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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 8/191 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 191. Sitzung Bonn, Dienstag, den 11. Dezember 1979 Inhalt: Zusätzliche Überweisung eines Gesetzentwurfs an den Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO 15045A Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung . 15045 A Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1980 (Haushaltsgesetz 1980) — Drucksachen 8/3100, 8/3354 — Beschlußempfehlungen und Berichte des Haushaltsausschusses Einzelplan 04 Bundeskanzler und Bundeskanzleramt -- Drucksache 8/3374 — in Verbindung mit Einzelplan 05 Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts — Drucksache 8/3375 — in Verbindung mit Einzelplan 14 Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung — Drucksache 8/3384 — Schröder (Luneburg) CDU/CSU 15046A, 15047A Löffler SPD 15048A Dr. h. c. Strauß, Ministerpräsident des Freistaates Bayern 15049B, 15120C Wehner SPD 15064 B Genscher, Bundesminister AA 15071 B Dr. Barzel CDU/CSU 15077 A Matthöfer, Bundesminister BMF . . . 15086A Dr. Ehmke SPD 15087A Hoppe FDP 15097A Schmidt, Bundeskanzler . . . . 15103A, 15120B Dr. Kohl CDU/CSU 15111 D, 15128 D Mischnick FDP . 15129B Dr. Blüm CDU/CSU 15132 C Rohde SPD 15141A Cronenberg FDP 15147 C Dr. Marx CDU/CSU 15151A Dr. Corterier SPD 15154 C II Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 11. Dezember 1979 Möllemann FDP 15156D Hauser (Bonn-Bad Godesberg) CDU/CSU 15159B Würtz SPD 15162B Zywietz FDP 15164D Haase (Kassel) CDU/CSU 15167A Dr. Apel, Bundesminister BMVg . . . 15169B Picard CDU/CSU 15170D Namentliche Abstimmung 15172A Einzelplan 35 Verteidigungslasten im Zusammenhang mit dem Aufenthalt ausländischer Streitkräfte — Drucksache 8/3395 — 15174A Einzelplan 27 Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen — Drucksache 8/3390 — 15174 C Nächste Sitzung 15174 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . .15175* Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 11. Dezember 1979 15045 191. Sitzung Bonn, den 11. Dezember 1979 Beginn: 9.00 Uhr
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    Berichtigung 190. Sitzung, Seite 15019* A, Zeile 10: Statt „Bundesrechtsrahmengesetz" ist „Beamtenrechtsrahmengesetz" zu lesen. Zwei Zeilen weiter muß es statt „Bundesbesoldungsgesetz" „Bundesbeamtengesetz heißen. Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete (r) entschuldigt bis einschließlich Dr. van Aerssen* 14. 12. Dr. Aigner* 14. 12. Alber* 14. 12. Dr. Bangemann* 14. 12. Blumenfeld* 14. 12. Brandt 11. 12. Egert 14. 12. Fellermaier* 14. 12. Frau Dr. Focke* 14. 12. Friedrich (Würzburg) * 14. 12. Dr. Früh* 14. 12. Dr. Fuchs* 14. 12. von Hassel* 14. 12. Katzer 14. 12. Dr. h. c. Kiesinger 12. 12. Dr. Klepsch* 14. 12. Lange* 14. 12. Lüker* 14. 12. Luster* 14. 12. Milz 14. 12. Dr. Müller-Hermann* 14. 12. Peiter 11. 12. Dr. Pfennig* 14. 12. Frau Schleicher* 14. 12. Dr. Schwarz-Schilling 13. 12. Dr. Schwencke (Nienburg) * 14. 12. Seefeld* 14. 12. Sieglerschmidt* 14. 12. Frau Tübler 14. 12. Frau Dr. Walz* 14. 12. Wawrzik* 14. 12. * für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments
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    Rede von Dr. Norbert Blüm


