Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir Sozialdemokraten freuen uns nach unserem erfolgreichen Parteitag in Berlin,
die Haushaltsdebatte zur Gelegenheit nehmen zu können, unsererseits Rückblick und Vorblick zu tun. Nachdem Sie nun schon einen nicht parlamentarischen Redner zum ersten Redner Ihrer Fraktion gemacht haben,
möchte ich noch ein bißchen beim Herrn Kollegen Strauß bleiben. Die Haushaltsdebatte bringt für uns immer die Freude mit sich, wieder Gelegenheit zu bekommen, Herrn ,Strauß zu besichtigen, der, seitdem er Kanzlerkandidat geworden ist, in Bonn noch seltener als früher zu sehen ist. Manchmal hat man den Eindruck, Herr Strauß bliebe am liebsten überhaupt in Bayern, und es täte ihm schon leid, sich überhaupt auf die Kandidatur gegen Helmut Schmidt festgelegt zu haben.
So waren auch seine Kommentare zu dem SPD- Parteitag in Berlin besonders dünn. Ich nehme an, er kommt noch vom Essen und ist nicht schon wieder zurück nach Bayern.
— Ich unterstelle für beide das gleiche. Ich habe etwas ganz Freundliches gesagt.
Ich finde es nicht sehr abendfüllend, wenn der Kanzlerkandidat zehn Jahre sozialliberaler Koalition so darstellt, daß die Probleme aller Industriestaaten aufgezählt werden und dann so getan wird, als ob nur dieses Land diese Probleme dank der SPD hätte, während die übrige Welt weiß, daß es diese
Probleme in allen Ländern gibt, wir aber am besten damit fertig geworden sind.
Wenn man Herrn Strauß hört, könnte man meinen, dies sei ein Land im Elend. Ich frage ihn, wie lange er das den Menschen draußen noch erzählen will. Daß er es in der Krise 1974 mit der Sonthofener Rede versucht hat, ist noch zu verstehen, aber daß er heute die gleiche Arie immer noch singt, läßt nur darauf schließen, daß er auf die nächste Krise hofft.
Nun muß ich etwas Persönliches sagen. Herr Strauß hat heute in sehr ungewöhnlicher Weise den Bundeskanzler angegriffen.
— Für einen Mann, der soviel wie der Bundeskanzler geleistet hat, der dieses Ansehen in der Welt hat, geschah das in einer ungewöhnlichen Weise.
— Ja, meine Damen und Herren von der Opposition, ich frage mich, worauf sich der Anspruch von Franz Josef Strauß stützt, solche Urteile über den Bundeskanzler abgeben zu können; denn wenn ich das erste halbe Jahr Revue passieren lasse, das seit seiner Nominierung vergangen ist, so ist nicht viel Positives zu berichten.
Selbst die Kurve der Unionsparteien geht nach den Meinungsbefragungen nach unten, was manche der von Herrn Strauß früher gebeutelten CDU-Größen natürlich nicht nur mit Trauer erfüllt.
Uns erfüllt es mit Interesse, und wir sind über diesen
negativen Unionstrend auch nicht sehr erstaunt;
denn der Große Kanzlerkandidat — abgekürzt GK
— hat der nicht sonderlich erstaunten Bevölkerung' in diesem halben Jahr nach einer kurz bemessenen Kreidezeit folgendes geboten: erstens einen Auftritt im nordrhein-westfälischen Kommunal-Wahlkampf,
indem er rüpelhaften Störern mit gleicher Münze heimzuzahlen suchte,
zweitens einen Fernsehauftritt im Kreise der Parteivorsitzenden, bei dem man Zweifel daran haben mußte, ob er sich nicht konzentrieren wollte oder nicht konzentrieren konnte,
drittens ein Pressegespräch im Presseclub, das selbst seine treuesten Anhänger in Verzweiflung versetzt hat, viertens eine Konfrontationsstrategie nach Sonthofener Muster in Sachen Gesamtschule auf Kosten des CDU-Kultusministers von Niedersachsen, vor allem aber auf Kosten der Kinder, die in Gesamtschulen gehen,
Dr. Ehmke
fünftens ein Konfrontationsversuch in Sachen § 218, wobei er viel von Menschenwürde geredet, aber die Würde der Andersdenkenden nicht geachtet hat,
und schließlich sechstens ein an Propagandamethoden totalitärer Regime erinnernder Versuch, Sozialisten und Faschisten in einen Topf zu werfen.
