehlt jeder Ansatz, ja jede Fähigkeit zur Selbstkritik.
Alle positiven Entwicklungen der letzten Wochen wie beispielsweise die Zinssenkungen werden als persönliches Verdienst verfrühstückt, während alle nicht gestoppten negativen Entwicklungen kaltschnäuzig der letzten Regierung zugeordnet werden.
Meine Damen und Herren, für die Beratung des Haushaltsplans 1983 auf der Basis des Nachtrags
1982 war Geschäftsgrundlage — das hat Herr Dr. Dregger sehr deutlich gemacht — der Wunsch aller Parteien, zu Neuwahlen zu kommen. Der Haushaltsausschuß hat sich bemüht, mit Hilfe der mitberatenden Ausschüsse, die einen Großteil der Arbeit übernommen hatten, trotzdem noch eine der Wichtigkeit der Aufgabe entsprechende seriöse Beratung durchzuführen. Man konnte sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, daß die Kollegen aus der neuen Koalition im Ausschuß nicht frei in ihren Entscheidungen waren. Aber, meine Damen und Herren, Eindrücke zählen nicht, sondern Mehrheiten entscheiden.
Nur müssen wir uns darüber klar sein, daß die Glaubwürdigkeit unseres demokratischen Prinzips auf dem Spiel steht, wenn auf der einen Seite die Kontinuität der Regierungsarbeit beschworen wird und auf der anderen Seite eine radikale Abkehr von den Grundannahmen einer sozial orientierten Politik erfolgt.
Das Glück der Leistung, Herr Dr. Dregger, ist unbestritten für den arbeitenden Menschen und auch für uns ein sehr hoch anzusetzender Gradmesser für die persönliche Befriedigung. In Ihrer Lesart heißt das aber, daß Sie diejenigen, die sich erst auf die Leistungsfähigkeit vorbereiten wollen, nicht in die Lage versetzen, die Voraussetzungen für dieses von Ihnen beschworene Glücksgefühl zu schaffen, indem Sie nämlich den Fähigsten unter unseren jungen Menschen den Zugang zu den Bildungseinrichtungen dieses Staats verwehren, indem Sie ihnen die materiellen Voraussetzungen — beispielsweise beim BAföG — beschneiden,
ohne — das möchte ich noch einmal betonen — daß der Bundeshaushalt dadurch entlastet wird. Das ist eine Verlogenheit Ihrer Politik!
Ich kann daraus und auch aus Ihrer Vernebelungstaktik im Grunde genommen nur die Schlußfolgerung ziehen, daß Sie die Krise benutzen wollen, um damit soziale Entwicklungen, soziale Reformen der vergangenen Jahre brutal zurückzudrehen, zum Schaden des kleinen Mannes, des schwächsten Glieds in dieser Kette.
Meine Damen und Herren, auch wir Sozialdemokraten sind betroffen darüber, daß für das Haushaltsjahr 1982 ein zweiter Nachtrag nötig ist.
8690 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Dezember 1982
Wieczorek
Auch wir hätten diesen zweiten Nachtrag einbringen müssen.
Ich kann Ihnen allerdings versprechen, daß die Ergebnisse des zweiten Nachtrags anders ausgesehen hätten, als Sie sie uns heute hier mit Ihrem Entwurf vorlegen.
Ich würde gern mit der gebotenen Sachlichkeit eine kurze Analyse dessen geben, was einfach notwendig ist, Herr Kollege, um die Dinge zu verstehen. Entschuldigen Sie, wenn es bei Ihnen dann wie Nachhilfeunterricht ankommt. Aber nach den Reden, die ich von Ihnen bisher gehört habe, scheint mir Nachhilfe durchaus notwendig zu sein.
Nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis, daß nach den neuesten Schätzungen, die wir haben — beispielsweise vom IWF —, das Exportvolumen der Industrieländer insgesamt um fast 11 % gesunken ist. Nehmen Sie doch weiter zur Kenntnis, daß die Franzosen, unsere Nachbarn, bei denen der Bundeskanzler seinen Besuch gemacht hat, einen Fehlbetrag von 50 Milliarden Franc allein im Handelsverkehr haben. Nehmen Sie bitte auch zur Kenntnis, daß es in den USA mittlerweile 12 Millionen Arbeitslose gibt.
— Sie wollen doch gar nicht wissen, woher die Krise kommt, weil es sonst Ihre eng gestrickte, kurzatmige Lesart hier überspielen würde, Herr Kollege.
Sie wollen auch nicht zur Kenntnis nehmen, daß wir in den 15 Staaten der Europäischen Gemeinschaft mittlerweile fast 30 Millionen Arbeitslose haben.
Das sind Fakten, die Sie einfach zur Kenntnis nehmen müssen.
In dieser wirklich dramatischen weltwirtschaftlichen Situation spricht die CDU in ihrer komischen Dokumentation aber von anderen Dingen. — Aber ich weiß gar nicht, warum das eine Dokumentation sein soll. Unter einem Dokument habe ich mir bisher eigentlich etwas vorgestellt, was eine notariell beglaubigte Wahrheit enthält. Was ich jedoch bei Ihnen als „Dokumentation" sehe, sind Pamphlete, keine Dokumentation. Das ist auch wieder ein Teil der Kampagne, dieses deutsche Volk für dümmer zu halten, als es in Wirklichkeit ist.
