Rede von
Albert
Burger
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren. Herr Kollege Fiebig, Sie haben eben dramatisch die Geister der Vergangenheit beschworen. Ich glaube, Sie haben es zu Recht getan. Sie haben den Halbierungserlaß zitiert, der mit die Diskriminierung der psychisch Kranken gebracht hat. Ich frage mich mit Ihnen: Wie konnte es geschehen, daß er jetzt erst außer Kraft gesetzt wird?
13960 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 177. Sitzung. — Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Burger
Aber noch etwas hat sich vor 40 Jahren ereignet. Am 1. September 1939 hat Hitler den EuthanasieErlaß unterschrieben. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" schrieb in diesen Tagen: Unter dem Anschein der Barmherzigkeit schuf dieser Erlaß die Rechtsgrundlage für das Programm zur Vernichtung lebensunwerten Lebens. Mehr als 100 000 Menschen mußten sterben. Auch ich habe damals als 14jähriger diese Zeit in der Nähe des Landeskrankenhauses Emmendingen miterlebt. Ich habe von diesen Vorfällen in einer Predigt des Freiburger Erzbischofs Gröber gehört. Ich weiß, daß die Anstrengungen der Kirchen dazu geführt haben, daß im Jahre 1941 — etwa in dieser Zeit — der Erlaß zurückgenommen worden ist — allerdings nachdem schon weit über 100 000 Menschen, vielleicht sind es sogar 120 000 gewesen, gestorben sind. Warum sage ich das? Ich sage es deshalb, weil diese Zeit die deutsche Psychiatrie um Jahrzehnte zurückgeworfen hat und weil der psychisch Kranke durch diese Zeit — vielleicht noch im Unbewußten vorhanden — diskriminiert und sozusagen ins Abseits gestellt worden ist.
Wir haben dann die Initiative ergriffen, die in die Psychiatrie-Enquete mit ihren Feststellungen, mit ihren Diagnosen, mit ihren Vorschlägen eingemündet ist. Die Bundesregierung steht dahinter, wir stehen dahinter. Wir wollen versuchen, das Beste daraus zu machen, und zwar unverzüglich. Wir wollten damit auch sehr bewußt ein Stück Vergangenheit bewältigen. Wir sind bereit — unser Sinnen steht nicht nach Konfrontation —, auch in den nächsten Jahren in gemeinsamer Anstrengung das zu tun, was zu tun notwendig ist, wenn wir es mit den Menschenrechten in unserer Verfassung ernst meinen.
Ich stimme Ihnen voll zu, Frau Minister Huber, wenn Sie als die Ziele der Psychiatriereform eine moderne Versorgung und die Gleichstellung der psychisch Kranken genannt haben. Wir dürfen uns allerdings von Anfangserfolgen im stationären Bereich nicht täuschen lassen. Wir sollten auch noch stärker den Ursachen der Zunahme der Zahl der psychisch Kranken nachgehen. Eine dieser Ursachen ist die zunehmende langfristige Arbeitslosigkeit. Wir müssen die Reform als Ganzes vorantreiben. Wir müssen die Mängel sehen und insbesondere darauf achten, daß die Mittel, die bereitgestellt worden sind - und wir begrüßen sehr, daß es diese Mittel gibt —, auch dort schwerpunktmäßig sinnvoll eingesetzt werden, wo zunächst noch die gröbsten Mängel bestehen.
Wir hätten — ich darf das wiederholen — in der jüngsten Vergangenheit von der Bundesregierung ein bißchen mehr Mut und Engagement erwartet. Zu stark hat sie manchmal ihre Nichtzuständigkeit betont. Aber last not least, meine Damen und Herren, darf ich noch einmal sagen: Wir wollen keine Konfrontation und keine Härte, wir wollen im Guten zusammenwirken und das Beste aus dieser Enquete machen.
Ich möchte mich noch kurz mit dem Problem der Rehabilitation der Behinderten auseinandersetzen.
Ich fürchte, die psychisch Kranken sind heute noch Stiefkinder der Rehabilitation.
Für Körperbehinderte und geistig Behinderte ist in der Bundesrepublik in den letzten zwei Jahrzehnten ein Rehabilitationssystem von hohem Niveau aufgebaut worden. Für diese Gruppen wurden Einrichtungen zur medizinischen, zur beruflichen und zur schulischen Rehabilitation bereitgestellt. Für die psychisch Kranken steht noch nichts Gleichwertiges bereit. Zwar kennt das Bundessozialhilfegesetz seit rund einem Jahrzehnt einen Rechtsanspruch für seelisch Behinderte, und seit Jahren be- steht auch das Gesetz zur Angleichung der Leistungen in der Rehabilitation. Auch das Schwerbehindertengesetz und das Arbeitsförderungsgesetz kennen keinen Unterschied zwischen körperlich und seelisch Behinderten. Trotzdem gehören die psychisch Kranken immer noch zu der am meisten benachteiligten Behindertengruppe.