Leider ist Herr Strauß nicht da. Ich würde ihn gerne fragen: Herr Strauß, Sie waren doch, kurz bevor Sie diese Platte auflegten, mit einem großen europäischen Sozialisten, mit dem italienischen Staatspräsidenten Pertini, im KZ Flossenbürg, um dort des in diesem KZ umgebrachten Bruders von Herrn Pertini zu gedenken, der auch ein. Sozialist war. Was meinen Sie eigentlich, wie Herr Pertini wohl reagiert hat, als er wenige Tage nach diesem Besuch in deutschen Zeitungen lesen konnte, Sie seien der Meinung, die Schergen des Regimes, die seinen Bruder dort ermordet haben, seien im Grunde mit den Sozialisten identisch?
Das ist die praktische Anwendung dessen, was gesagt worden ist. Ich frage mich, ob sich Herr Strauß einmal überlegt, was er in Europa mit solchen Redensarten anrichtet. Ich frage Sie alle, auch Sie, Herr Kohl, ob Sie nicht selbst darüber nachdenken, was es bedeutet und woher es kommt, daß eine so große Zahl von Menschen in unseren europäischen Nachbarländern an die Idee, Strauß könnte deutscher Bundeskanzler werden, nur mit Entsetzen denken können.
Dann das Trauerspiel mit der Zurückweisung Asylsuchender aus dem Ostblock an den bayerischen Grenzen.
Wir müssen uns alle fragen — da darf keiner Pharisäer sein —, jeder von uns auf allen Seiten des Hauses, ob wir alle noch genügend Empfindsamkeit für das Schicksal von Flüchtlingen und Verfolgten haben. Das sollte man nicht zu einer parteipolitischen Sache machen.
— Einverstanden, aber ich sage dann auch eins: Herr Strauß war für mich bisher in der Frage der Menschenrechte wenig glaubwürdig,
weil er sie immer nur in Richtung Osten vertrat, aber nie in Richtung Südafrika oder Chile.
Da frage ich jetzt: Was soll man nun eigentlich von
einem halten, der Kanzlerkandidat ist, der jedenfalls
in Richtung Osten die Menschenrechte vertritt und
dann nicht einmal seinen Innenminister hinauswirft, dessen Leute Flüchtlinge aus Osteuropa zurück in die Unfreiheit geschickt haben?
Da kann ich nur sagen: Ich weise die sehr überhebliche Kritik von Herrn Strauß am Bundeskanzler zurück. Wer in den ersten sechs Monaten seiner Kandidatenzeit so wenig gezeigt hat wie Herr Strauß, der sollte es eine Nummer kleiner machen, wenn er über den Bundeskanzler und die Koalition redet.
Komme ich auf die Rede von Herrn Strauß zu sprechen, so war ihr bemerkenswertester Aspekt eigentlich ihre Länge. Es war eine bunte Mischung aus Zitatensammlung, Selbstverteidigung, Demagogie in Sachen Familie und Schule und auch manchem Diskussionswerten, und darauf will ich eingehen.
Zunächst einmal zum Haushalt. Warum können Sie eigentlich nicht anerkennen, auch Sie nicht, Herr Barzel, daß dies der erste Haushalt in der Geschichte der Bundesrepublik ist, der vor Beginn des Haushaltsjahres rechtzeitig verabschiedet wird?
— Ich schließe Herrn Windelen dabei gar nicht aus.
Ich schließe das Parlament und seine Ausschüsse dabei ein. — Warum können Sie eigentlich nicht anerkennen — Herr Windelen hat das übrigens in einem Interview anerkannt —, daß dies, obgleich der Wahlkampf kommt, ein Haushalt ohne Wahlgeschenke ist.