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Sehr gern, wenn mir das auf die Redezeit nicht angerechnet wird. — Wenn es angerechnet wird, werden Sie Verständnis dafür haben, daß ich meine Gedankenführung zu Ende bringen will.
    Ich stelle nur fest, daß am 30. September 1976, ein paar Tage vor der Wahl, der Herr Bundeskanzler von der Rentenversicherung gesagt hat: Da gibt es ein Problemchen. Ein paar Tage danach hat er davon gesprochen, daß sei das dickste Problem, und dabei gehe es — ich zitiere ihn — „nicht ohne harte Schritte ab". Sie haben ein paar Tage vor der Regierungsbildung gesagt, der — von mir respektierte und verehrte — Kollege Arendt würde in der Regierung bleiben. Sie waren kaum gewählt, da war er — wegen der Rentenversicherung — nicht mehr in der Regierung. Meine Damen und Herren, daran wird man doch erinnern dürfen!

    (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Marx [CDU/CSU]: So ist es!)

    Ich kann für meine Person nur feststellen: Der Standpunkt des Bundeskanzlers wechselt offenbar mit dem Zeitpunkt, und der wichtigste Zeitpunkt ist der Wahltag. Daran sollten wir uns bei den nächsten Wahlen erinnern.
    Meine Damen und Herren, ich wollte dann hier noch die Familienpolitik ansprechen, und zwar auch nur als ein Exempel für eine prinzipielle Sozialpolitik, die die Subsidiarität beachtet.
    15138 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 11. Dezember 1979
    Dr. Blüm
    Ob wir in die plattgewalzte Ebene einer nivellierten Einheitsgesellschaft marschieren oder an der Vielheit einer offenen Gesellschaft teilnehmen, ob wir in ein total veröffentlichtes Leben eingefügt werden oder die Chance des Rückzugs hinter die vier Wände privater Räume möglich bleibt, das entscheidet sich mehr als durch alle politische Großwetterlage am Schicksal der Familie. Ich bin davon überzeugt, daß der Ton in der Familie die Musik bestimmt, die morgen in der Gesellschaft gespielt wird.

    (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

    Der eigentliche Widerpart gegen den Einheitsbrei des Kollektivismus ist eine gegliederte Gesellschaft, in der die jeweils kleinere Gemeinschaft den Vortritt hat und die Bürger so vor der Überwältigung durch die Großapparate geschützt werden.

    (Zuruf von der SPD: Das hat er doch nicht selbst aufgeschrieben!)

    Vor den Versuchungen der wohltemperierten und perfekt reglementierten Gesellschaft werden uns nicht die Macher schützen, sondern nur eine Politik, die nicht alles in den Griff nehmen will. Deshalb könnte die Familie so etwas leisten wie Widerstand gegen einen neuen Imperialismus staatlicher Allzuständigkeit.

    (Zurufe von der SPD: Oje, oje!)

    Die Herrschsucht kommt ja nicht immer mit Fanfaren und Kanonen einher. Der neue Imperialismus schleicht auf Filzpantoffeln. Und wenn diese Variante der Herrschaft ein Sozialismus technokratischer Herkunft ist, so ist er doch ein Ausdruck des obrigkeitsstaatlichen Denkens.

    (Zuruf von der SPD: Wie im Schulaufsatz!)

    Seine Parole heißt: Der Staat ist besser, die Familie muß erst einmal beweisen, daß sie gut ist.

    (Zuruf von der SPD: So ein Quatsch!)

    Und in der Tat, Sie haben ja versucht, die Familienpolitik mit den Kategorien des öffentlichen Lebens zu ordnen. Da heißt es in Ihrem Programm, es müsse vor allen Dingen darauf geachtet werden, die Familienpolitik „gesellschaftliche Konflikte bewußt zu machen" und die Bedingungen zu verändern, aus denen solche Konflikte entstehen.
    Meine Damen und Herren, wenn wir in dieser Sprache von der Familie sprechen, dann reduzieren wir die Ehe zur Tarifgemeinschaft, die Familie zur Interessenkoalition und die Kinder zu Unterdrückten, die von elterlicher Fremdbestimmung und aus elterlichen Gewaltverhältnissen befreit werden müssen. Ich muß schon sagen: Wenn meine Kinder mal anfangen, die elterlichen Gewaltverhältnisse des Vaters zu kontrollieren — bei uns ist nicht die „Gartenlaube" —, aber wenn die in dieser Sprache die Bindungen zu ihrem Vater beschreiben, dann beginne ich mit der Aussperrung, damit sie es nur wissen!

