Rede von
Dr.
Rainer
Barzel
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir verstehen sehr gut, daß sich der Herr Kollege Genscher wegen seiner Verpflichtungen heute, morgen und übermorgen in Brüssel jetzt in die Debatte eingeschaltet hat. Ich nehme an, er wird verstehen, daß wir heute nicht das Bedürfnis haben, auf das Thema, das er in Brüssel verhandelt, jetzt öffentlich einzugehen. Was die Opposition vor Ihrer Reise, die sie mit guten Wünschen begleitet, öffentlich und intern zu sagen hatte, ist bekannt. Ich nehme an, daß die amtliche deutsche Politik dies als hilfreich einstuft. Ich würde es sehr begrüßen, wenn sich das auch bis zum Herrn Kollegen Wehner herumsprechen würde, damit er endlich merkt, daß hier eine konstruktive Opposition tätig ist.
Im übrigen sprechen wir am Freitag, wenn Sie zurückkehren.
Ich möchte mich nun gern dem Haushalt des Bundeskanzlers zuwenden und mit einer Frage an ihn beginnen. Ich will nicht rügen, daß er im Augenblick nicht hier ist; er wird schon kommen, und er wird es ja hören. In Bonn ist eine Menge zu tun, und er wird es schon hören, keine Sorge.
Ich möchte beginnen mit einer Frage, die zugleich eine persönliche Bemerkung ist. Die Frage: Wie fühlt sich ein Bundeskanzler, der den Eid auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung unseres Grundgesetzes geleistet hat, der sich als Sozialdemokrat für diesen Staat ein Leben lang abgerackert hat, der, wie ich weiß, mit uns glaubt, dies sei der beste, der menschenwürdigste, der sozialste und freieste Staat unserer Geschichte, wie fühlt sich der, und wie fühlen sich seine Minister, wenn seine Genossen auf dem Parteitag zu Berlin nach Worten, die ich jetzt zitieren werde, in frenetisch-befreienden Jubel ausbrechen? Hier die Worte, gesprochen auf dem SPD-Parteitag, quittiert mit dem größten Jubel des Parteitags:
In einem Augenblick, da die Grundrechte des einzelnen in diesem Land gefährdet sind wie niemals zuvor seit der Befreiung von nationalsozialistischer Herrschaft, gefährdet durch die Folgen offener und geheimer Zensur und durch bürokratische Einschüchterung: ein „Kursbuch" im Gepäck an der Grenze, ein Amnesty-International-Plakat im Spind, ein Marx-Zitat in der Klausur, ein aufmüpfiges Gedicht im Lesebuch, einerlei ob von Grass oder von Goethe, eine Annonce zugunsten eines entlassenen Kollegen in der örtlichen Zeitung: wie leicht verstößt heute einer gegen jene
— und jetzt kommt das Hämische —
FDGO, die für einen Großteil der kritischen Generation längst zu einer Panzerfaust des Staates geworden ist ...
So sprach Professor Jens unter dem lebhaftesten Beifall der Genossen.
Ob wohl, verehrte Kolleginnen und Kollegen, einer von den dort Wortberauschten daran gedacht hat, diese unsere Ordnung, diese Sozialdemokratie, diesen Kanzler gegen diese Schmähung unseres Staates und seiner Beamten und Institutionen in Schutz zu nehmen?
Ob wohl einer den Mut hat, den Herrn Rhetorikprofessor zu fragen, ob es unter seinem wissenschaftlichen Rang ist, hier Roß und Reiter zu nennen? Denn die Vorwürfe sind ungeheuerlich.
Oder sprach er nur so daher, weil es ihm gerade so paßte, als l'art pour l'art sozusagen?
Ich möchte sagen: Wir machen uns ausdrücklich diesen Vorwurf nicht zu eigen. Ich sage, Herr Bundeskanzler: der Mann im Mond ist ein Zeitzeuge, verglichen mit diesem selbsternannten Mini-Danton, der irgendwo in einem selbsternannten Getto lebt, und diese Kapsel wird ja wohl bald zu röteren Horizonten ins Ungewisse abheben, meine Damen, meine Herren.