Der Bundeshaushalt geht nach Abschluß der Beratungen von einem Zuwachs der Ausgaben von 5,5 % aus. Die Einnahmen werden um gut 7 % steigen. Gleichzeitig werden sich die Nettokreditaufnahmen wegen Steuermehreinnahmen und Ausgabeneinsparungen von ursprünglich 28,7 auf 24,7 Milliarden DM vermindern. Die Bundesregierung hat mit ihren Bemühungen um eine deutliche Begrenzung des Ausgabenzuwachses und der Ankündigung, Steuersenkungen erst nach sorgfältiger Prüfung ab 1. Januar 1981 vorzusehen, der Konsolidierung des Haushalts den Vorrang eingeräumt. Gleichzeitig geht aber wegen der Fortschreibung der hohen Ausgabenbasis der vergangenen Jahre auch 1980 vom Haushalt eine deutliche konjunkturstützende Wirkung aus. Massive Steuersenkungen schon 1980, wie Sie sie gefordert haben, wären aus gesamtwirtschaftlicher und finanzpolitischer Sicht nicht vertretbar.
Und was macht Herr Strauß hier? Das alte Theater! Auf der einen Seite werden massive Steuersenkungen für 1980 gefordert, auf der anderen Seite fordern andere von Ihnen zusätzliche Ausgaben für zusätzliche Programme, und alle zusammen klagen über die Höhe der Verschuldung. Meine Herren, das
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 11. Dezember 1979 15089
Dr. Ehmke
glaubt Ihnen doch nach Jahren draußen keiner mehr!
Genauso wenig glaubt Ihnen jemand Ihre Forderung nach Abbau der Subventionen, wenn Sie gleichzeitig noch nicht einmal bereit sind, über den Abbau der Steuerprivilegien von Landwirten zu diskutieren.
Der Kurs dieses Haushalts ist demgegenüber klar: Wir geben 1980 der Konsolidierung den Vorrang, wobei ich darauf hinweisen muß, daß im Bereich der gewerblichen Wirtschaft ja ohnehin noch eine Steuerentlastung in Höhe von 3 Milliarden aus dem letzten Paket am 1. Januar 1980 in Kraft treten wird. 1981 soll dann die Änderung der Steuertarife in größerem Rahmen kommen.
Dieser Haushalt paßt in die Wirtschaftsentwicklung, und er wird von einer Wirtschaftspolitik getragen, der auch der Sachverständigenrat ausdrücklich zugestimmt hat, und zwar einschließlich der Schuldenaufnahmen für Konjunkturprogramme, die — trotz der drastischen Ölpreiserhöhung — erfolgreich waren.
Natürlich bleibt die Schuldenlast ein Problem; das ist doch zwischen uns gar nicht strittig. Aber wie würden wir wohl heute dastehen, wenn wir die Konjunktur einfach hätten laufen lassen?
Keiner glaubt doch, daß ohne die Stützungsprogramme der Regierung heute die Wirtschaftslage und damit die Lage der staatlichen Finanzen besser wären als jetzt.
Ich frage mich, warum Sie so kleinkariert sind, daß Sie das nicht anerkennen können. Ich bin doch sicher: Sie freuen sich über den Rückgang der Arbeitslosenzahl, vor allen Dingen über den Rückgang der Jugendarbeitslosigkeit, genauso wie wir. Und ich stimme auch darin dem Kollegen Strauß zu: Wir sind trotz aller Arbeitsbeschaffungsprogramme, die wir durchführen, mit dem Problem der strukturellen Arbeitslosigkeit noch nicht fertig geworden. Aber warum nicht einmal — auch über Parteigrenzen hinweg — ein Wort der Anerkennung für das, was nun — auch mit Glück — geschafft worden ist?