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

    — Ja, in der Tat, wenn Sie so weitermachen, werden
    Sie noch die Tarifverhandlungen über das Sonntags-
    geld in das Familienrecht einführen oder das konstruktive Mißtrauensvotum gegen den Vater.
    Das ist nicht nur witzig gemeint, sondern ich will damit deutlich machen: Wer den Unterschied zwischen politischer Öffentlichkeit und privater Intimität nicht begreift, der walzt die Gesellschaft platt und hat keinen Sinn für Freiheit.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wenn Sie Vater und Mutter sezieren und wie Maschinen auseinandernehmen, wenn Vater und Mutter zu bloßen Rädchen- in einem Getriebe werden, das staatlich bedient wird, dann schrumpfen eben Vater und Mutter auf die Größe von Bezugspersonen, Rollen- und Funktionsträgern zusammen. — Ich bekenne, ich habe meine Mutter nie ,,Bezugsperson" genannt und auch nie so empfunden.

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU)

    Die kalte Sprache der Macher, meine Damen und Herren, mag soziologisch genauer, politisch handhabbarer sein; ich entdecke in ihr einen Verlust an Lebensnähe. Wie armselig wäre das Kinderlied, wenn wir einst gesungen hätten: „Schlaf, Kindchen, schlaf, deine Bezugsperson hütet die Schaf"!

    (Zuruf von der SPD: Das ist doch nicht zu glauben!)

    — Ich glaube schon, daß Ihre Sprache verräterisch ist,

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU)

    daß Ihre Sprache eine Gesellschaftsgesinnung ausdrückt, in der Sie die Menschen wie Bestandteile eines Märklin-Baukastens behandeln wollen, weil Sie offenbar alle für austauschbar halten.
    Sie haben die Ehe zu einem Zweckbündnis mit relativ niedrigem Kündigungsschutz zurückgeschraubt, und jetzt entpuppt sich dieser Fortschritt als ein Rückschritt des sozialen Schutzes; die Schuldlosen werden die Schwächeren.

    (Zurufe von der SPD)

    — Hören Sie gut zu, hören Sie einen Moment noch gut zu! — Sie haben auch dem ungeborenen Kind armer Eltern Lebensschutz genommen. 70 % der Schwangerschaftsabbrüche werden mit sozialer Notlage begründet. Soll jetzt gelten: Weil du arm bist, wirst du nicht mehr geboren? Das wäre der Offenbarungseid des Sozialstaates oder der Vorwand der Bequemlichkeit.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Immer [Altenkirchen] [SPD]: Das ist eine Unverschämtheit! — Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist zu billig!)

    — Das ist nicht zu billig! Wenn 70% der Schwangerschaftsabbrüche mit sozialer Notlage begründet werden, so halte ich das in der Tat für einen Fausthieb ins Gesicht des Sozialstaates, oder es ist der Vorwand der Bequemlichkeit. Zwischen diesen zwei Alternativen können Sie aus meiner Sicht wählen.
    Unter dem Gesichtspunkt der Kosten-Nutzen- Analyse ist die Ehe inzwischen eine Dummheit geworden. Ich will ein Beispiel nennen: Ein doppelverdienendes Ehepaar mit einem Kind und einem Ein-
    Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 11. Dezember 1979 15139
    Dr. Blum
    kommen von 3 000 DM verfügte 1975 über ein Nettoeinkommen von 2 529 DM. Zwei Partner, die in einer Onkelehe leben — der eine mit einem Einkommen von 1200 DM, der andere mit einem Einkommen von 1 800 DM; auch das ergibt ein Gesamteinkommen von 3 000 DM; ein Kind ist auch vorhanden, das ist also völlig vergleichbar —, haben ein Nettoeinkommen von 2 831 DM. Mit anderen Worten: Die Eheverweigerung wird in unserem Staat steuerrechtlich prämiiert.