— Kollege Ehmke, kommen Sie her, sagen Sie, was Sie davon denken,
sonst treten Sie ab, denn aus diesem Geist sollte die Mehrheit, die Deutschland regiert, nicht bestimmt sein.
15078 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 11. Dezember 1979
Dr. Barzel
Meine Damen und Herren, die Wählerinnen und Wähler, die uns hierher entsandt haben, erwarten — das schließt an einen anderen Punkt vom Kollegen Genscher an, und ich hoffe, daß der Bundeskanzler darauf zurückkommt —, daß wir — —
— Natürlich, ich habe doch gesagt, er kommt schon.
— Für Sie nicht, Herr Conradi? Sie machen sich also das zu eigen, was Herr Jens gesagt hat? Sie selbst verantworten, Herr Kollege Conradi, als nur Ihrem Gewissen verantwortlicher Abgeordneter, daß hier die Grundrechte verletzt werden? Daß es hier Zensur gibt? Und die bürokratische Einstellung? — Das verantworten Sie dann selbst!
Meine Damen, meine Herren, ich hoffe, daß wir etwas zu den weltpolitischen Erschütterungen hören werden, die unser Volk, die uns alle erschüttern. Da stellen sich natürlich an uns alle Fragen; aber zuerst an die Bundesregierung, die über die Informationen wie über die Instrumente zum Handeln verfügt. Ich will deshalb einige Fragen stellen. Es wäre ja wohl blamabel, wenn sie im Laufe dieser langen Debatte nicht beantwortet würden.
Erstens. Welche Vorkehrungen treffen EG und NATO, der Westen und Japan insgesamt, um uns vor künftiger Erpressung durch Staaten zu sichern? Wir wissen, daß ein Teil der Antwort hierauf nicht wird hier gegeben werden können, aber den allgemeinen und öffentlich möglichen Teil wollen wir, Herr Bundeskanzler, doch schon gerne hier hören; den sollte nicht nur der amerikanische Außenminister hinter verschlossenen Türen hören.
Ich gehöre nicht zu denen, die glauben, das, was heute Teheran und Öl und Washington betrifft, sei auf andere Themen nicht übertragbar. Das kann morgen andere Orte, andere Themen, andere Länder betreffen. Wenn der Westen mit der Schläue, jeder solle sein Schäfchen ins Trockene bringen, arbeiten wollte, würden bald wir alle, jeder für sich, in steigender Flut ertrinken.
Ich glaube nicht, daß Ayatollah Khomeini all das, was er in die Auseinandersetzung gebracht hat, gewagt hätte, wenn es eine Politik und ein Instrumentarium westlicher Solidarität gäbe.
Wir haben in den Ost-West-Fragen aus Erfahrung eine Politik und ein Instrumentarium der Solidarität gelernt. Dieses Instrumentarium reicht von politischen und diplomatischen Schritten über rechtliche Maßnahmen bis hin zu ökonomischen und militärischen Konsequenzen. Dies alles wird so direkt nicht zu übertragen sein. Wenn es etwa um Fragen des Handels geht, haben wir Deutschen dazu, was geht und was nicht geht, etwas beizutragen; wir haben das in den 60er und in den 50er Jahren doch erfahren. Nur ist eines, verehrte Damen und Herren, sicher: Das Zwergenhafte allein nationaler Politik ist hier auch dem einfältigsten Geist unübersehbar.
Die Notwendigkeit der Stunde ist Solidarität. Mir war nicht wohl, als ich im Fernsehen sehen mußte, wie dieselben Männer, die vor der amerikanischen Botschaft in Teheran das tun, was jeder weiß, und dann, auch von ihren Geistlichen geleitet, mit freundlichen Gesichtern Blumen zu anderen westlichen Botschaften brachten. Da war mir nicht wohl, und ich hoffe, es wird in diesen Tagen ganz deutlich: Ohne Solidarität wird dies nicht gehen. Ich hoffe, wir hören etwas dazu.