Meine verehrten Damen und Herren von der Opposition, jahrelang haben Sie uns gesagt, die Tatsache, daß die Unternehmer nicht investieren, sei ein Beweis dafür, daß sie kein Vertrauen in die sozialliberale Koalition hätten; diese habe ihnen die Lust am Investieren genommen. Jetzt haben wir eine ganz starke private Investitionsneigung, von der uns die Sachverständigen sagen, sie werde auch im nächsten Jahr anhalten. Aber hören wir jetzt von Ihnen „Aha, die Wirtschaft hat nun wieder Vertrauen in die sozialliberale Koalition"?
Nein! Wissen Sie, das ist Ihre christdemokratische Logik: Wenn nicht investiert wird, ist das ein Mangel an Vertrauen, und wenn so investiert wird wie heute, waren die Ursache dafür vermutlich irgendwelche Büttenreden, die andere Leute draußen im Lande halten.
Das hat keinen Zweck. Wenn es nicht möglich ist, Tatsachen festzustellen, wenn alles und jedes, was die Regierung erreicht, und zwar gar nicht einmal nur aus eigener Kraft, sondern mit der Hilfe der Unternehmer, mit der Hilfe der Gewerkschaften, mit der Hilfe der Arbeitnehmer, nicht anerkannt werden kann, weil es in ihr Konzept nicht paßt, ist eine Diskussion in diesem Lande kaum noch möglich.
Ich frage mich auch, wann wir denn nun endlich ein völlig klares Wort dazu hören, daß kein wie immer gefärbtes parteipolitisches Interesse Spaltungsversuche gegenüber der Einheitsgewerkschaft rechtfertigen kann.
Die Einheitsgewerkschaft ist, gerade auch im Vergleich mit dem Ausland, eine der wirklichen strukturellen Stützen der zweiten deutschen Demokratie.
Die Angriffe gegen die Einheitsgewerkschaft finden ihre Parallele in den Versuchen, unser öffentlich-rechtliches Rundfunk- und Fernsehsystem zu zerschlagen. Auch die Fernseh- und Rundfunkordnung gehört zu den Grundstrukturen unserer zweiten Demokratie.
Nach meinem Dafürhalten ist sie zumindest verfassungs p o l i t i s c h nicht weniger wichtig als der föderative Aufbau der Bundesrepublik.
Der Angriff von Herrn Albrecht auf den NDR — Herr Strauß, dem durch einen Volksentscheid die Hände gebunden sind, könnte nicht skrupelloser vorgehen ist ein Angriff auf ein Stück gewachsene demokratische Struktur in unserem Lande
und wird von uns entsprechend beantwortet werden.
Ich bin allerdings darüber nicht erstaunt
und halte es nicht für einen Zufall, daß diese Angriffe — genauso wie die die Gemeinsamkeit der Demokraten aufkündigende Gleichsetzung von Sozialisten und Nationalsozialisten —
15090 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 11. Dezember 1979
Dr. Ehmke
geschehen. Bei einer Opposition, die immer noch in dem Wahn lebt, sie sei die geborene Regierungspartei und eigentlich zu fein für die Opposition — seit zehn Jahren vernachlässigen Sie Ihre OppositionsAufgabe, sachliche Alternativen zu entwickeln und die Mehrheit der Bürger für sie zu gewinnen —,
bei einer solchen Opposition wundere ich mich nicht, daß sie schließlich versucht, die Macht auf diesem Wege zu erreichen.
Wenn ich zu dem, was Sie im Bereich des NDR und der Medien machen,
das hinzunehme, was Sie, Herr Barzel, über Walter Jens gesagt haben, dann paßt das ganz gut zusammen. Sehen Sie, wir hatten schon einmal eine Zeit, in der vor lauter politischem Strafrecht die Grundrechte nicht zu sehen waren. Glücklicherweise waren es dann in der Großen Koalition die Liberalen in Ihren Reihen — nicht Richard Jaeger, sondern Max Güde —, die mit uns zusammen wieder für Ordnung gesorgt haben, für demokratische Ordnung. Ein Mann wie Güde dürfte ja heute bei Ihnen gar nicht mehr reden nach dem Rechtsruck, den Sie vollzogen haben.