    (Immer [Altenkirchen] [SPD]: Das ist doch völlig falsch! Das ist falsch!)

    Rund 300 DM also haben die Eheleute weniger. Sie schreiben in Ihren familienpolitischen Leitsätzen: „Die Benachteiligungen nicht anerkannter Lebensgemeinschaften sollen abgebaut werden." Ich kann nur fragen: Wo leben Sie eigentlich? Sie müssen die Diskriminierung der Ehe abbauen! Ihre Familienpolitik ist seitenverkehrt.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Lassen Sie mich zum Thema „Gleichberechtigung der Frau" folgendes sagen: Sie ist unverzichtbar. Aber in der sozialistischen Übersetzung hört sich das so an, als gebe es für die Befreiung der Frau nur einen Weg, nämlich den Weg über die Erwerbsarbeit.

    (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist dummes Zeug!)

    Schon für August Bebel — ich darf Bebel in Ihre Erinnerung rufen — vollzog sich die Emanzipation allein über die Einbahnstraße — ich zitiere — „der Einbeziehung in die öffentliche Industrie"..

    (Frau D r. Däubler-Gmelin [SPD]: Auch das ist falsch!)

    – Ja, dann würden Sie Bebel dementieren; das steht mir natürlich nicht zu.

    (Immer [Altenkirchen] [SPD]: Wir haben ihn besser gelesen!)

    Ich kann mich nur auf die Texte berufen, die uns Ihr großer geistiger Ziehvater hinterlassen hat.
    Ein so angesehener Psychologe wie Horst Eberhard Richter -- weit über den Verdacht erhaben, der CDU nahezustehen oder gar rechts zu sein — hat festgestellt — ich zitiere ihn
    Das Den-Männern-nicht-mehr-Nachstehen ist die große Errungenschaft. Der dafür gezahlte Preis ist aber eine neue und radikale Variante von Unterdrückung, nämlich der auferlegte Verzicht, die Welt weiblich zu sehen und das Zusammenleben nach weiblichen Kriterien mitzubestimmen.
    Ich glaube, meine Damen und Herren, daß die Aufwertung der Mutter der Beginn einer Politik sein könnte, in der wir wieder für mehr menschliche Zuwendung, für mehr Mitmenschlichkeit sorgen. Nicht alles kann reglementiert, nicht alles kann durch den Gesetzgeber bewerkstelligt werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Ich habe mir schon manchmal überlegt: Was ware eigentlich passiert, wenn der arme Mann, der auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho unter die Räuber gefallen ist, nicht an einen Samariter gekommen, sondern einem Sozialisten in die Hände gefallen wäre?

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

    Der Jungsozialist hätte ihm den Überfall als Ausdruck des Monopolkapitalismus erklärt und gesagt: Das ist die Voraussetzung für die Revolution.

    (Immer [Altenkirchen] [SPD]: Das ist ja Blasphemie!)

    Ein bürokratischer Sozialist hätte dem blutenden Mann wahrscheinlich gesagt, er solle erst einmal einen Antrag beim Reichsversicherungsamt

    (Haase [Kassel] [CDU/CSU]: Beim Sozialamt! Und dann muß er zum Vertrauensarzt!)

    in Jerusalem stellen; dann könne nach Vorlage mehrerer Gutachten über sein Gesuch entschieden werden.

    (Wehner [SPD]: Pfui Teufel!)

    Und sollten sich weitere Überfälle an der Stelle ereignen, dann würde auch noch ein Bundesbeauftragter für das Un- und Überfallwesen eingesetzt.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU — Wehner [SPD]: Pfui Teufel!)

    Vielleicht würde auch ein Strukturrat gebildet, der die Gefahrenquelle dadurch entschärfen würde, daß er die Unfälle gleichmäßig über das Land verteilt; auch das wäre möglich.

