Sehr gern, wenn mir das auf die Redezeit nicht angerechnet wird. — Wenn es angerechnet wird, werden Sie Verständnis dafür haben, daß ich meine Gedankenführung zu Ende bringen will.
Ich stelle nur fest, daß am 30. September 1976, ein paar Tage vor der Wahl, der Herr Bundeskanzler von der Rentenversicherung gesagt hat: Da gibt es ein Problemchen. Ein paar Tage danach hat er davon gesprochen, daß sei das dickste Problem, und dabei gehe es — ich zitiere ihn — „nicht ohne harte Schritte ab". Sie haben ein paar Tage vor der Regierungsbildung gesagt, der — von mir respektierte und verehrte — Kollege Arendt würde in der Regierung bleiben. Sie waren kaum gewählt, da war er — wegen der Rentenversicherung — nicht mehr in der Regierung. Meine Damen und Herren, daran wird man doch erinnern dürfen!
Ich kann für meine Person nur feststellen: Der Standpunkt des Bundeskanzlers wechselt offenbar mit dem Zeitpunkt, und der wichtigste Zeitpunkt ist der Wahltag. Daran sollten wir uns bei den nächsten Wahlen erinnern.
Meine Damen und Herren, ich wollte dann hier noch die Familienpolitik ansprechen, und zwar auch nur als ein Exempel für eine prinzipielle Sozialpolitik, die die Subsidiarität beachtet.
15138 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 11. Dezember 1979
Dr. Blüm
Ob wir in die plattgewalzte Ebene einer nivellierten Einheitsgesellschaft marschieren oder an der Vielheit einer offenen Gesellschaft teilnehmen, ob wir in ein total veröffentlichtes Leben eingefügt werden oder die Chance des Rückzugs hinter die vier Wände privater Räume möglich bleibt, das entscheidet sich mehr als durch alle politische Großwetterlage am Schicksal der Familie. Ich bin davon überzeugt, daß der Ton in der Familie die Musik bestimmt, die morgen in der Gesellschaft gespielt wird.
Der eigentliche Widerpart gegen den Einheitsbrei des Kollektivismus ist eine gegliederte Gesellschaft, in der die jeweils kleinere Gemeinschaft den Vortritt hat und die Bürger so vor der Überwältigung durch die Großapparate geschützt werden.
Vor den Versuchungen der wohltemperierten und perfekt reglementierten Gesellschaft werden uns nicht die Macher schützen, sondern nur eine Politik, die nicht alles in den Griff nehmen will. Deshalb könnte die Familie so etwas leisten wie Widerstand gegen einen neuen Imperialismus staatlicher Allzuständigkeit.
Die Herrschsucht kommt ja nicht immer mit Fanfaren und Kanonen einher. Der neue Imperialismus schleicht auf Filzpantoffeln. Und wenn diese Variante der Herrschaft ein Sozialismus technokratischer Herkunft ist, so ist er doch ein Ausdruck des obrigkeitsstaatlichen Denkens.
Seine Parole heißt: Der Staat ist besser, die Familie muß erst einmal beweisen, daß sie gut ist.
Und in der Tat, Sie haben ja versucht, die Familienpolitik mit den Kategorien des öffentlichen Lebens zu ordnen. Da heißt es in Ihrem Programm, es müsse vor allen Dingen darauf geachtet werden, die Familienpolitik „gesellschaftliche Konflikte bewußt zu machen" und die Bedingungen zu verändern, aus denen solche Konflikte entstehen.
Meine Damen und Herren, wenn wir in dieser Sprache von der Familie sprechen, dann reduzieren wir die Ehe zur Tarifgemeinschaft, die Familie zur Interessenkoalition und die Kinder zu Unterdrückten, die von elterlicher Fremdbestimmung und aus elterlichen Gewaltverhältnissen befreit werden müssen. Ich muß schon sagen: Wenn meine Kinder mal anfangen, die elterlichen Gewaltverhältnisse des Vaters zu kontrollieren — bei uns ist nicht die „Gartenlaube" —, aber wenn die in dieser Sprache die Bindungen zu ihrem Vater beschreiben, dann beginne ich mit der Aussperrung, damit sie es nur wissen!
— Ja, in der Tat, wenn Sie so weitermachen, werden
Sie noch die Tarifverhandlungen über das Sonntags-
geld in das Familienrecht einführen oder das konstruktive Mißtrauensvotum gegen den Vater.
Das ist nicht nur witzig gemeint, sondern ich will damit deutlich machen: Wer den Unterschied zwischen politischer Öffentlichkeit und privater Intimität nicht begreift, der walzt die Gesellschaft platt und hat keinen Sinn für Freiheit.