Die Psychiatriereform hat vor allem die Situation in den Landeskrankenhäusern verbessert. Es wurden räumliche und hygienische Mißstände abgebaut, die Personalausstattung verbessert und auch der Langzeit- und der Pflegebereich reduziert. So hat zum Beispiel das Land Baden-Württemberg — ich kenne nur die Zahlen aus diesem Lande — in einem Aufbau- und Nachholprogramm für die psychiatrischen Großkrankenhäuser etwa 80 Prozent dieser Häuser saniert. Es wurden 650 Millionen DM bereitgestellt; dadurch konnten selbstverständlich die gröbsten Mängel beseitigt werden. Andere Länder haben ähnliche Anstrengungen unternommen.
Durch diese Verbesserungen und auch durch neue Möglichkeiten im medizinischen Bereich sind aber auch die Chancen für die Rehabilitation der seelisch Behinderten gewachsen. Für diese große und leider Gottes noch wachsende Gruppe der psychisch Behinderten fehlt jedoch noch weitgehend ein integriertes Rehabilitationssystem. Diese Lücke wirkt sich ungünstig aus, denn die schon erwähnte Modernisierung der Fachkrankenhäuser und die wirksameren Behandlungsmethoden führen mehr psychisch Kranke als früher an die Schwelle der beruflichen Rehabilitation heran.
Auch die Veränderung der Lebensbedingungen, vor allem die erhöhten Anforderungen im Arbeitsleben, hat gleichzeitig zu einer Verminderung der Chancen der psychisch Behinderten geführt, die sich ohne berufliche Maßnahmen nicht werden behaupten können. Vor allem die Zahl der jungen Behinderten, die den Einstieg ins Berufsleben nicht schaffen, ist stark angestiegen. So hat man festgestellt, daß in Übergangswohnheimen — das sind Heime, die Patienten nach der Akutbehandlung aufnehmen — von den 18- bis 25jährigen weniger als ein Viertel und von den 26- bis 40jährigen nur die Hälfte eine Berufsausbildung haben. Der enge Zusammenhang zwischen psychischer Behinderung und mangelnder beruflicher Verwirklichungsmöglichkeiten wird hier sehr deutlich sichtbar.
Die Angebote an Einrichtungen für die beruflichsoziale Rehabilitation psychisch Behinderter sind in
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der Bundesrepublik außerordentlich knapp bemessen. Das in den letzten Jahren aufgebaute dichte Netz von Berufsbildungswerken für Jugendliche und von Berufsförderungswerken für Erwachsene ist den psychisch Behinderten weitgehend verschlossen. Die Werkstätten für Behinderte sind, von Ausnahmen abgesehen, vorrangig auf die Bedürfnisse der geistig Behinderten abgestimmt. Da wegen der besonderen Betroffenheit der seelisch Behinderten meist nur eine stufenweise Rehabilitation möglich ist, muß in der Zukunft vor allen Dingen ein Netz von komplementären Diensten geschaffen werden. Dazu gehören Übergangsheime, Wohnheime, beschützende Wohngruppen, Patientenklubs und Tagesstätten, daneben rehabilitative Dienste, beschützende Werkstätten und auch beschützende Arbeitsplätze. Der Ausbau dieses Übergangsbereiches ist von einer Gesamtvereinbarung der Kostenträger abhängig, um die notwendigen therapeutischen und berufsfördernden Leistungen auch zu finanzieren. Eine solche Regelung wird gegenwärtig von der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation vorbereitet. Ich hoffe, sie wird bald verabschiedungsreif beraten sein.
Wir begrüßen es, daß die Bundesregierung dem Aufbau der komplementären Dienste prinzipiell eine erhebliche Bedeutung beimißt. Da auf diesem Gebiet auch ein strukturelles Durcheinander herrscht, muß eine sinnvolle Abstimmung beim Ausbau dieser Hilfen erfolgen.