    (Erneute Heiterkeit bei der CDU/CSU)

    Ich meine schon, daß wir in der Sozialpolitik einerseits eine große Verantwortung dafür haben, eine prinzipielle Sozialpolitik zu betreiben, aber andererseits in der Lage sein müssen, empfindlich auf neue soziale Fragen neue Antworten zu geben.
    Die letzte Runde der Wahlperiode ist eingeläutet. Wahlkampf steht vor der Tür. Aber wir sollten den Wahlkampf ja nicht zur Kopflosigkeit degenerieren. Lassen Sie uns doch den Versuch unternehmen, auch diese Haushaltsdebatte einmal zu benutzen, gemeinsam darüber nachzudenken, ob denn alle guten Absichten des sozialen Fortschritts und der Reformen Wirklichkeit geworden sind, ob alle guten Vorsätze angekommen sind, ob die Mittel von gestern heute noch ihren Zweck erreichen.
    Eine wichtige Erkenntnis scheint mir zu sein, daß wir jenen Wortfetischismus in der Sozialpolitik und im sozialen Fortschritt verabschieden. Ein Problem ist noch nicht gelöst, wenn wir einen neuen Namen gefunden haben. Den Lehrlingen geht es noch nicht besser, wenn sie mit dem Kunstwort „Auszubildende" belegt sind.

    (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sehr gut!)

    Ich nenne das den sozialdemokratischen Rumpelstilzchen-Effekt:

    (Zuruf des Abg. Rohde [SPD])

    15140 Deutscher Bundestag -- 8. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 11. Dezember 1979
    Dr. Blüm
    Wenn der Name bekannt ist, ist das Problem gelöst.

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU Zuruf des Abg. Haase [Kassel] [CDU/CSU])

    Nur, die Wirklichkeit ist dadurch nicht verändert.
    Wir sollten auch mal darüber nachdenken, ob wir allein durch die Ausdehnung des Berechtigtenkreises wirklich mehr sozialen Fortschritt haben. Die Ausdehnung des Schwerbehinderten-Begriffs war mit großen Hoffnungen verbunden. Aber solange die Arbeitsplätze nicht mitwachsen, vergrößert diese Begriffsausweitung lediglich den Konkurrenzkampf unter den Schwerbehinderten, und benachteiligt sind die Schwerstbehinderten.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Oder denken Sie an den sozialen Wohnungsbau. Solange das Verhältnis 3 : 1 ist, also auf drei Berechtigte eine Sozialwohnung kommt, wird in diesem Konkurrenzkampf der Familienvater mit vielen Kin dern unter den zwei sein, die die Sozialwohnung nicht erhalten. Sie sehen an dem Beispiel: Ausdehnung auf dem Papier heißt noch nicht, daß wir mehr soziale Gerechtigkeit in der Wirklichkeit geschaffen haben.
    Denken wir auch darüber nach, ob die Ausweitung materieller Verbesserungen tatsächlich eine treffsichere Umverteilung war. Je größer der Kreis der Personen ist, die durch staatliche Maßnahmen begünstigt werden, um so mehr finanzieren die Begünstigten ihre Begünstigungen selber.


Rede von Dr. Richard von Weizsäcker
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Sperling?

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    Rede von Dr. Norbert Blüm


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Bitte, ich habe nur noch fünf Minuten Zeit.

    (Zurufe von der SPD)

    — Haben Sie Verständnis dafür, daß ich diesen Gedankengang zusammenhängend darstellen will

    (Zuruf des Abg. Immer [Altenkirchen] [SPD] — Weitere Zurufe von der SPD)

    Die Selbstfinanzierung des sozialen Fortschritts nimmt in der Form zu, daß die Beschenkten ihre Geschenke selber bezahlen. Das ist so nach dem Motto organisiert: Absender und Empfänger sind die gleichen. Nur, im Unterschied zum Briefträger spielt der Staat dann auch noch den Spender. Und das wäre eine Tat von Umverteilungsillusion, die auch auf Kosten der Arbeiter geht. Die Arbeiter sind an diesem Umverteilungskarussell überproportional beteiligt Sie erhalten Leistungen im Gesamtwert von 31,5 Milliarden, und sie leisten für diese Umverteilungsmaschine 135,4 Milliarden DM. Sie sehen, daß wir auf dem Weg sind, eine Umverteilung — —