Wenn Sie Vater und Mutter sezieren und wie Maschinen auseinandernehmen, wenn Vater und Mutter zu bloßen Rädchen- in einem Getriebe werden, das staatlich bedient wird, dann schrumpfen eben Vater und Mutter auf die Größe von Bezugspersonen, Rollen- und Funktionsträgern zusammen. — Ich bekenne, ich habe meine Mutter nie ,,Bezugsperson" genannt und auch nie so empfunden.
Die kalte Sprache der Macher, meine Damen und Herren, mag soziologisch genauer, politisch handhabbarer sein; ich entdecke in ihr einen Verlust an Lebensnähe. Wie armselig wäre das Kinderlied, wenn wir einst gesungen hätten: „Schlaf, Kindchen, schlaf, deine Bezugsperson hütet die Schaf"!
— Ich glaube schon, daß Ihre Sprache verräterisch ist,
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daß Ihre Sprache eine Gesellschaftsgesinnung ausdrückt, in der Sie die Menschen wie Bestandteile eines Märklin-Baukastens behandeln wollen, weil Sie offenbar alle für austauschbar halten.
Sie haben die Ehe zu einem Zweckbündnis mit relativ niedrigem Kündigungsschutz zurückgeschraubt, und jetzt entpuppt sich dieser Fortschritt als ein Rückschritt des sozialen Schutzes; die Schuldlosen werden die Schwächeren.
— Hören Sie gut zu, hören Sie einen Moment noch gut zu! — Sie haben auch dem ungeborenen Kind armer Eltern Lebensschutz genommen. 70 % der Schwangerschaftsabbrüche werden mit sozialer Notlage begründet. Soll jetzt gelten: Weil du arm bist, wirst du nicht mehr geboren? Das wäre der Offenbarungseid des Sozialstaates oder der Vorwand der Bequemlichkeit.
— Das ist nicht zu billig! Wenn 70% der Schwangerschaftsabbrüche mit sozialer Notlage begründet werden, so halte ich das in der Tat für einen Fausthieb ins Gesicht des Sozialstaates, oder es ist der Vorwand der Bequemlichkeit. Zwischen diesen zwei Alternativen können Sie aus meiner Sicht wählen.
Unter dem Gesichtspunkt der Kosten-Nutzen- Analyse ist die Ehe inzwischen eine Dummheit geworden. Ich will ein Beispiel nennen: Ein doppelverdienendes Ehepaar mit einem Kind und einem Ein-
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 11. Dezember 1979 15139
Dr. Blum
kommen von 3 000 DM verfügte 1975 über ein Nettoeinkommen von 2 529 DM. Zwei Partner, die in einer Onkelehe leben — der eine mit einem Einkommen von 1200 DM, der andere mit einem Einkommen von 1 800 DM; auch das ergibt ein Gesamteinkommen von 3 000 DM; ein Kind ist auch vorhanden, das ist also völlig vergleichbar —, haben ein Nettoeinkommen von 2 831 DM. Mit anderen Worten: Die Eheverweigerung wird in unserem Staat steuerrechtlich prämiiert.
Rund 300 DM also haben die Eheleute weniger. Sie schreiben in Ihren familienpolitischen Leitsätzen: „Die Benachteiligungen nicht anerkannter Lebensgemeinschaften sollen abgebaut werden." Ich kann nur fragen: Wo leben Sie eigentlich? Sie müssen die Diskriminierung der Ehe abbauen! Ihre Familienpolitik ist seitenverkehrt.
Lassen Sie mich zum Thema „Gleichberechtigung der Frau" folgendes sagen: Sie ist unverzichtbar. Aber in der sozialistischen Übersetzung hört sich das so an, als gebe es für die Befreiung der Frau nur einen Weg, nämlich den Weg über die Erwerbsarbeit.
Schon für August Bebel — ich darf Bebel in Ihre Erinnerung rufen — vollzog sich die Emanzipation allein über die Einbahnstraße — ich zitiere — „der Einbeziehung in die öffentliche Industrie"..
– Ja, dann würden Sie Bebel dementieren; das steht mir natürlich nicht zu.
Ich kann mich nur auf die Texte berufen, die uns Ihr großer geistiger Ziehvater hinterlassen hat.
