Rede von
Eugen
Glombig
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(SPD)
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor etwa viereinhalb Jahren, im Jahre 1970, hat die Bundestagsfraktion der CDU/CSU zum erstenmal in der Geschichte dieses Hauses eine Große Anfrage zur Rehabilitation der Behinderten eingebracht. Damals war dies für die Regierungskoalition — und auch für mich persönlich — ein willkommener Anlaß, vor einer breiten Öffentlichkeit ihre Konzeption zur Sozialpolitik für Behinderte zu erläutern. Die jetzige Große Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hingegen ist, so meine ich, eine Gelegenheit, darzustellen, daß es für die Regierungskoalition nicht beim Entwerfen von Programmen geblieben ist, sondern daß diesen Programmen weitere Ideen und vor allem auch Taten gefolgt sind.
Vor etwas mehr als fünf Jahren hat Bundeskanzler Brandt in der ersten Regierungserklärung der sozialliberalen Koalition der Rehabilitation der Behinderten eine besondere Priorität in der Sozialpolitik eingeräumt. Das war das erste Mal, daß eine Bundesregierung, und zwar eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung, die Behinderten in einer Regierungserklärung überhaupt erwähnt hat. Kein einziger CDU-Bundeskanzler hatte das zuvor für notwendig befunden. Damals sagte Willy Brandt:
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Die Bundesregierung wird um verstärkte Maßnahmen bemüht sein, die den Benachteiligten und Behinderten in Beruf und Gesellschaft, wo immer dies möglich ist, Chancen eröffnen.
Schon ein halbes Jahr später, im April 1970, hat Bundesarbeitsminister Walter Arendt, dem ich und, so glaube ich, die Behinderten im ganzen Lande dafür sehr dankbar sind, das „Aktionsprogramm zur Förderung der Rehabilitation" vorgelegt. In diesem Programm wurde zum erstenmal eine Konzeption in der Sozialpolitik für Behinderte entwickelt, die über die Entschädigung von Kriegs- und Arbeitsopfern und über Maßnahmen der medizinischen und beruflichen Rehabilitation für diesen Personenkreis hinausgeht, eine Konzeption also, die der umfassenden Aufgabe der Eingliederung aller Behinderten in die Gesellschaft, nämlich sowohl in Arbeit und Beruf als auch in das Leben der Gemeinschaft — und das scheint mir das Entscheidende dabei zu sein; ich werde darauf noch eingehen —, gerecht wird.
Eine planmäßige und zielgerichtete Sozialpolitik für alle Behinderten hat in der Bundesrepublik — ich darf das ohne Überheblichkeit feststellen — erst mit der sozialliberalen Koalition eingesetzt. Die Regierungserklärungen von 1969 und 1972 und das Aktionsprogramm von 1970 haben eine völlig neue Entwicklung auf diesem Gebiet eingeleitet. Das betrifft übrigens nicht nur die Gesetzgebung des Bundestages und der Bundesregierung; die Impulse, die von der sozialliberalen Koalition ausgegangen sind, haben auch die Länder und Gemeinden zu neuen Anstrengungen angeregt und — das halte ich für besonders wichtig und ist auch von Bundesarbeitsminister Arendt bereits betont worden — eine Veränderung des Bewußtseins in der Öffentlichkeit und eine wachsende Aufgeschlossenheit der Bürger für die Probleme der behinderten Mitmenschen bewirkt.
Diese Probleme der Behinderten sind äußerst vielfältig, äußerst kompliziert und auch nur sehr schwierig darstellbar. Die Sozialpolitik für Behinderte umfaßt ein weites Aufgabenfeld, das sich von der Gesundheitspolitik über die Bildungspolitik und die Wohnungsbaupolitik bis hin zum Sozialversicherungsrecht und zum Steuerrecht erstreckt. Wir haben das, was das Steuerrecht angeht, auch bei unserer Entscheidung über die Steuerreform erlebt. Beim Amtsantritt der Regierung der sozialliberalen Koalition im Jahre 1969 waren viele — ich sage: viele — dieser Aufgaben nur unbefriedigend gelöst, einige sogar überhaupt noch nicht in Angriff genommen worden.
Ausgehend von dieser Bestandsaufnahme hat die sozialliberale Koalition auf dem Gebiet der Sozialpolitik für Behinderte umfangreiche Reformen in Angriff genommen. Darauf ist bereits hingewiesen worden. Gestatten Sie mir aber, daß ich in wenigen Sätzen noch einmal auf die Grundsätze, von denen wir dabei ausgegangen sind, eingehe, weil ich meine, daß das sehr wichtig ist.
Erstens. Oberstes Ziel in der Rehabilitation muß es sein und war es für uns, dem Behinderten die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit zu ermöglichen. Die Hilfe darf sich also nicht allein auf die
Ein- oder Wiedereingliederung des Behinderten in den Arbeitsprozeß beschränken. Sie muß auch demjenigen Behinderten zuteil werden — das ist ebenfalls eine ganz neue Überlegung in diesem Zusammenhang gewesen —, der wegen Art oder Schwere seiner Behinderung nicht in der Lage ist, am allgemeinen Erwerbsleben teilzunehmen.
Zweitens. Der Behinderte muß einen klaren und gesicherten Rechtsanspruch auf individuelle Leistungen, auf individuelle Hilfen zur Rehabilitation haben. Er darf nicht allein von karitativer Hilfe und von Ermessensentscheidungen der Behörden abhängen. Damit ist — das sage ich mit allem Nachdruck — nichts gegen den Wert karitativer Hilfen gesagt. Aber das Angewiesensein auf karitative Hilfe allein schafft oftmals Abhängigkeit, auch wenn die Helfenden das nicht wollen. Ich glaube, daß diese Helfenden das inzwischen auch begriffen und auch damit den Behinderten sehr geholfen haben.
Drittens. Der bislang weithin dominierende Grundsatz der Kausalität muß dem Grundsatz der Finalität weichen, und er ist dem Grundsatz der Finalität durch unsere Gesetzgebung weithin gewichen. Der Anspruch des Behinderten auf Hilfe zur Rehabilitation darf nicht von der Ursache seiner Behinderung abhängen. Ausschlaggebend dürfen allein Art und Schwere der Behinderung sein.
Viertens. Alle Hilfen und Einrichtungen für Behinderte müssen ohne bürokratische Hemmnisse und lange Wartezeiten — daß auch das sich zu einem Teil bereits erfüllt hat, ist uns klargeworden — ineinandergreifen und aufeinander abgestimmt sein. Hierbei sollte — ich wiederhole es immer wieder — am gegliederten System der Rehabilitation nur insoweit festgehalten werden, als es sich in der Praxis für die Behinderten bewährt hat; denn dieses System ist für die Behinderten da, und nicht umgekehrt.
Die Bemühungen der sozialliberalen Koalition haben zu einer ganzen Reihe wichtiger Gesetze geführt, von denen man mit Recht sagen kann, daß sie in ihrem Zusammenwirken die soziale Landschaft der Bundesrepublik für die Behinderten von Grund auf verändert haben. Ich möchte mich nicht in Details verlieren. Ich möchte aber eine kurze Zusammenfassung geben, weil ich meine, daß uns diese Große Anfrage dazu nicht nur die Gelegenheit, sondern geradezu die Verpflichtung gibt.
Erstens. Seit dem 1. April 1971 sind alle Kindergartenkinder, Schüler und Studenten in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert. Das allein aber ist nicht ausschlaggebend. Damit hat eine große Gruppe, die vormals im Falle der Behinderung auf die Sozialhilfe verwiesen werden mußte, Zugang zu den Rehabilitationsleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung bekommen. Das bedeutet erstens eine Entlastung der Sozialhilfe und zweitens einen großen sozialen Fortschritt.
Zweitens. Seit dem 1. Juli 1971 haben alle Kinder bis zur Vollendung des vierten Lebensjahres einen Rechtsanspruch auf Untersuchungen zur Früherken-
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nung von Krankheiten, die eine normale körperliche, geistige oder seelische Entwicklung der Kinder in besonderem Maße gefährden. Damit ist ein wichtiger Anlauf unternommen worden, um Behinderungen durch bessere Vorbeugung und Frühbehandlung zu verhindern.