Sie können doch nicht bestreiten, daß wir in einer Entwicklung, zu der es Anlässe gab, Entwicklung von extremen Parteien und dergleichen, z. B. mit dem Radikalenerlaß einen Weg gegangen sind, der nicht gut war. Als ob Sie nie mit jungen Leuten darüber reden, wie diese zitieren: FDGO!
Und falls Ihnen das nicht reicht: Der Vorsitzende der EKD, Bischof Lohse — Sie waren doch bei dem Empfang dabei, Herr Kohl —, hat neulich vorgetragen, daß sein Sohn, der Nachtwache in einem Krankenhaus machen wollte, zuerst den Eid auf die freie demokratische Grundordnung leisten mußte. Und Bischof Lohse hat gefragt, ob das denn wohl das Vertrauen der Jugend in die Demokratie fördere.
Wenn aber Walter Jens das sagt, glauben Sie, sich das herausnehmen zu können, Herr Barzel, was Sie sich hier diesem Mann gegenüber herausgenommen haben.
Ich sage Ihnen: Als die Terroristen nach der Schleyer-Entführung dabei waren, dieses Land in Hysterie zu versetzen, wobei nicht alle von Ihnen eine gute Rolle gespielt haben, war es Walter Jens mit seinen Freunden, der mit den großartigen „Briefen zur Verteidigung der Republik" dem Kanzler dabei geholfen hat, die Liberalität in diesem Lande gegenüber der durch die Terroristen hervorgerufenen Hysterie zu bewahren.
Und Sie glauben, Sie können diesen Mann hier so herunterputzen, wie Sie das getan haben!
Ich muß Ihnen sagen: Wenn ich das zusammennehme mit dem NDR, dann sage ich meinem Freund Walter Jens und. seinen Freunden:
Ihr habt oft Zweifel an uns, und wir sind oft verschiedener Meinung und streiten miteinander; aber wenn ihr das hier bei der CDU/CSU seht, diese Mischung von Machtgier und Banausentum auf dem Gebiet der Informations- und Geistesfreiheit, dann wißt ihr hoffentlich wieder, wohin ihr gehört.
Was dabei wirklich tröstlich ist, ist die Tatsache, daß uns inzwischen auch viele CDU-Wähler anbieten, uns im Wahlkampf gegen Strauß zu helfen. Nur die Grünen scheinen noch nicht ganz begriffen zu haben, worum es geht.
Hinter dem Haushalt 1980 — um nun zu unserer, d. h. der positiven Seite zu kommen —
steht eine Sachpolitik, die der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vom Dezember 1976 dar. gelegt hat und die von Partei und Fraktion mitgetragen wird.
Da Sie ein anderes Parteiverständnis haben als wir
— Sie sind eigentlich erst dabei, eine Mitgliederpartei zu werden; bis jetzt waren Sie nur eine Union und dazu noch eine mühsame —, verstehe ich schon
— Ferdi Breidbach würde das außerhalb des Saales auch zugeben —, daß Sie nicht recht verstehen können, Herr Kohl,
warum das in der SPD so ist, daß erbittert um Sachfragen gestritten werden kann und wir trotzdem handlungs- und regierungsfähig bleiben.
Weil Sie das nicht verstehen, kommt es dann zu diesen komischen Schwankungen.
— Wissen Sie, Herr Franke, vor dem Parteitag war der Schmidt angeblich ein „General ohne Truppen", hatte gar keine Mehrheit, ein armer, isolierter Mensch, der in seiner Partei gar nicht mehr zu Hause ist. Nun ist der Parteitag vorbei, und jetzt kommt die andere Walze. Jetzt sind wir ein „Kanzlerverein". Sie werden nie begreifen, in welchem
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 11. Dezember 1979 15091
Dr. Ehmke
Verhältnis eine wirklich demokratische Volkspartei zu ihrer Regierung steht.