    (Lachen bei der SPD)

    — Ich kann darüber nicht lachen. Ich kann darüber nicht lachen, daß die Arbeitnehmer weniger aus diesem System erhalten, als sie hineingeben, und zwar durch die ganz einfache Form, daß wir den Teil der Begünstigten, die Hilfe erfahren, so groß gefaßt haben, daß alle, die Hilfe erfahren, diese Hilfe auch
    selbst finanzieren. 26 % der verfügbaren Einkommen privater Haushalte stammen inzwischen aus der staatlichen Umverteilung Da wird man doch fragen dürfen, wer die denn finanziert. Natürlich die Steuerzahler selber, die Begünstigten selber.

    (Lachen bei der SPD)

    Darüber nachzudenken, heißt nicht, soziale Gerechtigkeit abzubauen, sondern heißt, sie treffsicher zu machen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Ich verbinde das doch zunächst einmal gar nicht mit Vorwürfen, sondern mit dem Appell, gemeinsam darüber nachzudenken, wie wir unsere soziale Politik effizient und gerecht erhalten können.
    Lassen Sie mich abschließen. Sie können das Thema ja auch noch mal an Hand der Einkommensgrenze im Sozialrecht prüfen. Das ist ja inzwischen eine Geheimwissenschaft geworden. So kann es ja passieren, daß ein höheres Bruttoeinkommen zu einem niedrigeren Nettoeinkommen führt. Der Fall ist bekannt, wo ein Vier-Personen-Haushalt mit 26 000 DM Bruttoeinkommen am Schluß weniger hatte als der Vier-Personen-Haushalt mit 14 000 DM Bruttoeinkommen.
    Meinen Sie, das wäre der Staat, der Leistung honoriert? Im Sinne eines solchen Systems liegt, daß der Arbeitnehmer zu seinem Chef geht und ihn bittet, auf die nächste Lohnerhöhung zu verzichten, weil er nach der Lohnerhöhung weniger im Portemonnaie hat als vorher. Das stellt die Verhältnisse auf den Kopf. Wenn das einmal Allgemeingut wird, dann ist unsere Gesellschaft endgültig übergeschnappt; dann können wir unsere Gesellschaft mit Bezugsscheinen organisieren.
    Ich wollte noch ein paar Sätze zur Wirtschaftsordnung sagen. Die Zeit steht mir dafür nicht zur Verfügung. Deshalb sage ich: Die Produktion von Gerechtigkeit mit Hilfe von Bürokratie erweist sich auch hier als Illusion. Ich bin und bleibe Anhänger der Mitbestimmungsidee, aber ebenso energischer Gegner aller planwirtschaftlichen Ziele. Wo Investitionszentralen entscheiden, entscheiden auch bald Preis- und Lohnzentralen. Investitionslenkung und Lohnlenkung sind Geschwister und bedeuten einen Angriff auf die Tarifautonomie und auf die Mitbestimmung. Wo Strukturräte entscheiden, haben Aufsichtsräte nichts mehr zu sagen, und dort hat auch die Mitbestimmung den Boden unter den Füßen verloren.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, es war der Anspruch dieser Koalition, Liberalismus und Sozialismus miteinander zu versöhnen, Bürgertum und Arbeiterschaft in eine Koalition zu bringen. Das war der große historische Atem, von dem das sozialliberale Bündnis getragen schien. Zehn Jahre sind genug. Wir können prüfen, ob die Erwartungen eingeholt werden. Ich zitiere:
    In der säkularen Dialektik von Freiheit und Gleichheit ist die Stunde der Freiheit, nämlich die ihrer Bedrohung, durch falschen Egalitarismus gekommen. Die Allianz von Liberalismus
    Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 11. Dezember 1979 15141
    Dr. Blüm
    und Sozialismus hat insoweit ihren Sinn erschöpft.
    Derjenige, der dies gesagt hat, war ein Vordenker des sozialliberalen Bündnisses: Ralf Dahrendorf. Ich habe dem nichts hinzuzufügen.

    (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU)