Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es bleibt mir nicht die Zeit, im einzelnen auf die Ausführungen der Vorredner einzugehen. Herr Glombig und einige andere Redner haben hier zehn Gesetze, die entwickelt worden sind, dargestellt und dabei den Eindruck erweckt, als seien die Probleme der Behinderten bereits weitgehend gelöst. Einige dieser Gesetze sind in Zeiten, in denen die Union die Regierung stellte, entstanden. Zu allen Gesetzen hat die CDU/CSU einen wesentlichen Beitrag geleistet. Das wollte ich vorweg einmal ganz klar sagen.
Ich möchte hier dazu Stellung nehmen, daß die Situation in vielen Bereichen noch nicht befriedigend ist, und mich dabei insbesondere auf die Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU betreffend Behindertenwerkstätten beziehen. In der Antwort auf Frage 16 führt die Bundesregierung aus:
Die Voraussetzungen für diese Fragestellung sind inzwischen durch die fortgeschrittene Rechtsentwicklung offensichtlich entfallen. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung des Deutschen Bundestages ist bei den Beratungen des neuen Schwerbehindertengesetzes zu der Auffassung gelangt, daß in Zukunft von einem einheitlichen, umfassenden Begriff der Werkstätte für Behinderte auszugehen ist.
Das ist gut so. Herr Kollege Burger hat hier vorhin auch schon die Anerkennung dafür ausgesprochen. Die CDU/CSU-Fraktion stellt mit Genugtuung fest, daß es ihr in den Ausschußberatungen gelungen ist, durch einen Änderungsantrag die Begriffsbestimmung der Behindertenwerkstätten noch wesentlich zu verbessern. Sie hat damit an der fortschrittlichen
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Rechtsentwicklung, von der die Bundesregierung spricht, einen wesentlichen Anteil.
Vorher hat es nämlich ganz anders ausgesehen. Der Regierungsentwurf des Schwerbehindertengesetzes, der unsere Anfrage unter Ziffer 16 ausgelöst hat, sah in § 38 b vor, daß in Werkstätten für Behinderte nur Behinderte aufgenommen werden könnten, die die fachlichen Anforderungen des Arbeitsförderungsgesetzes und der hierzu ergangenen Durchführungsbestimmungen erfüllten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das hätte bedeutet, daß ein Behinderter in den Werkstätten mindestens den Regelsatz nach dem Bundessozialhilfegesetz hätte ereichen müssen, was einem Arbeitsentgelt von 250 DM im Monat entsprochen hätte. Die Realität in den Werkstätten ist aber eine ganz andere. Nach den Feststellungen des Instituts für Sozialrecht an der Universität Bochum haben 1971 80 % der Behinderten weniger als 115 DM Entgelt erhalten. Diese Regelung hätte also bedeutet, daß 80 %der Behinderten vom Besuch der Werkstätten ausgeschlossen worden wären.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Union vertritt mit maßgeblichen Fachleuten die Auffassung, daß es im Rahmen der Bemühungen der Werkstätten ein großer Erfolg ist, wenn Behinderte auch nur kleine Schritte zur Gemeinschaftsfähigkeit hin machen können, ferner in die Lage versetzt werden, verwertbare Arbeit zu leisten, und dadurch Selbstbestätigung und Selbstvertrauen wiederfinden.
Zu dem verabschiedeten Schwerbehindertengesetz müssen wir folgendes feststellen.
Erstens. Der Begriff „Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeit" ist immer noch nicht definiert. Dies hat zur Folge, daß bei den Trägern der Werkstätten Rechtsunsicherheit besteht. Daher fragen wir die Bundesregierung: Wie wird die Lösung, die zu erwarten ist, aussehen? Wird sie vor allem in Verfolg des § 52 die Untergrenze des Entgelts bei 5 % auf 1 % oder auf 0,1 % der vergleichbaren Arbeitsleistung eines nicht behinderten ungelernten Arbeitnehmers ansetzen?
Zweitens. Die Rechtsverordnung nach § 55 liegt immer noch nicht vor. Der Erlaß der Rechtsverordnung ist vordringlich — und zwar trotz der Möglichkeit des vorläufigen Anerkennungsverfahrens —, damit eine baldige und endgültige Klarheit für die Werkstätten und für die auftraggebenden Betriebe erreicht wird. Werkstätten und Betriebe müssen langfristig disponieren können. Hiermit habe ich die diesbezügliche Forderung in Ziffer 1 unseres Entschließungs-Antrages bereits begründet. Ich werde nachher also aus Zeitgründen deswegen nicht noch einmal an das Rednerpult treten.
Frau Kollegin Lüdemann, Sie haben gesagt, die vorläufige Anerkennung werde die Rechtsunsicherheit beseitigen. Das würde nur dann stimmen, wenn bei der vorläufigen Anerkennung von den gleichen Kriterien ausgegangen wird, die die zu erwartende Rechtsverordnung nach § 55 beinhaltet. Darauf warten wir.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nach dem Gesetzentwurf über die Sozialversicherung für
Behinderte ergeben sich für die Werkstätten unerträgliche Härten in bezug auf die Entrichtung der Krankenkassen- und der Rentenversicherungsbeiträge. Nach § 4 des Gesetzentwurfs hat die Werkstatt 1975 bis zu einem Entgelt von monatlich 305 DM die Beiträge zur Krankenversicherung das sind jetzt durchschnittlich 10 °/o, also monatlich etwa 30 DM — ganz allein zu tragen, und das auch dann, wenn der betreffende Behinderte nur 20 DM Entgelt bekommt. Ferner hat die Werkstatt nach § 8 auch die Beiträge für die Rentenversicherung bis zu einem Entgelt von 280 DM monatlich, das sind 50 DM monatlich bei 18% Beitrag in der Sozialversicherung, zu tragen. Die Rentenversicherungsbeiträge, bis hinauf zu 90 % des Durchschnittsverdienstes aller Arbeitnehmer, tragen je zur Hälfte Bund und Land. Jedoch hat die Werkstatt auch hier die Lasten der Berechnung und der Buchhaltung aufzubringen.