Lassen Sie mich nun zu den beiden Fragen kommen, die auf unserem Parteitag — Herr Strauß hat dazu ja auch etwas gesagt — im Vordergrund gestanden haben. Der Parteitag der SPD hat in großer Nüchternheit und Leidenschaftlichkeit zwei zentrale Fragen behandelt, die des militärischen Gleichgewichts und die der Energiepolitik. Ich bin zwar nicht immer stolz auf meine Partei, aber hier bin ich ein bißchen stolz. Denn das macht uns in der Bundesrepublik niemand nach, Sie schon gar nicht.
Diejenigen im konservativen Lager, die meinen, das Motto „Sicherheit für die 80er Jahre" sei eine Art Wiederholung des Mottos „Keine Experimente", täuschen sich. Wer morgen sicher leben will, muß heute die Voraussetzungen dafür schaffen.
Darum geht es in beiden Fragen.
Ich bin mit dem Kollegen Strauß einer Meinung, daß wir weltpolitisch in einer sehr schwierigen Situation sind und auch noch eine ganze Weile bleiben werden: wegen des Verhältnisses der beiden Großmächte zueinander, wegen der Verhältnisse im Iran und im Nahen Osten. Herr Strauß hat auch völlig recht, wenn er sagt, daß hiervon auch unsere 01-und Rohstoffversorgung betroffen ist. Nur, Herr Kollege Strauß, wenn das so ist, dann wäre dies doch ein Grund mehr, auf diesem Gebiet Polemik abzubauen, statt hier davon zu reden, es sei eine Legende, daß der Frieden durch die Entspannungspolitik sicherer geworden sei. Ja, wollen Sie denn den Kalten Krieg zurück haben? Fragen Sie einmal die Menschen in Berlin, wie das vor zehn Jahren war und wie das jetzt ist!
Was soll das für eine „Legende" sein? Daß wir den Frieden jeden Tag neu sichern müssen, daß es auch für diese Fragen nie eine „Endlösung" gibt, ist doch unbestritten. Aber warum die Bagatellisierung dessen, was für die Menschen in Europa erreicht worden ist?
Herr Strauß, das, was Sie hier zu dem Beschluß
des Parteitages gesagt haben, steht im Widerspruch
zu Ihrer Analyse der weltpolitischen Situation; es
war verantwortungslos. Denn der Beitrag der Bundesregierung, der Beitrag des SPD-Parteitages war,
die Handlungsfähigkeit der NATO in einer schwierigen weltpolitischen Situation zu erhalten. Und was
machen Sie? Sie kommen her und dividieren uns
hier auseinander. Das ist Ihr Beitrag zur Stärkung
der NATO.
Herr Strauß, die Worte, die Sie in diesem Zusammenhang für den Bundeskanzler gefunden haben —
Sie haben gesagt, der Bundeskanzler habe „Angst
vor der Verantwortung" —, sind zugleich dumm und schofel.
Ich komme jetzt auf das Gleichgewicht der Kräfte und will vom Kollegen Wörner und vom Kollegen Marx einmal hören, wo wir denn in dieser Frage stehen. Die Diskussion fing ja im Frühjahr mit der Äußerung von Herr Wörner an — frisch zurückgekehrt aus Amerika —, hier müßten Mittelstreckenraketen hingestellt werden. Dann hat es — ausgelöst von einer Attacke von Herbert Wehner, für die ich Herbert Wehner auch an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich danken möchte —,
eine intensive Diskussion gegeben, was wir denn tun können,
um der Einsicht gerecht zu werden, die am besten von Carl Friedrich von Weizsäcker formuliert worden ist, daß nämlich Sicherheit in der heutigen Welt nicht durch technische, sondern allein durch politische Mittel zu erreichen ist.