Drittens. Durch das Bundesgesetz zur Errichtung einer Stiftung Hilfswerk für behinderte Kinder — in der Öffentlichkeit fast schon vergessen —, das am 1. Oktober 1972 in Kraft getreten ist, erhalten zirka 3 000 contergangeschädigte Kinder mit Hilfe des Bundes — mit Hilfe des Bundes, meine Damen und Herren — Rentenzahlungen und unter bestimmten Voraussetzungen Abfindungen, und zwar auf Grund dieser schrecklichen Contergan-Katastrophe. Die Leistungen aus diesem Gesetz haben nicht nur deshalb Bedeutung, weil sie viele besonders schwere Einzelschicksale lindern helfen, sondern auch deshalb, weil sie als Modell für die Zukunft, als Modell für eine für alle betroffenen Behinderten geltenden Versorgungsgesetzgebung, z. B. im Zusammenhang mit der Reform der Arzneimittelgesetzgebung, angesehen werden können.
Viertens. Durch die Rentenreform von 1972 ist die gesetzliche Rentenversicherung für die gesamte Bevölkerung geöffnet worden. Was ist daran bemerkenswert? — Dadurch hat ein weiterer großer Personenkreis Zug ang zu den Rehabilitationsleistungen der gesetzlichen Rentenversicherung erhalten.
Fünftens. Am 1. April 1974 ist die Dritte Novelle zum Bundessozialhilfegesetz in Kraft getreten. Sie enthält eine ganze Reihe von Verbesserungen für Behinderte. Folgende Punkte möchte ich dabei besonders erwähnen: Erstmals haben alle körperlich, geistig und seelisch wesentlich Behinderten unter Beachtung — das war nicht wegzubringen — der Grundsätze der Subsidiarität und der Individualisierung einen Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfe. Der Gedanke der sozialen Rehabilitation — von dem ich vorhin bereits gesprochen habe —, der über die Eingliederung in das Erwerbsleben hinausgeht, wurde besonders in den Vordergrund gerückt, sowohl bei der Hilfe zur Pflege als auch bei der Gewährung der Leistungen, die dazu dienen, dem behinderten Menschen das Gefühl zurückzugeben, daß seine Menschenwürde gewährleistet ist. Die Hilfen zur Pflege sind, wie gesagt, wesentlich verbessert worden. Die Heranziehung der Unterhaltsverpflichteten zu den Kosten der Sozialhilfe wurde erheblich eingeschränkt. Ich muß es damit bewenden lassen, obwohl das noch ein Kapitel für sich wäre. Das ist vor allem für die Angehörigen, für die Enkel und für die Großeltern von entscheidender Bedeutung, die seit Inkrafttreten dieses Gesetzes von Rückerstattungen an die Sozialhilfe befreit sind. Das ist nicht unwichtig.
Sechstens. Das am 1. Mai dieses Jahres in Kraft getretene Schwerbehindertengesetz hat den Grundsatz der Finalität zur vollen Geltung gebracht. Die Hilfen zur Beschaffung und Erhaltung eines Arbeitsplatzes, die bislang weitgehend den Schwerkriegsbeschädigten und den Schwer-Arbeitsunfallverletzten vorbehalten waren, stehen nun allen Schwer-
behinderten, und zwar unabhängig von Art und Ursache der Behinderung, offen.
Der neuen Konzeption des Schwerbehindertengesetzes, die Eingliederung in den Arbeitsprozeß für alle Schwerbehinderten zu erleichtern, entspricht es, daß nunmehr alle privaten und öffentlichen Arbeitgeber einen Solidarbeitrag zu leisten haben. Das wird uns vielleicht etwas versöhnen mit der nicht ganz überzeugenden Statistik über die Beschäftigung von Schwerbehinderten, die uns von seiten der Bundesbehörden regelmäßig vorgelegt wird. Öffentliche und private Arbeitgeber werden also gleichermaßen und ohne Ausnahme einen Solidarbeitrag für die Eingliederung der Schwerbehinderten zu leisten haben, indem sie entweder Schwerbehinderte beschäftigen oder eine Ausgleichsabgabe entrichten.
In diesem Zusammenhang ein kurzes Wort zur Arbeitslosigkeit der Schwerbehinderten. Darauf wird mein Freund Norbert Gansel im einzelnen noch eingehen. Wir müssen natürlich, wenn wir von der Arbeitslosigkeit von Schwerbehinderten sprechen, auch von den gleichen Kriterien ausgehen, nämlich denen des Schwerbehindertengesetzes. Es ist doch nicht zu bestreiten, daß am 30. November 1974 im Bundesgebiet 15 959 arbeitslose anerkannte Schwerbehinderte und Gleichgestellte gezählt worden sind. Wenn Sie Ende Mai bereits 20 000 gezählt haben, dann doch nur deswegen, weil Sie alle Behinderten, auch die unter 50 v. H. erwerbsgeminderten Behinderten, in diese Statistik hineingenommen haben, die aber nicht mit der Statistik nach dem Schwerbehindertengesetz übereinstimmt. Da müssen wir im Interesse der Klarheit und Wahrheit eine Klärung herbeiführen.
Siebtens. Das Rehabilitations-Angleichungsgesetz, das am 1. Oktober 1974 in Kraft getreten ist, hat die bislang unkoordinierten Rehabilitationsleistungen der gesetzlichen Rentenversicherung, der gesetzlichen Unfallversicherung, der Kriegsopferversorgung und der Bundesanstalt für Arbeit vereinheitlicht und aufeinander abgestimmt. Die Einkommenshilfen während des Rehabilitationsverfahrens werden nach gleichen Grundsätzen gewährt und dem Wirtschaftswachstum angepaßt, d. h. dynamisiert wie die Renten.
Der vielleicht wichtigste Fortschritt in diesem Zusammenhang — ich kann hier nicht alle nennen; wir haben darüber gesprochen , den das Gesetz gebracht hat, besteht aber darin, daß nun auch die gesetzliche Krankenversicherung Rehabilitationsträger geworden ist. Auch damit wird die Sozialhilfe entlastet, nämlich für alle behinderten Kinder, die in der Familienhilfe versichert sind, und für die behinderten Hausfrauen. Auch Kostenbeiträge im Rahmen der Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln gibt es für Versicherte und Familienangehörige seit dem 1. Oktober nicht mehr.
Achtens. In der Ausschußberatung befindet sich gegenwärtig der Gesetzentwurf über die Sozialversicherung Behinderter. Alle Behinderten, die in Werkstätten für Behinderte arbeiten — hier geht es nicht allein um die Förderung der Werkstätten für
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Behinderte, sondern auch um die Förderung der Behinderten in den Werkstätten oder die, die wegen ihrer Behinderung in Anstalten, Heimen und sonstigen Einrichtungen beschäftigt werden; wir haben doch alle Informationen darüber, daß wir es hier und da, gelinde ausgedrückt, mit einer Ausnutzung dieser behinderten Arbeitskräfte zu tun haben —, alle diese Behinderten, auch die letzteren, sollten nach Auffassung der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion den Schutz der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung erhalten. Die Beitragsleistungen zur gesetzlichen Rentenversicherung sollen aus Mitteln des Bundes und der Länder subventioniert werden. Dies ist ein erster Schritt auf einem Weg, der eines Tages, so hoffen wir, dazu führen wird, daß alle Behinderten in die Sozialversicherung einbezogen sein werden, und zwar auch dann, wenn sie, sei es wegen der Schwere der Behinderung, sei es aus Mangel an entsprechenden Einrichtungen, nicht in einer Behindertenwerkstatt oder einer gleichartigen Einrichtung arbeiten können. Wir möchten es diesem Zufall allein nicht überlassen.
Neuntens. Als vorläufig letztes aus der Reihe unserer Reformgesetze zur Rehabilitation möchte ich das geplante Gesetz über die unentgeltliche Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr erwähnen, das die Bundesregierung vor kurzem den gesetzgebenden Körperschaften zugeleitet hat. Dieses Gesetz soll einen besonders wichtigen Teilbereich des Vergünstigungswesens für Behinderte nach den Grundsätzen der Finalität und der Behinderungsgerechtigkeit umgestalten. Künftig sollen alle Schwerbehinderten unabhängig von der Ursache ihrer Behinderung und ohne Einkommensgrenzen ein Recht auf kostenlose Benutzung öffentlicher Nahverkehrsmittel haben, und zwar einschließlich der Bundesbahn, wenn im Rahmen des Nahverkehrs ein Tarifverbund besteht. Ist eine Begleitperson erforderlich, so soll auch diese unentgeltlich befördert werden, sowohl im Nah- als auch im Fernverkehr. Voraussetzung für diese Vergünstigungen soll sein, daß die Erwerbsfähigkeit des Behinderten um wenigstens 50 v. H. gemindert ist und eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nachgewiesen wird. Beträgt die Minderung der Erwerbsfähigkeit 80 v. H. oder mehr, so soll ein Nachweis der Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit nicht verlangt werden.
Diese Reformgesetze sind eine stolze Leistungsbilanz. Angesichts der Ausgangslage in der Rehabilitation war es aber schon im Jahre 1969 für alle Beteiligten völlig klar — und ich nehme an, auch für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion —, daß auch bei größter Anstrengung eine umfassende Reform der Rehabilitation nur schrittweise — und wir haben hier große Schritte gemacht — und auf längere Sicht möglich sein würde. Deshalb ist es nicht verwunderlich, daß es auch weiterhin weiße Flecken auf der Landkarte der Sozialpolitik für Behinderte gibt. Das bestreiten wir überhaupt nicht. Wir sind bereit, diese weißen Flecken mit Ihrer Hilfe zu tilgen.
Ich möchte deshalb meine Ausführungen mit einem ganz kurzen Ausblick auf die noch unge-
lösten Probleme der Rehabilation abschließen. Dabei möchte ich folgende Punkte nennen:
Erstens. Die vorschulische und schulische Rehabilitation: Es kann gar kein Zweifel bestehen, daß in vielen Regionen der Bundesrepublik, insbesondere in ländlichen Gebieten, noch ein erheblicher Man- gel an Sonderkindergärten und Sonderschulen besteht. Es ist daher notwendig, daß der Sonderpädagogik im Bildungsgesamtplan ein noch größeres Gewicht beigemessen wird und daß die Koordinierung der Sonderpädagogik mit den anderen Zweigen der Rehabilitation verbessert wird.
Zweitens. Die Berücksichtigung der besonderen Belange der Behinderten im allgemeinen Schulsystem, in der allgemeinen beruflichen Bildung und in der Ausbildungsförderung: Es ist klar, daß die Schaffung von speziellen Einrichtungen der schulischen und beruflichen Rehabilitation und die individuelle Förderung von Behinderten, die solche Einrichtungen besuchen müssen, unbedingt notwendig ist. Aber wo immer es möglich ist, meine Damen und Herren, muß der Behinderte in die Lage versetzt werden, zusammen mit Nichtbehinderten allgemeinbildende Schulen, Einrichtungen der beruflichen Bildung und Hochschulen zu besuchen. Andernfalls würden wir auf den Irrweg der Ausgliederung der Behinderten geraten. Unser Ziel muß aber auch hier bleiben: die Eingliederung der Behinderten in die Gesellschaft. Deshalb muß die Förderung der Behinderten im allgemeinen Bildungssystem verstärkt werden. Das ist auch ein Appell an die Adresse der Länder und Gemeinden!
Drittens. Die Beseitigung baulicher und technischer Hindernisse für Behinderte, insbesondere bei öffentlichen Bauten und Verkehrseinrichtungen: Auf diesem Sektor ist bereits einiges geschehen; wir haben es ja heute gehört. Trotzdem — auch das soll nicht geleugnet werden —, wir stehen noch am Anfang. Allerdings wird es wohl kaum möglich sein — das müssen auch die Behinderten einsehen —, in jedem Falle bereits bestehende Bauten so abzuändern, daß alle Hindernisse für Behinderte beseitigt werden. Leider ist das nicht möglich. Aber bei Neubauten müßte es ohne allzu großen Aufwand möglich sein, den Belangen der Behinderten ausreichend Rechnung zu tragen, auch bei Neubauten im Bereich der Bundesbehörden und des Deutschen Bundestages,
damit das, was ich hier heute wieder erlebt habe, nicht mehr vorkommen kann: da wollte sich eine Gruppe von Rollstuhlfahrern diese Diskussion anhören und hatte ihre Schwierigkeiten, in diesen Saal zu kommen. Ich meine, darauf sollten wir — ich wiederhole es noch einmal — auch bei der Planung von Neubauten im parlamentarischen Bereich und im Bereich der Bundesregierung achten.
Es wäre sehr zu begrüßen, meine Damen und Herren, wenn wir hier bald zu einer zwischen Bund, Ländern und Gemeinden koordinierten Lösung, womöglich auf gesetzlicher Grundlage — wir bitten darum, diese Möglichkeit zu prüfen —, kämen.
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Bei dieser Gelegenheit ein besonderer Dank an Bundesarbeitsminister Walter Ahrendt. Das Haus der Behinderten, zu dem in der nächsten Woche hier in Bonn der Grundstein gelegt wird, wird — ich hoffe es nicht nur, ich bin davon überzeugt — ein Vorbild für alle größeren Städte der Bundesrepublik Deutschland sein, um auch den Behinderten, den Schwerstbehinderten die Möglichkeit der Teilnahme am Leben der Gemeinschaft über solche Einrichtungen zu geben. Hier müssen wir auch etwas Praktisches tun. Da genügen Gesetze allein nicht.
Viertens. Die Einkommenssicherung aller Behinderten, die auf Dauer nicht wieder ins Arbeitsleben eingegliedert werden oder niemals eine Erwerbstätigkeit ausüben können, hat bis heute noch keine befriedigende Regelung erfahren: angemessene Renten gibt es heute nur für die Arbeitsunfallverletzten, die Kriegsbeschädigten und die ihnen versorgungsrechtlich Gleichgestellten sowie für diejenigen, die eine Anwartschaft auf eine Erwerbsunfähigkeitsrente der gesetzlichen Rentenversicherung erwerben konnten. Das Gesetz über die Sozialversicherung für die Behinderten wird uns die Möglichkeit geben, über dieses Problem weiter nachzudenken.
Der Weg, den der Bundesrat gehen zu sollen glaubt — abgeleitete Ansprüche für Behinderte —, ist zum einen zu teuer. Statt 45 Millionen DM — diese Summe hat der Bundesrat ermittelt -- wären dann nämlich 225 Millionen DM, also mehr als das Fünffache, erforderlich. Ich vermag nicht ernsthaft zu glauben, daß der Bundesrat unter diesen Umständen diesen Gesetzentwurf aufrechterhalten will. Dieser Gesetzentwurf des Bundesrates ist derzeit nicht finanzierbar. Er trifft aber auch zum anderen auf grundsätzliche sozialpolitische Bedenken, weil für die Behinderten nur abgeleitete Ansprüche geschaffen werden sollen — und das zu einem Zeitpunkt, wo es zur allgemeinen Anschauung wird, daß es auf eigenständige Ansprüche ankommt.
Was für die Frauen gilt, meine Damen und Herren, sollte auch für die Behinderten gelten. Das müßte übrigens auch die CDU/CSU einsehen, Kollege Burger. Nachdem die CDU/CSU begonnen hat, Pläne zur eigenständigen Sicherung der Frau abzuschreiben, meine ich, daß die CDU/CSU auch in diesem Punkte von uns abschreiben sollte. Ich könnte es ihr nur empfehlen.
Dieser Ausblick auf die noch ungelösten Probleme der Rehabilitation zeigt, daß wir noch viele Aufgaben zu bewältigen haben. Auch wenn nicht alle Ziele in absehbarer Zeit erreichbar sind, so sollten wir sie doch im Auge behalten, um die konkreten Schritte, die jetzt möglich sind, in die richtige Richtung zu lenken.
Die sozialliberale Koalition hat gezeigt, wieviel möglich gemacht werden kann, wenn der politische Wille vorhanden ist. Ein Rückblick auf das Jahr 1974 bestätigt das. 1974 ist das Jahr der Gesetzgebung für die Behinderten geworden. Ich bin überzeugt, daß das Jahr 1975 und die folgenden Jahre von den Trägern der Rehabilitation dazu genutzt werden, diese Gesetze bei ihrer praktischen Arbeit in dem Geiste anzuwenden, in dem sie vom Gesetzgeber — und zwar von dem Gesetzgeber in seiner Gesamtheit — verabschiedet worden sind, d. h. möglichst unbürokratisch und damit im Geiste der Humanität.