Rede von
Jürgen
Egert
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Kollege Zeitler hat hier — und das war eine vornehme Umschreibung dessen, was hier in der letzten Stunde passiert ist — die Begründung für diese Aktuelle Stunde gegeben und dabei von mangelhaften Auskünften gesprochen. Ich habe den Eindruck gehabt, daß die Auskünfte, die wir von der Bundesregierung auf die Fragen zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen hören mußten, an einigen Punkten dreist, ja an bestimmten Punkten sogar tolldreist waren.
Es ist schon gespenstisch, zu sehen, daß wir eine öffentliche Diskussion haben, die geradezu groteske Züge trägt. Da führt die neue Regierung — vor allem draußen, also nicht hier im Parlament — aus — und das mit Blick auf den 6. März —, was sie hier für eine schlimme Erblast übernommen habe. Wenn es dann konkret wird und hier gefragt wird, wie es denn um die schlimme Erblast, etwa im Gesundheitswesen, bestellt ist, dann sind die Antworten unbefriedigend. Es ist doch schon geschmäcklerisch, meine Damen und Herren, wenn Erben und Erblasser zugleich — traulich vereint — in einer neuen Regierung sitzen.
Da wird kunstvoll und professionell daran gewebt, einen Augiasstall vorgaukeln zu können, den es angeblich auszumisten gilt. Das kann schon deshalb nicht gelingen, weil man sich Norbert Blüm kaum als Herkules vorstellen kann.
Zugleich spart die Bundesregierung in der gesundheitspolitischen Diskussion ein Thema völlig aus, das die Bürgerinnen und Bürger draußen tatsächlich betroffen macht. Die Damen und Herren der Unionsparteien haben auch allen Grund, dieses Thema auszusparen. Denn die alte Bundesregierung hat ihr Versprechen wahrgemacht und Kostenstabilität im Gesundheitswesen erreicht.
Nach langen Jahren erhöhen viele Krankenkassen — das durften wir hören — ihre Beiträge zum zweiten Mal hintereinander nicht. Im Gegenteil, viele Krankenkassen können ihre Beiträge senken. Dies ist ein Erfolg der von sozialdemokratischen Arbeitsministern eingeleiteten und umgesetzten Kostendämpfungspolitik.
Diese Politik hat die CDU/CSU bekämpft. Wir haben diese Kostenstabilität erreicht, ohne dabei gegen die Grundsätze unseres Krankenversicherungssystems zu verstoßen. Das, was wir heute hier über Solidarität und Subsidiarität gehört haben, zeigt Unkenntnis. Denn das Solidarprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung kennt kein Subsidiaritätsprinzip. Darüber, was vielleicht gemeint sein könnte, daß gesundheitsbewußtes Verhalten dann in die Diskussion um Subsidiarität mit einbezogen werden kann, kann man reden. Aber das Solidarprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung auszuhebeln heißt, mit einer hundertjährigen Geschichte zu brechen. Es ist schlimm, wenn in der Hinsicht nicht einmal die elementaren Kenntnisse vorhanden sind.
Die neue Bundesregierung, gerade zwei Monate im Amt, verstößt bereits mit ihrem ersten wichtigen Gesetzentwurf, dem Haushaltsbegleitgesetz, gegen das tragende Solidarprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung,
indem sie die Selbstbeteiligung bei Kuren und Krankenhausbehandlung einführt. Nun ist hier mit dem Finger sozusagen vorwurfsvoll auf die SPD und auf das, was gestern in der alten Regierung war, gezeigt worden. Ich darf daran erinnern, daß die frühere politische Führung des Arbeitsministeriums und die sozialdemokratische Bundestagsfraktion in öffentlichen Erklärungen deutlich gemacht haben, daß sie für die Sinnhaftigkeit dieses Koalitionspreises nicht in Anspruch genommen werden wollen
und nun auch nicht nachträglich in Anspruch genommen werden dürfen. Dieses Spiel werden wir nicht mitmachen.
Wir Sozialdemokraten haben uns unter unserer Regierung bemüht, die Lasten gleichgewichtig zu verteilen. Sowohl die Versicherten als auch die Leistungserbringer im Gesundheitswesen sollten im Rahmen der Kostendämpfung herangezogen werden, und sie sind herangezogen worden. Die neue Bundesregierung gefährdet nun dieses Gleichgewicht, indem sie einseitig die Versicherten und Patienten mit Selbstbeteiligungsregelungen und abermaligen kräftigen Gebührenerhöhungen, etwa bei den Rezepten, bedenkt. Der Herr Bundeskanzler verteilt Lob an die Ärzte, weil sie sich freiwillig zu einem sechsmonatigen Verzicht auf weitere Honorarerhöhungen bereit gefunden haben — ich frage dazu: auf welchem Niveau? —, bringt aber gleichzeitig ein Gesetz auf den Weg, mit dem bei den Versicherten zwangsweise abkassiert wird. Welches ständische Menschenbild steht denn hinter dieser Vorstellung!
Da ist man einerseits zu vornehm, mit dem Gesetz zu agieren, aber andererseits ist man überhaupt nicht betroffen, wenn das bei der breiten Masse der Bürger in diesem Lande passiert. Lob für freiwilligen Verzicht einerseits, Selbstbeteiligung, Gebührenerhöhung und Einkommensminderung für die große Masse andererseits — dies ist sozial unausgewogen und wird unseren kämpferischen Widerstand finden. Sie treiben Kostendämpfungspolitik auf dem Rücken der Patienten und zu Lasten der Geldbeutel der Versicherten.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat in der alten Bundesregierung darauf gedrungen, daß alle Leistungserbringer ihre Beiträge gleicher-
8198 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1982
Egert
maßen leisten. Sie gehen jetzt hin und benutzen die Honorarfestschreibung durch die Ärzteschaft als Schlagetot, um die Gewerkschaften unter Druck zu setzen, damit sie sich gegenüber der vom Bundesarbeitsminister geforderten Lohnpause als willfähriger erweisen. Dies ist ein Anschlag auf die Tarifautonomie. Diese Politik soll zwischen Arbeitnehmer, Arbeitslose, Rentner und Sozialhilfeempfänger einen Keil treiben. Da spielen wir nicht mit, den Weg in die Ellenbogengesellschaft machen wir nicht mit. Eine Welle von „Gemeinsinn", die dazu führt, daß die Schwachen in dieser Gesellschaft absaufen sollen, wird den Widerstand der Sozialdemokraten finden.