Wenn Sie sagen — Herr Strauß hat das nach dem Parteitag gesagt —, die Politik, die Helmut Schmidt verfolgt, sei eigentlich seine, Straußens Politik, so mag das eine besonders dialektische Weise sein, zu versuchen, Wähler von uns abzuschrecken, aber der Wahrheit entspricht das nicht. Am Anfang stand bei Ihnen vielmehr: Raketen hinstellen und dann verhandeln. Noch weit in den Diskussionsprozeß hinein ist gefragt worden: Warum kein deutschamerikanischer Alleingang? Und immer kam da so ein bißchen der alte Traum von der „Politik der Stärke" wieder zum Vorschein. Meine Herren, dies ist doch töricht! Wir können doch nicht mit der Sowjetunion in Verhandlungen eintreten und ihr gleichzeitig sagen: Ganz egal, was aus den Verhandlungen herauskommt, wir stellen ein paar hundert Raketen hin.
Das ist doch nicht ernst zu nehmen, und wir wollen doch ernst genommen werden. Es wäre gut, wenn wir bei aller Kritik an der Sowjetunion auch eine objektive Beobachtung ihrer Sicherheitsinteressen vornehmen würden: aus ihrer Geschichte heraus, nicht zuletzt auf Grund des Hitler-Überfalls auf die Sowjetunion. Es wäre besser, sich einmal zu überlegen, wie in das in den Köpfen dort drüben aussieht,
als immer nur von Aggression zu sprechen.
Wir hatten auf dem Parteitag eine große Diskussion in der anderen Richtung. Viele — Christdemokraten in den Niederlanden, Sozialisten in Belgien, Freunde in unserer Partei — haben gefragt: Ist es nicht doch falsch, zu meinen, daß erst ein solcher Rüstungsbeschluß Voraussetzung für Abrüstung sein kann? Diesen Einwand muß man ernst nehmen. Meine Antwort ist: Der Einwand ist auf den ersten
15092 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 11. Dezember 1979
Dr. Ehmke
Blick verständlich, aber politisch unrichtig und zwar aus drei Gründen:
Erstens können keine Beschlüsse, welcher Art auch immer, die Tatsache ändern, daß wir bei unserer Verteidigung von den Vereinigten Staaten von Amerika abhängig, daß wir auf sie angewiesen sind. Darüber sind wir uns einig. Der amerikanische Senat wird nicht bereit sein, für Rüstungsprogramme Geldmittel zu bewilligen, wenn die Europäer nicht mindestens grundsätzlich gesagt haben, ob sie zur Stationierung bereit sind.
Zweitens würde ein Nichtbeschluß in dieser Hinsicht SALT II weiter gefährden, dessen Schicksal ohnehin ungewiß ist. Wir können nicht sagen: Wir warten, bis die Amerikaner SALT II machen. Drüben sagen die: Wir warten, wie die Europäer sich entscheiden. Es hat keinen Zweck, im Kreis zu laufen. Dabei ist aber eines klar: Wir erwarten tatsächlich, daß SALT II ratifiziert wird. Denn das ist die Voraussetzung, um in SALT-III-Verhandlungen zu gehen.
Eine solche gutgemeinte Direktroute würde auch in der Sowjetunion das Gegenteil bewirken. Auch dort gibt es Falken und Tauben. Wenn wir uns jetzt hier nicht so, wie vorgesehen, entschließen würden, dann würden doch die Falken Herrn Breschnew sagen — dessen Entspannungspolitik ihnen ohnehin zu weit geht —: Du siehst doch, die sind gar nicht in der Lage, sich zu einigen, die NATO ist gar nicht handlungsfähig, sicher ist sicher, laßt uns doch das Übergewicht, das wir in diesem Bereich haben, behalten. — Darum bin ich der Meinung, es ist wichtig, auch dort zu zeigen, daß es eine Alternative gibt, wenn Verhandlungen nicht zu einem Gleichgewicht führen.
Es gibt einen technischen Einwand. Viele haben gesagt: Man kann nur Hardware handeln, also nur verhandeln, wenn man Raketen hat. Das Gegenteil ist bewiesen. Der erste Rüstungskontrollvertrag über ABM-Waffen war bekanntlich ein Vertrag, Optionen, die beide Seiten hatten, nicht zu verwirklichen.
— Ja. Da sind wir uns doch einig. Das war der Auftakt von SALT I. Hier ist es ähnlich.