Das zweite — und das schließt an die letzte Debatte über den Haushalt des Kanzlers an —: Ende Januar habe ich hier für meine Freunde darauf hinweisen dürfen, daß wir glauben, ein Stück der westlichen Politik sei zu oberflächlich und zu materialistisch, und zwar insofern, als wir unsere säkularisierten Erfahrungen auf Länder übertragen, in denen das Geistige, das Geistliche und die entsprechenden eigenen Wertvorstellungen, Erfahrungen und Traditionen eine große Rolle spielen. Wir haben auf den Erfolg hingewiesen, den wir in Deutschland mit dem Gespräch der Konfessionen miteinander hatten. Dieses Gespräch hat nichts abgeschliffen, aber wir wissen nun, was wir aneinander haben. Wir haben auf das Gespräch zwischen Christen und Juden hingewiesen, wir haben angeregt, das zu einem Gespräch zwischen Christen, Juden und dem Islam zu erweitern, und haben gesagt, die Politik möge daran bitte Anteil nehmen.
Diese sicher wichtige Anregung ist — ich sage das zu meiner Freude — auf Ihrer Seite positiv aufgenommen worden. Es gab ein Seminar, und es gibt dazu alle möglichen Planungen, die wir kennen. Nur, Herr Außenminister, nachdem Sie das dankenswerterweise in die Hand genommen haben — notwendig wären ein bißchen mehr Tempo und ein bißchen mehr Elan in diesen Fragen; nicht die Vertröstung auf die Gründung eines Zentrums übermorgen, sondern die Schaffung von Möglichkeiten, wie wir sie im Januar vorgetragen haben, morgen wäre das Wichtige.
Meine Damen und Herren, wir müssen eben einfach erkennen, daß man oft mit vollen Taschen zugleich leere Hände hat, weil der Mensch nicht vom Brot allein lebt. Die Dimension „Geist" in die Politik einzuführen, war der Sinn dieser Initiative christlicher Demokraten. Ich meine, es stünde dem ganzen Hause gut an, dies zu unterstützen.
Das dritte: Ausgerechnet in dieser weltpolitischen Lage leistete sich Europa — es tut mir leid, dies sagen zu müssen — den Luxus der Ratstagung von Dublin. Wäre es nicht an der Zeit — aber das wollen Sie ja nicht, Sie wollen da ja nicht ,,Schrittmacher" werden, Herr Bundeskanzler, obwohl das, wie wir jetzt an der Frage, die morgen in Brüssel behandelt wird, sehen, unser eigenes Interesse wäre —, hier in Europa zu neuen Wirklichkeiten, zu einer anderen Dimenion vorzustoßen? Natürlich wissen wir alle — und wir haben dies doch damals, als es um die Senkung des Getreidepreises ging, getragen —, daß
Dr. Barzel
für Frankreich der gemeinsame Agrarmarkt die Geschäftsgrundlage ist. Aber selbst dann, wenn wir sa- gen, dies muß so bleiben, und dies soll so bleiben, weil wir verläßliche Leute sind, muß doch unter Politikern, die in einem Boot sitzen, die Frage erlaubt sein: Schön, kann man das nicht auch billiger und effektvoller machen?
Ebenso darf dann, wenn für die Briten offenbar bestimmte Dinge — Importe aus Ländern außerhalb der Gemeinschaft. — wichtig sind, dadurch doch nicht die Frage verboten werden: Kann man hier nicht gemeinsam etwas Besseres finden? Ich meine, wir Deutschen sollten in diesem Zusammenhang auch einiges einsehen: nämlich daß es für uns in der EG doch von wachsendem Vorteil ist, dort gleichberechtigt mit zwei Mächten zu arbeiten, die ständige Mitglieder des Weltsicherheitsrates sind und zugleich über die modernsten Waffen verfügen.
Ich glaube, diese drei Punkte gehören in eine Perspektive für die 80er Jahre, denn es geht ja nicht nur um Geld, es geht um die Politik für die 80er Jahre, die dann in Geld ihren Ausdruck findet. Das ist doch die Lage in Europa.
