Rede von
Dr.
Helmut
Kohl
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, wenn man über Ihre Regierungserklärung debattieren will und eine Aussage dazu machen muß
— selbstverständlich; das ist j a der Sinn der Aussprache —, dann muß man natürlich auch Ihre Außerungen während Ihres Reiseaufenthalts im Gebiet der DDR mit zugrunde legen.
Bevor ich dies aber tue, will ich noch eine Bemerkung machen zu dem Ausflug in die deutsche Innenpolitik, den Sie wiederum unternommen haben. Herr Bundeskanzler, ich kann dazu nur sagen: Sie wären doch ein glücklicher Mensch, wenn Sie in den Grundfragen der deutschen Politik eine solche Übereinstimmung in der SPD hätten, wie wir sie in der CDU/CSU selbstverständlich haben.
Wenn ich als Vorsitzender meiner Partei — oder auch als stellvertretender Vorsitzender, aber immer noch erhoben, auch im Selbstgefühl der Kanzlerschaft — vor einen Landesparteitag träte wie Sie vor 14 Tagen in Bremen und den Landesparteitagsdelegierten genau das vortrüge, was ich für elementar für die deutsche Politik halte, und wenn dann anschließend diese Delegierten das genaue Gegenteil beschlössen, würde ich mir ernsthaft überlegen, Herr Bundeskanzler, ob es nicht Zeit ist, in meiner Partei abzutreten. Das ist das, was man Ihnen sagen muß.
Ich fände es sehr viel mutiger von Ihnen, wenn Sie auch hier einmal offen sagten, mit wem Sie es in Ihrer Partei zu tun haben, als derlei Ausflüge zu unternehmen. Sie haben für die Sicherheitspolitik Ihrer Regierung in diesem Hause in Wahrheit doch nur deswegen eine Mehrheit, weil die CDU/CSU für diese Sicherheitspolitik eintritt.
Ihre eigene Partei kann es j a nicht einmal mehr wagen, auf dem nächsten Parteitag diese Themen zu diskutieren.
Aber dieser Ausflug hatte natürlich einen zugleich pädagogischen und strategischen Sinn: Die Dürftigkeit des Ergebnisses Ihres Besuches sollte durch diese Ausfälle überdeckt werden.
Herr Bundeskanzler, wer die Gespräche im Fernsehen verfolgt hat, der wurde mit Bildern und Worten konfrontiert, die viel mehr Aussagekraft haben als das gemeinsame Kommuniqué über Ihre Gespräche mit Herrn Honecker. Diese Bilder haben Symbolcharakter. Millionen unserer Landsleute diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs haben diese Bilder gesehen.
Am Samstagabend schloß die Fernsehberichterstattung mit der Nachricht, daß ein Bürger der DDR die Sperranlagen überwinden wollte und dabei von einer Selbstschußanlage schwer verletzt wurde. Auch das gehört zu den Bildern mitten aus Deutschland.
Am Sonntag, Herr Bundeskanzler, sprachen Sie auf der abschließenden Pressekonferenz von Frieden, von Entspannung und Abrüstung, während die Nachrichten mit der Meldung über den Kriegszustand und die Internierung von Tausenden von Polen eingeleitet wurden. Am Nachmittag desselben Tages mischten sich im deutschen Fernsehen die Bilder eines Weihnachtsmarktes mit den Bildern von Geheimpolizisten in allen Hausfluren Güstrows, von Hundertschaften der Volkspolizei am Rande der Straßen und mit Bildern von bestellten Jublern mit ihren kläglichen Hochrufen auf den Generalsekretär der SED.
Bedrückend wirkten die Fernsehbilder von Ihrem Besuch, Herr Bundeskanzler, in der Barlach-Gedenkstätte in Güstrow. Zusammen mit Erich Honekker erwiesen Sie einem großen deutschen Künstler Ihre Reverenz,
einem Künstler, dessen Liebe zum leidenden Menschen eine zwingende Konsequenz seiner Vorstellungen von der Würde des Menschen war. Sein unbestechlicher Wirklichkeitssinn und seine Phantasie haben Ernst Barlach früher als andere erkennen lassen, daß totalitäre Politik immer zur Quelle persönlichen Leids wird. Die nationalsozialistische Diktatur war für ihn die Inkarnation des Bösen. So fände sich Barlach, hätte er das Hitler-Regime überlebt, heute mit großer Gewißheit in totaler Opposition zur kommunistischen Variante totalitärer Politik, wie sie heute Alltag im anderen Teil Deutschlands ist.