Ein so angesehener Psychologe wie Horst Eberhard Richter -- weit über den Verdacht erhaben, der CDU nahezustehen oder gar rechts zu sein — hat festgestellt — ich zitiere ihn
Das Den-Männern-nicht-mehr-Nachstehen ist die große Errungenschaft. Der dafür gezahlte Preis ist aber eine neue und radikale Variante von Unterdrückung, nämlich der auferlegte Verzicht, die Welt weiblich zu sehen und das Zusammenleben nach weiblichen Kriterien mitzubestimmen.
Ich glaube, meine Damen und Herren, daß die Aufwertung der Mutter der Beginn einer Politik sein könnte, in der wir wieder für mehr menschliche Zuwendung, für mehr Mitmenschlichkeit sorgen. Nicht alles kann reglementiert, nicht alles kann durch den Gesetzgeber bewerkstelligt werden.
Ich habe mir schon manchmal überlegt: Was ware eigentlich passiert, wenn der arme Mann, der auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho unter die Räuber gefallen ist, nicht an einen Samariter gekommen, sondern einem Sozialisten in die Hände gefallen wäre?
Der Jungsozialist hätte ihm den Überfall als Ausdruck des Monopolkapitalismus erklärt und gesagt: Das ist die Voraussetzung für die Revolution.
Ein bürokratischer Sozialist hätte dem blutenden Mann wahrscheinlich gesagt, er solle erst einmal einen Antrag beim Reichsversicherungsamt
in Jerusalem stellen; dann könne nach Vorlage mehrerer Gutachten über sein Gesuch entschieden werden.
Und sollten sich weitere Überfälle an der Stelle ereignen, dann würde auch noch ein Bundesbeauftragter für das Un- und Überfallwesen eingesetzt.
Vielleicht würde auch ein Strukturrat gebildet, der die Gefahrenquelle dadurch entschärfen würde, daß er die Unfälle gleichmäßig über das Land verteilt; auch das wäre möglich.
Ich meine schon, daß wir in der Sozialpolitik einerseits eine große Verantwortung dafür haben, eine prinzipielle Sozialpolitik zu betreiben, aber andererseits in der Lage sein müssen, empfindlich auf neue soziale Fragen neue Antworten zu geben.
Die letzte Runde der Wahlperiode ist eingeläutet. Wahlkampf steht vor der Tür. Aber wir sollten den Wahlkampf ja nicht zur Kopflosigkeit degenerieren. Lassen Sie uns doch den Versuch unternehmen, auch diese Haushaltsdebatte einmal zu benutzen, gemeinsam darüber nachzudenken, ob denn alle guten Absichten des sozialen Fortschritts und der Reformen Wirklichkeit geworden sind, ob alle guten Vorsätze angekommen sind, ob die Mittel von gestern heute noch ihren Zweck erreichen.
Eine wichtige Erkenntnis scheint mir zu sein, daß wir jenen Wortfetischismus in der Sozialpolitik und im sozialen Fortschritt verabschieden. Ein Problem ist noch nicht gelöst, wenn wir einen neuen Namen gefunden haben. Den Lehrlingen geht es noch nicht besser, wenn sie mit dem Kunstwort „Auszubildende" belegt sind.
Ich nenne das den sozialdemokratischen Rumpelstilzchen-Effekt:
15140 Deutscher Bundestag -- 8. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 11. Dezember 1979
Dr. Blüm
Wenn der Name bekannt ist, ist das Problem gelöst.
Nur, die Wirklichkeit ist dadurch nicht verändert.
Wir sollten auch mal darüber nachdenken, ob wir allein durch die Ausdehnung des Berechtigtenkreises wirklich mehr sozialen Fortschritt haben. Die Ausdehnung des Schwerbehinderten-Begriffs war mit großen Hoffnungen verbunden. Aber solange die Arbeitsplätze nicht mitwachsen, vergrößert diese Begriffsausweitung lediglich den Konkurrenzkampf unter den Schwerbehinderten, und benachteiligt sind die Schwerstbehinderten.
Oder denken Sie an den sozialen Wohnungsbau. Solange das Verhältnis 3 : 1 ist, also auf drei Berechtigte eine Sozialwohnung kommt, wird in diesem Konkurrenzkampf der Familienvater mit vielen Kin dern unter den zwei sein, die die Sozialwohnung nicht erhalten. Sie sehen an dem Beispiel: Ausdehnung auf dem Papier heißt noch nicht, daß wir mehr soziale Gerechtigkeit in der Wirklichkeit geschaffen haben.
Denken wir auch darüber nach, ob die Ausweitung materieller Verbesserungen tatsächlich eine treffsichere Umverteilung war. Je größer der Kreis der Personen ist, die durch staatliche Maßnahmen begünstigt werden, um so mehr finanzieren die Begünstigten ihre Begünstigungen selber.