Und das vierte: Die innerdeutschen Fortschritte sind gering, sind sehr teuer — wie ich glaube, zu teuer. Noch schlimmer ist: Sie stellen nicht Normalität her, sondern betonen mehr und mehr das ganz und gar Unnormale, wie gerade das jüngste Abkommen über die Pauschalierung der Straßengebühr zeigt. Oder hält jemand hier Straßenzoll in Deutschland für normal?
Von einem relativ freizügigen Austausch zwischen Polen und Schweden kann man lesen; auch von den Problemen, die das schafft. Auch zwischen der DDR und Polen wie zwischen der DDR und der Tschechoslowakei gibt es, wie zu hören ist, einen visafreien Nachbarschaftsverkehr. Das ist heute normal. Und ich frage: warum gibt es das nicht zwischen beiden Staaten in Deutschland, also von Dresden nach Köln? — Wenn Sie da lachen, verehrter Herr Kollege, möchte ich Sie doch herzlich einladen, einmal zu prüfen, ob die Regierung, die Sie tragen, diese fundamentale Frage des frei von Dresden nach Köln sowie von Dresden nach Warschau und Prag Reisens einmal konkret und nachdrücklich vorgetragen hat. Wenn ja, mit welcher Antwort — das wird das ganze Haus und die Offentlichkeit interessieren —, wenn nein, würde das gegen Sie selber sprechen!
Ich erinnere daran, gerade den künftigen Kandidaten von Bonn — ich weiß nicht, ob er schon aufgestellt ist —, Herrn Kollegen Ehmke, der immer so sagt, es sei früher gar nichts gewesen, daß es schon vor den Ostverträgen — der Bundeskanzler weiß das sehr gut, wie seine Einlassung neulich zeigt — quantitativ und qualitativ bemerkenswerte innerdeutsche Begegnungen gab. Wenn Sie sich die Zahlenreihen einmal ansehen, finden Sie mehr als eine Million Reisen in die DDR und Besuchsreisen in derselben Größenordnung aus der DDR. Das war in den 60er Jahren. 1955 und 1956 kamen mehr als 2 Millionen Besucher aus der DDR hierher, und davon waren viele Tausende Künstler, Wissenschaftler,
Ärzte, z. B. bei gesamtdeutschen Veranstaltungen, die der Bund damals gefördert hat.
Herr Bundeskanzler, ich erinnere an dies beides, an den Nachbarschaftsverkehr aus der DDR, etwa in die Tschechoslowakei und nach Polen, und an die höheren Zahlen von früher, weil Sie sich ja entschlossen haben, erneut zu Herrn Honecker zu fahren. Ich meine, diese Erfahrungen gehören in Ihr Reisegepäck. Denn diese Reise hat doch nur dann einen guten Sinn, wenn sie hilft zur Normalität. Normalität aber ist nicht, daß Sie beide auf dem Fernsehschirm sind, sondern die Normalität ist, daß die Menschen in Deutschland, daß Deutsche in Deutschland normal miteinander umgehen können,.
sich treffen können usw. Es kann doch nicht der Sinn dieser Politik sein, das Unnormale zu zementieren und obendrein noch zu teuer zu bezahlen. Ich habe Ihnen im Januar doch die verschenkte Milliarde vorgerechnet.
Wenn es darum geht, die neueste Abmachung zu erörtern, werden wir Ihnen vorrechnen, welche Beträge da wieder drinstecken, von denen wir glauben, daß sie überflüssigerweise, bezahlt werden.
— Herr Kollege Wehner, warum wollen Sie dem, was jetzt kommt, nicht zustimmen? Sie kennen unsere Konzeption und unsere Vorliebe auf dem Gebiet für Stufenpläne, die wir brauchen, damit man Leistung und Gegenleistung abfragen kann; Stufe zwei tritt in Kraft, wenn Stufe eins erfüllt ist.
Warum, verehrter Herr Bundeskanzler, nehmen Sie in ihrem Reisegepäck nicht etwa einen Zehnjahresplan mit Stufen mit, nach dem innerhalb von jeweils zwei Jahren weitere Jahrgänge von drüben nach hier kommen können?
Das wäre etwas ganz Konkretes, Nachprüfbares. Sie haben ja immer gern konkrete Hinweise von uns.