Ich sage drittens: Nicht nur in Amerika und in der Sowjetunion, auch in der Bundesrepublik würde irgendein Beschluß und irgendeine Politik, die die Handlungsfähigkeit der NATO in Frage stellen, den falschen Leuten dienen. Nämlich Ihnen. Wir sind nun mal der Meinung, daß die Entspannungspolitik bei uns in besten Händen ist. Da wir uns einig sind, daß militärisches Gleichgewicht die Voraussetzung für die Entspannungspolitik ist, tragen wir als Sozialdemokraten auch Verantwortung für die Aufrechterhaltung des militärischen Gleichgewichts. Wir geben der Rüstungskontrolle den Vorrang und machen zur gleichen Zeit klar, was die Rüstungsalternative wäre, wenn wir keinen Erfolg haben. Wir werden dann in einigen Jahren sehen, wie weit wir in Verhandlungen mit der Sowjetunion kommen.
Ich möchte zu den Bekannten im sowjetischen Lager hier zweierlei sagen.
Erstens: Es muß ihnen klar sein, daß es von ihnen selbst abhängen wird — das sagen wir ihnen seit drei Jahren —, auf welchem Niveau das militärische Gleichgewicht in Europa stabilisiert werden kann.
Ich möchte ein zweites Wort sagen: Wir haben eine Reihe von Versuchen der Einmischung in die deutsche Diskussion erlebt. Ich war darüber erstaunt. Ich war der Meinung, man kenne uns besser. Ich will dazu folgendes sagen: Als in der Sowjetunion über die Produktion und Stationierung von SS-20-Raketen und Backfire-Bombern entschieden wurde, da gab es dort keine öffentliche Diskussion, in die wir uns hätten einmischen können.
— Ja, das ist der Unterschied. Das ist in der Demokratie anders. Und weil es in der Demokratie anders ist, gehört es zum Selbstverständnis und zum Selbstrespekt von Demokraten, solche Einmischungsversuche zurückzuweisen.
Lassen Sie mich ein Wort zur Deutschlandpolitik anhängen. Zunächst zu dem angekündigten Besuch des Bundeskanzlers bei Herrn Honecker. Wir freuen uns, daß dieser Besuch zustande kommt, und danken dem Bundeskanzler dafür, daß er sich nicht vom Wahlkampf oder sonstigen Dingen davon abhalten lassen will.
— Herr Marx, Sie sehen daran: Wir denken anders als Sie. Wir denken über solche Dinge nicht nur in Wahlkampf-Schablonen.
Es ist doch gut, daß wir zeigen, daß wir anders denken als Sie. Sie können überhaupt nur noch an Wahlkampf denken.
Als zweites ist die Frage aufgeworfen worden, ob denn Helmut Schmidt mit Herrn Honecker auch über Fragen der Rüstungskontrolle reden soll. Ich bin der Meinung: Reden — ja; verhandeln — nein. Verhandelt wird nur multilateral. Aber die Verantwortung, es nicht wieder von deutschem Boden zu aggressiven Handlungen kommen zu lassen, betrifft nicht nur die Bundesrepublik, sondern beide deutschen Staaten. Das ist ein Erbe unserer gemeinsamen Geschichte.
Herbert Wehner hat vor zehn Jahren zu Recht gesagt: „Das ist die Reifeprüfung der deutschen Nation,
daß wir gespalten miteinander zu leben genötigt
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 11. Dezember 1979 15093
Dr. Ehmke
sind und dabei doch dem Frieden zu dienen haben.'
Herr Barzel, Sie haben mit großem Pathos — wenn man das Pathos nennen kann — hier über das geredet, was wir alles versäumt haben. Sie haben leider nicht gesagt, was Sie in 20 Jahren fertiggebracht haben. Im Vergleich damit können wir uns sehr wohl sehen lassen.
Ich sage: Eine Partei, die wie die CDU/CSU zusammen mit den italienischen Neofaschisten und den albanischen Kommunisten die einzige Partei war, die in Europa die KSZE-Schlußakte abgelehnt hat, die sollte nicht so mundvoll über Menschenrechte reden.