Er stünde auf der Seite derjenigen, Herr Bundeskanzler, die sich nicht mit der Unterdrückung der Menschenrechte, mit der Verweigerung der Bürgerrechte, mit dem politisch verfügten Leid ihrer Mitbürger abfinden könnten.
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Freitag, den 18. Dezember 1981 4295
Dr. Kohl
Wenn der Führer durch die Barlach-Gedenkstätte vor Ihnen, Herr Bundeskanzler, und vor Herrn Honecker an die Zeilen „Freiheit, die ich meine" erinnert hat, denen Barlach in der NS-Zeit Gestalt geben wollte, dann wirkte dies an diesem Ort, in dieser Begleitung vor dem frei gewählten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland und dem Repräsentanten der kommunistischen Diktatur makaber,
denn weder das Freiheitsverständnis des Autors der Zeilen: „Freiheit, die ich meine, die mein Herz erfüllt" — ich meine Max von Schenkendorf —, der im Kampf gegen Napoleon darunter die Unabhängigkeit und die nationale Einheit Deutschlands verstand, noch die von Ernst Barlach damit verbundenen bürgerlichen Freiheiten, die vom Nationalsozialismus aufgehoben wurden,
sind Möglichkeit des Denkens und Handelns für die SED. — Meine Damen und Herren von der SPD, daß Sie bei solchen Passagen unruhig werden, zeigt, wie weit wir uns im Denken voneinander entfernt haben.
Mit der Partei Kurt Schumachers wäre es kein Problem gewesen übereinstimmend über diese Fragen zu reden.
In der totalitären Alltagspolitik der SED hat weder die Idee der nationalen Einheit, wie wir sie verstehen, noch die Forderung nach persönlicher Freiheit einen Platz. Deswegen, Herr Bundeskanzler, wäre es schon interessant, von Ihnen zu erfahren: Warum haben Sie sich in dieser Gedenkstätte in Güstrow dieser Peinlichkeit ausgesetzt? Daß es peinlich war, hat j a selbst Herr Brandt empfunden, der ja auch von „Peinlichkeiten in Güstrow" sprach.
Herr Bundeskanzler, auch wenn es eine Kleinigkeit ist, aber Millionen — ich werde Ihnen gleich bestätigen, wer alles noch — haben es so empfunden: Auf dem Bahnhof reicht Ihnen der Generalsekretär ein Bonbon, von dem viele sagen: Das ist das einzige, was Sie möglicherweise von dieser Reise mitgebracht haben.
Meine Damen und Herren, das alles sind Szenen aus der deutschen Wirklichkeit des Jahres 1981.
— Verehrter Herr Kollege, mit Ihnen in der SPD diskutieren wir allemal über die deutsche Frage, und wir haben keinen Nachholbedarf im Erweisen patriotischer Gesinnung. Herr Ehmke, Sie sollten bedenken, wer da vielleicht Nachholbedarf hat.
Herr Bundeskanzler, ich will vor allem auf drei Ihrer Reaktionen in der DDR eingehen. Auf die Ereignisse in Polen angesprochen, sagten Sie:
Herr Honecker ist genauso bestürzt gewesen wie ich,
daß dies nun notwendig war.
Herr Bundeskanzler, muten Sie uns wirklich zu, zu glauben, daß Herr Honecker über die Maßnahmen des polnischen Militärrats bestürzt war? Was glauben Sie eigentlich, was unsere Mitbürger in beiden Teilen Deutschlands von der Politik des Herrn Honecker in dieser Frage halten?
Nicht zuletzt er war es doch, der allen voran im Reigen der kommunistischen Parteiführer im Warschauer-Pakt-Bereich schon seit Monaten am entschiedensten ein hartes Vorgehen gegen die Reformkräfte in Polen gefordert hat.
Herr Bundeskanzler, es muß Ihnen doch bekannt sein, daß jene tumbe, an Nazi-Methoden erinnernde Hetze gegen das polnische Volk — seine angebliche Faulheit und was sonst noch alles erzählt wird — ja von den Agitatoren der SED drüben in der DDR Tag für Tag unter die Leute gebracht wird.
Und wenn Ihnen dies bekannt war — ich muß unterstellen, daß Ihnen dies bekannt war —, wie können Sie uns dann zumuten, über alle deutschen Sender hören zu müssen: Herr Honecker ist genauso bestürzt gewesen wie ich, daß dies nun notwendig war!
— Ja, daß dies „notwendig" war; ich betone das: „notwendig war". Was ist das eigentlich für ein Denken mitten in Deutschland mit Leuten, mit denen es doch wirlich in diesem Punkt keinerlei Gemeinsamkeit gibt!