Sie wollen, meine Damen und Herren, bis zum 6. März dem Wähler Sand in die Augen streuen.
Hier soll von Ihnen wieder die Erblastlegende — und ich sage ganz offen: die Erblastlüge — untermauert werden.
Meine Damen und Herren, auch der SPD nicht unbedingt nahestehende Persönlichkeiten — sehr vorsichtig ausgedrückt — wundern sich über die von der CDU/CSU kaltschnäuzig vertretene und von der FDP leider mitgetragene Erblasttheorie. Sie sollten darüber einmal mit Herrn Professor Dahrendorf reden. Er wird von der FDP j a wirklich sehr geschätzt. Wenn ich richtig orientiert bin, ist er von Herrn Genscher j a wohl als Leiter der Naumann-Stiftung vorgesehen gewesen.
— Er ist es mittlerweile also schon.
Ich würde Ihnen gern einmal eine Passage von Herrn Dahrendorf vorlesen. Sie geht mir sehr genüßlich über die Lippen. Herr Dahrendorf hat gesagt — ich zitiere —:
Von Erblast sprechen neue Regierungen immer und überall. Im Fall der Bundesrepublik ist das vielleicht merkwürdig, weil die alte Regierung ja in der neuen Regierung, z. B. im wirtschaftlichen Bereich, vertreten ist.
Er sagt weiterhin:
Die Bundesrepublik hat in dieser schwierigen Zeit vergleichsweise gut abgeschnitten. Auch die Staatsverschuldung in der Bundesrepublik ist keineswegs ungewöhnlich.
Er hat die Darstellungen mit einer Zahlenreihe untermauert, die Sie sich wirklich noch einmal vor Augen führen sollten.
Er hat auf einige Länder Bezug genommen. Beispielsweise hat er dargestellt, daß die Bundesrepublik eine Verschuldungsrate, gemessen am Bruttosozialprodukt, von 34 % hat, während sie in Belgien 70 %, in Dänemark 44 %, in Großbritannien fast 60 %, in den USA — im vielgeliebten und vielgerühmten Amerika — 48 % beträgt.
— Herr Kollege, ich habe ja gesagt, ich gebe Nachhilfeunterricht. Wenn Sie mich fragen wollen, gebe ich Ihnen gern noch nähere Auskünfte. — In der Schweiz sind es 26 %, in Japan 46 % und in Frankreich 16 %. Meine Damen und Herren, daraus ist zu ersehen, daß die Bundesrepublik keineswegs einen so schlechten Stand hat, wie Sie es in Ihren Horrormeldungen dem deutschen Volk deutlich machen wollen.
Daß diese wirtschaftspolitischen Krisen die Bundesrepublik als einen typischen Industrie- und Exportstaat nicht unbeeinflußt lassen, ist doch selbst für Sie einsehbar. Meine Damen und Herren, wir
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sind ein rohstoffarmes Land. Unser Reichtum liegt in der Intelligenz und der Arbeitskraft der Menschen dieses Landes. Wir müssen Rohstoffe einführen, sie veredeln und wieder exportieren. Dazu brauchen wir aber gut ausgebildetes Personal. Deshalb — das sei nur angemerkt — halte ich die BAföG-Kürzungen allein aus diesem Grunde für Schwachsinn.
Die Rechtskoalition streicht damit nämlich nicht nur Etatansätze; sie streicht oder, besser gesagt, sie vermindert damit unsere Zukunftsaussichten.
Lassen Sie mich aber zum gedanklichen Ausgangspunkt zurückkommen. Seit 1973 halten die Ausfuhren der Industrieländer mit dem Wachstum der Weltexporte nicht mehr Schritt. In den letzten acht Jahren ging ihr Anteil am internationalen Warenaustausch um 7 % zurück. Besonders schleppend verlief der Handel zwischen den Industrienationen selbst. Machte ihr Warenaustausch 1973 noch mehr als die Hälfte der gesamten Weltexporte aus, so ist ihr Anteil inzwischen auf knapp 40 % gefallen. Als Folge der Ölverteuerung konnten auch die ölexportierenden Länder ihren Anteil ausweiten. Auch die sonstigen Entwicklungsländer konnten gegenüber 1973 Anteile dazugewinnen. Das weitere kraftvolle Drängen der Schwellenländer auf den Markt hat den Absatz nur noch durch Verdrängung der Konkurrenten möglich gemacht.
Meine Damen und Herren, das alles führt zu einem Anpassungsbedarf, der uns zweimal trifft. Auch hier wird im Augenblick eine Verschleierungstaktik betrieben. Wir haben es mit einer strukturellen Krise zu tun. Wir haben es aber auch mit einer gleichzeitig ihren Höhepunkt findenden konjunkturellen Krise zu tun. Als Beispiel könnte man die Flugzeugindustrie nehmen. Als Beispiel könnte man aber auch auf den Werftbereich verweisen. Ebenso könnte man die Stahlindustrie als Beispiel nennen. Man könnte auch über den Kohlenbergbau sprechen.