Zusammenarbeiten müssen vor allem auch die Verwaltungen der Gesundheitsfürsorge, der Sozialhilfe, der Jugendhilfe und der Arbeitsämter. Die volle berufliche Eingliederung — das darf nicht verschwiegen werden — bedeutet indes für viele psychisch Behinderte eine Überforderung. Es müssen daher auch Beschäftigungsformen akzeptiert werden, die auch nur beschränkt Arbeitsfähigen eine Chance geben. Insbesondere sollten auch die Werkstätten für Behinderte stärker als bisher Angebote machen. Die Bundesregierung muß in der noch zu erlassenden Rechtsverordnung sicherstellen, daß neben den geistig Behinderten auch seelisch Behinderte dort einen Platz erhalten können. Wir sind in der jüngsten Vergangenheit nicht müßig geworden, immer wieder darauf hinzuweisen, daß in diesen Werkstätten für Behinderte alle Behinderten, die gemeinschaftsfähig sind, einen Platz finden müssen. Dies gilt neben den geistig Behinderten auch für die seelisch Behinderten. In der Zukunft dürfen nicht zwei Klassen von Werkstätten geschaffen werden.
Ich komme zu einem weiteren wichtigen Punkt. Der Kernpunkt der Rehabilitation psychisch Behinderter ist die Frage der Annahme durch die Gesellschaft, also durch die Mitmenschen, und zwar besonders am Arbeitsplatz. Die angestrebte Rehabilitation oder Integration ist noch keine Selbstverständlichkeit. Die psychisch Behinderten sind durchaus leistungsfähig, wenn der Arbeitsplatz auf ihre individuellen Möglichkeiten abgestimmt wird. Bei diesem Personenkreis ist aber begleitende Hilfe
besonders erforderlich. Hier treten bereits die ersten Schwierigkeiten für die Bereitschaft der Aufnahme psychisch Behinderter auf. Ihre Eingliederung erfordert eine besondere Rücksichtnahme. Erhält ein so Behinderter nicht die notwendige Hilfe oder erlebt er Mißerfolge, kann er zerbrechen. Um dies zu verhindern, muß die Umgebung im Tätigkeitsbereich in der rechten Weise eingestellt werden. Die Mitarbeiter müssen lernen, den Umgang mit seelisch Behinderten als allgemein-menschliches Problem zu erkennen. Bei vielen dieser Behinderten sind persönliche Hilfen am Arbeitsplatz erforderlich. Ihr Selbstvertrauen muß gestärkt, Leistungen müssen gerecht beurteilt und Fehler müssen sachlich korrigiert werden. Zu dieser Rehabilitation gehört auch das Instrument der Arbeitserprobung. Diese Möglichkeit sollte besonders in der Zukunft stärker in Anspruch genommen werden.
Im Vergleich zu Körperbehinderten erfordert der psychisch Behinderte weit mehr Einfühlungsvermögen und flankierende mitmenschliche Hilfe, um Kontaktstörungen und phasenhaft schwankende Leistungseinbußen zu überwinden. Eine befriedigende Beschäftigung ist eine wichtige Lebensbasis; dies gilt für Gesunde wie für Behinderte, aber ganz besonders für seelisch Kranke.
Meine Damen und Herren, ich möchte zum Schluß kommen. Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie hat auf einer Tagung in Heidelberg auf all diese ungelösten brennenden Fragen ebenfalls hingewiesen. Auf dem Kongreß wurde bekannt, daß im vergangenen Jahr 23 000 psychisch Behinderte zu Frühinvaliden wurden und daß im Jahre 1978 rund 14 000 Menschen aus diesem Personenkreis Selbstmord begingen.
Diese Zahlen müssen aufrütteln. Sie müssen uns zu größeren Anstrengungen anspornen. Die Rückkehr der psychisch Kranken in die Gesellschaft statt der früheren Verwahrung in Heil- und Pflegeanstalten stellt diese Gesellschaft — das sind wir alle — vor ganz neue Aufgaben.
Viele Menschen haben dies auch begriffen; denn in Stadt und Land gibt es Initiativgruppen, die sich der Betroffenen annehmen. Wir müssen den seelisch behinderten Mitbürgern durch den energischen Ausbau von Rehabilitationsdiensten möglichst bald eine faire Chance zu einem neuen Start geben. Das angekündigte Internationale Jahr der Behinderten sollte für die Bundesregierung der Anstoß sein, das Aktionsprogramm für die Rehabilitation mit diesem Schwerpunkt fortzuschreiben. Ich meine — dies ist ein Wort des ehemaligen Arbeitsministers Grundmann —: Eine Gesellschaft ist nicht nur an ihrem Lebensstandard, sondern ebenso an ihrer Menschlichkeit zu messen.