An anderer Stelle sagten Sie — ich zitiere wörtlich —:
Und deswegen ist sowohl Herr Honecker als auch ich unter der uns gegenseitig stark ausgesprochenen Hoffnung, daß es den Polen gelingen möge, die uneinigen Kräfte ihres Landes auf der Grundlage eines Übereinkommens zur Einigung zu führen und dies fertig zu bringen, ohne daß jemand sich von außen einmischt.
Wir stimmen Ihnen zu, daß dies eine Hoffnung ist. Aber glauben Sie wirklich im Ernst, daß dies auch die Hoffnung von Herrn Honecker ist? Glauben Sie denn im Ernst, daß Herr Honecker aus seiner Interessenlage heraus überhaupt fähig ist, in dieser Sa-
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che die gleiche Sprache zu sprechen, wie Sie und wir das tun?
Es ist richtig: Um des Friedens und um der Entspannung willen wäre dies wünschenswert. Nur, meine Damen und Herren, das, was wünschenswert ist, ist eine Sache; das, was eine realistische Betrachtung des Regimes der SED betrifft, ist eine andere Sache. Und hier muß ich doch die Frage stellen: Herr Bundeskanzler, wer hat wem hier etwas vor der deutschen Öffentlichkeit vorgemacht?
Herr Bundeskanzler, Sie mußten doch davon ausgehen, daß Generalsekretär Honecker über die Maßnahmen der polnischen Führung im voraus unterrichtet worden war. Sie mußten doch auch davon ausgehen, daß diese Maßnahmen der polnischen Führung — getroffen nicht nur im Einverständnis, sondern vielleicht sogar nach Weisung der Machthaber im Kreml — auch die spätere Billigung erfahren würden. Das haben Sie ja auch, kaum waren Sie abgereist, erfahren. Was soll aber dann — dies ist meine Frage — der Versuch, die polnischen Ereignisse in einer gemeinsamen Bewertung mit Herrn Honecker zusammenzufassen? Das kann doch nur Ihre eigene, unsere eigene deutsche Position, die Position der Bundesrepublik Deutschland, ins Zwielicht bringen.
Wenn Sie schon nicht die Konsequenz gezogen haben, abzureisen, dann, finde ich, sollten Sie einmal die Gründe dafür ins Feld führen. Das, was Sie hier soeben polemisch angemerkt haben, ist doch keine Begründung, Herr Bundeskanzler, für das, was Sie für richtig gehalten haben.
Man kann doch sehr wohl darüber diskutieren, ob man die Entscheidung trifft, abzureisen, oder ob man glaubt, man müsse durchhalten. Aber man kann und muß es begründen. Die Begründung, die ich soeben neben den polemischen Nebentönen von Ihnen gehört habe, war, daß es nicht Sache der Deutschen sei, sich als Richter über die Polen — so habe ich wörtlich notiert — aufzuspielen. Herr Bundeskanzler, wer mutet uns, wer mutet Ihnen denn zu, hier Richter zu spielen? Wenn eine frei gegründete Gewerkschaft, eine Gewerkschaftsbewegung, der die breite Sympathie des Landes gehört, mit brutalen Terrormethoden unterdrückt wird, wenn Zehntausende, viele Zehntausende praktisch in Konzentrationslager eingeliefert werden — lassen Sie uns diesen Begriff nennen, der leider Gottes auch durch deutsche Schuld zu einem Begriff für diese Dinge geworden ist —, wenn Menschen wegen ihrer Gesinnung ermordet und erschossen werden — dann, Herr Bundeskanzler, muß man schon begründen, warum man sich so oder so verhält. Das ist doch keine Einmischung in die Angelegenheiten anderer Länder, und die Deutschen spielen sich doch wahrlich nicht als Richter auf. Sie glauben doch nicht im Ernst, daß irgendein polnischer Bürger meint, wir würden uns in die inneren Angelegenheiten der stolzen Polen einmischen, wenn wir heute gegen Unrecht protestieren, das dort geschieht. Die Leute warten auf das Wort der Sympathie von uns.
Ich hätte Sie an diesem Punkt nicht angesprochen, wenn Sie in der Beurteulung und Begutachung anderer Völker und Länder sonst immer genauso zurückhaltend gewesen wären, Herr Bundeskanzler.
Sie haben sich ja in der Weltpolitik einen gewissen Ruf als jener Mann erworben, der seine Meinung eilfertig zum besten gibt — und zwar in einer Form, die für die Betroffenen oft nicht sehr erfreulich ist. Wenn dieser Ruf bei Ihnen nicht beheimatet wäre, wäre jetzt kein Grund gegeben, über dieses Thema zu reden. Eines muß aber klargestellt werden, weil es ein schlimmes Wort war, das Sie hier gesprochen haben: Wenn wir jetzt über Polen reden und den Polen unsere Sympathie bekunden, dann sind wir nicht die Richter Polens, sondern wir möchten die Freunde Polens sein. Das ist das, was in dieser Stunde gesagt werden muß.