Meine Damen und Herren, wenn beispielsweise für einen Behinderten — und nehmen Sie das jetzt ernst — von einer Werkstatt insgesamt 80 DM Beiträge allein getragen werden müssen, so ist damit die Voraussetzung für den Konkurs der Behindertenwerkstatt und für ein Werkstattsterben geschaffen, vor allem dann, wenn die Beitragslast höher ist als das erzielte Entgelt, was bei der überwiegenden Zahl der Behinderten praktisch der Fall ist.
Meine Damen und Herren, die Auffassung, daß diese Beitragsbelastung von den Sozialhilfeträgern übernommen wird, ist umstritten. Die Verhandlungen von seiten einiger Werkstattträger mit den Sozialhilfeträgern haben ergeben, daß diese Mehraufwendungen nicht als Bestandteil der Pflegesätze anerkannt werden. Da andere Mittel in nennenswerten Umfang in Werkstätten nicht zur Verfügung stehen, besteht nur die Möglichkeit, das Arbeitsentgelt der Behinderten zu kürzen, was behindertenfeindlich wäre.
Meine Damen und Herren, daher wird von den Werkstätten — ich meine: mit Recht — gefordert, daß die gesamte Beitragsbelastung von Land und Bund getragen wird. Herr Glombig hat in seinen Ausführungen so getan, als sei das jetzt schon der Fall; das ist eben nicht der Fall!
Die CDU/CSU-Fraktion ersucht die Bundesregierung, diese Forderungen der Werkstätten zu prüfen und Überlegungen anzustellen, ob eine Regelung der Art gefunden werden kann, daß sich die Beiträge zur Rentenversicherung am Mindestmaß verwertbarer Arbeitsleistung, d. h. an einem monatlichen Entgelt ab 50 DM, orientieren, wobei die Beitragsbefreiung der Werkstätten ins Auge gefaßt werden müßte. Die gleiche Beitragsbefreiungsmöglichkeit müßte auch im Krankenversicherungsbereich geprüft werden. Darüber hinaus sollte auch geprüft werden, ob Werkstätten mit stationären Einrichtungen unter diese Versicherungspflicht fallen, sofern sie die Voraussetzungen des § 52 erfüllen.
Zum Entwurf des Gesetzes über die Sozialversicherung Behinderter noch ganz kurz folgendes. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, kann schon heute festgestellt werden, daß der beabsichtige Zweck, eine unabhängige Altersversorgung für
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Behinderte aufzubauen, allenfalls nur für langfristig Versicherte, also für Behinderte mit 30, 40 und 50 Beitragsjahren, erreicht wird. Dagegen wird bei kurzfristig versicherten Behinderten, vor allem bei Versicherungszeiten, die nicht mehr als 20 Jahre betragen, dieses Ziel nicht erreicht werden. Frage: Was ist mit jenen Behinderten, die bereits jetzt 45 Jahre oder älter sind und die Anwartschaft von 20 Jahren gar nicht mehr erreichen können? Bei kurzfristig versicherten Behinderten werden Renten entstehen, die nicht höher als die Sätze der Sozialhilfe sind, ja, die Sozialhilfe gewährt sogar höhere Leistungen, als der neue Rentenversicherungsentwurf vorsieht, und zwar ohne jegliche Beitragsleistungen.
Wenn man bedenkt, daß bei einer künftigen 20jährigen Versicherungszeit ein Beitragsaufkommen von 60 000 DM zustande kommt und der betreffende Rentner nichts, aber auch gar nichts von dieser Beitragsleistung hat, weil die Sozialhilfe mehr zahlt, als aus diesen 60 000 DM an Rente herauskommt, so ist dies bedauerlich. Da kann die Zielsetzung nicht mehr stimmen.
Herr Glombig hat die Nachentrichtungsmöglichkeit der Behinderten zur Rentenversicherung zurück bis zum Jahre 1956 angesprochen. Herr Glombig, abgesehen davon, daß die Behinderten oder ihre Angehörigen kaum eine Geldsumme von 20 000 oder 30 000 DM aufbringen können, ist auch diese Nachzahlung völlig zwecklos, weil die Sätze der Sozialhilfe, die ohne Beitragsleistung gewährt werden, höher sind als die zu erwartende Rente. Es kann doch nicht Sinn dieses Teils des Gesetzes, den ich kritisiere, sein, die Sozialhilfe zu subventionieren.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU ersucht die Bundesregierung, zu prüfen, ob die Beitragsentrichtung durch die Schaffung eines Rentenfreibetrages in der Sozialhilfe in etwa honoriert werden kann.
Wir werden im Ausschuß die weitere Beratung dieses Gesetzentwurfs, der für die Behinderten sehr wichtig ist, mit großer Aufmerksamkeit verfolgen.