Lassen Sie mich wegen der Kürze der Zeit beispielhaft nur auf den Kohlenbergbau eingehen. Aus der laufenden Förderung gehen zur Zeit wegen der gedrosselten europäischen Stahlerzeugung, der allgemeinen konjunkturellen Schwierigkeiten und der Stagnation im Stromverbrauch monatlich etwa eine Million t auf Halde. Diese werden die Rekordhöhe des Frühjahrs 1978 wohl übersteigen. Damals waren etwa 23 Millionen t unverkäuflich. Hinzu kommt noch die nationale Kohlereserve mit 10 Millionen t. Damit haben wir Kohleberge, die mehr als ein Drittel der Jahresproduktion betragen, Kohleberge mit einem Wert von 8 Milliarden DM.
Die Ursachen dafür liegen im Kern doch in der Weltwirtschaftskrise. Sie sind doch nicht hausgemacht; das wissen Sie. Hausgemacht und bedenklich ist es aber, wenn Sie im Bundeshaushalt Streichungen bei den Forschungstiteln vornehmen, und zwar bei Kohletechnologien und bei der Stahlforschung.
Damit werden die Zukunftsaussichten für den deutschen Kohle- und Stahlmarkt zusammengestrichen.
Schauen Sie sich als weiteres Beispiel den Stahlmarkt an. Nur ein Bruchteil der ursprünglich vorgesehenen Stahlproduktion kann abgesetzt werden. Der Stahlmarkt unterliegt einem Preiskampf, der von den einzelnen Ländern mit Milliardenbeträgen gestützt wird. So hat die britische Regierung in den letzten Wochen der staatlichen British Steel die Schulden in Höhe von 4 Milliarden DM erlassen. Das RWI spricht in einer Studie von weiteren Verdüsterungen des westdeutschen Stahlmarktes. Vor allem die Aufträge der Investitionsgüterindustrie aus dem Inland und aus dem Ausland seien bedenklich gesunken. Der Rückgang vom ersten zum zweiten Quartal betrug bei den Rahmenwerten sogar 18 %. Graf Lambsdorff, ich möchte Sie gerne fragen: Was haben Sie eigentlich in Brüssel getan, um eine vernünftige Konstruktion in den westdeutschen Stahlmarkt zu bringen? Wo sind eigentlich die von der Bundesrepublik initiierten EG-Beschlüsse? Wo haben wir uns ein Instrumentarium geschaffen, um mit der Stahlkrise und der damit einhergehenden Kohlekrise fertig zu werden. Denken Sie daran: Wir haben Mitte der 70er Jahre in diesem Bereich noch über 470 000 Beschäftigte gehabt. Heute haben wir nur noch 258 000 Mitarbeiter.
Meine Damen und Herren, man kann die Weltwirtschaftskrise nicht beschreiben. Man kann nur versuchen, sie an einzelnen Stellen darzustellen. Man muß einfach zur Kenntnis nehmen, daß wir in diese Krise eingebunden sind. Es zeugt schon von einer ungeheuren Ignoranz, zu sagen, nicht Nachfrageschwäche und weltwirtschaftliche Abhängigkeiten, sondern die hausgemachten Ursachen des wirtschaftlichen Abschwungs hätten viele Unternehmen zur Aufgabe gezwungen. Das alles ist eine Haltung der Ignoranz und nimmt die wirklichen Dinge nicht zur Kenntnis.
Wenn wir im politischen Raum so arbeiten, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn den etablierten Parteien Mißtrauen entgegengebracht wird, ja wenn man sich anderen politischen Organisationen zuwendet.
Die Sozialdemokraten werden diesen Nachtragshaushalt ablehnen. Bei der Einbringung des Haushalts habe ich noch davon gesprochen, daß wir ihn in den Teilen annehmen wollten, wo wir glauben, daß er auch von uns hätte eingebracht werden müssen. Sicher hätten wir den Bereich der Steuermindereinnahmen auch von uns aus mitgetragen. Nur, die Lösungsmöglichkeiten, die Sie in diesem Nachtragshaushalt gefunden haben, halten wir nicht für sinnvoll. Wir glauben, daß Sie diesen Nachtragshaushalt nicht ehrlich gemacht haben. Wir glauben, daß dieser Nachtragshaushalt und die nichtvorgelegte mittelfristige Finanzplanung einer Gesamtplanung von Ihnen unterliegen, die da heißt: Ihr eigenes und eigentliches Regierungsprogramm, das Sie nach dem 6. März umsetzen wollen, nämlich das Programm, das in dem Papier des Wirtschaftsministers als „Lambsdorff-Papier" zusammengefaßt ist, das Sie hier aber nicht gern nennen wollen. Aus die-
8692 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Dezember 1982
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sem Grund lehnen wir diesen Nachtragshaushalt ab.