Eine andere Äußerung von Ihnen hat uns sehr betroffen gemacht. Auf die Frage eines Journalisten:
Haben Sie denn überhaupt nichts in Ihrer Tasche, von dem Sie sagen könnten, das ist das eigentlich Neue?
Antworteten Sie — wörtliches Zitat —:
Ich habe Ihnen ja allen vorher in Bonn angekündigt und es ankündigen lassen, daß ich die Absicht nicht hätte. Und ich hatte wirklich nicht. Wenn ich etwas Neues mitbringen könnte, würde ich es vielleicht nicht mal nennen wollen; denn ich möchte den Eindruck zerstören, als ob Deutsche nur dann miteinander reden könnten, wenn etwas dabei herauskommt. Das ist eine krämerische Betrachtung.
— Sie brauchen doch in der jetzigen Lage der FDP Ihr Übersoll nicht bei jedem Punkt durch Applaus oder durch anderes zu bekennen.
Daß der Kanzler bei dieser Passage, die er sicher selber gerne ungeschehen machen würde, von Ihrer Seite auch noch Applaus bekommt, ist schon bedeutsam für den Zustand der FDP.
Herr Bundeskanzler, was hatten denn Sie selber vorher alles angekündigt? Sie hatten doch gesagt, eine solche Gipfelbegegnung mit Herrn Honecker habe nur dann einen Sinn, wenn — so wörtlich — „substantielle Ergebnisse" möglich seien. Einige Zeit später erklärten Sie plötzlich, ein solches Treffen sei „ein Wert an sich". Bundesminister Franke hat das gleiche vor Ihrer Reise gesagt. Das ist doch ein törichtes Wort. Wie töricht es ist, beweist Ihre Feststellung, daß Sie Ihre Kenntnisse über die Poli-
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tik der DDR über die Aktenlage hinaus erweitern konnten.
Dieses Wort war aber vor allem auch deswegen töricht, weil es ein Freibrief für die DDR-Führung war, über Zugeständnisse gar nicht nachdenken zu müssen — geschweige denn Zugeständnisse gewähren zu müssen. Ich frage mich wirklich, Herr Bundeskanzler: Warum haben Sie ohne jede Not schon vor diesem Gespräch Ergebnisse zunichte gemacht? Sie haben doch damit selbst ein wichtiges Kapital aus der Hand gegeben. Es kann doch nur zum Vorteil sein, wenn alle Regierungsverantwortlichen, also auch Herr Honecker, wissen, daß sie unter einem hohen Erwartungsdruck, auch ihrer eigenen Mitbürger in der DDR, stehen. Das kann man doch nicht einfach mit der linken Hand vom Verhandlungstisch wischen.
Herr Bundeskanzler, es ist doch geradezu eine Verhöhnung unserer Landsleute in beiden Teilen Deutschlands — aber vor allem in der DDR —, ihre Erwartungen an diesen Besuch so einfach zu diskriminieren. Ich habe am vergangenen Dienstag wieder einen ganzen Tag Gelegenheit gehabt, mich in Ost-Berlin in vielerlei Gesprächen mit Mitbürgern der DDR darüber zu unterhalten. Es ist doch aus dem Alltag unserer Mitbürger im anderen Teil Deutschlands heraus ganz selbstverständlich, daß auch Erwartungen geweckt werden, wenn ein solches Treffen mit jenem ungeheuren propagandistischen Aufwand, den die DDR-Führung betrieben hat, zustande kommt. Man kann doch diesen Menschen, die ihr Leben dort führen müssen, die gewissermaßen auf der Schattenseite der deutschen Geschichte leben, nicht sagen: Es ist eine krämerische Betrachtung, wenn gesagt wird, es müsse etwas dabei herauskommen. Das ist eine Verhöhnung jener selbstverständlichen Erwartungen, die unsere Mitbürger in beiden Teilen Deutschlands an diese Reise geknüpft haben.
Herr Bundeskanzler, Sie haben auf Ihrer Pressekonferenz in der Jugendhochschule Wilhelm Pieck in Biesenthal folgendes gesagt — ich zitiere —:
Es wird Zeit, daß man den gegenwärtigen Zustand in Deutschland in eine geschichtliche Perspektive bekommt, damit er eine Zukunft hat, daß man eine realistische Einschätzung der Zukunft sich selber macht.