Rede von
Walter
Arendt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Namen der Bundesregierung möchte ich die schriftliche Antwort auf die Große Anfrage der Opposition zur Rehabilitation noch mit einigen Ausführungen ergänzen. Ich handle damit auch im Einvernehmen mit meiner Kollegin Frau Focke, die leider erkrankt ist und daher an dieser Debatte nicht teilnehmen kann.
— Vielen Dank!
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung begrüßt, daß die Große Anfrage der Opposition die Gelegenheit bietet, den Gesamtkomplex der Rehabilitation in diesem Hohen Hause zu erörtern.
Die Rehabilitation bildet einen besonderen Schwerpunkt in der Politik der Bundesregierung. Die Bundesregierung betrachtet die Eingliederung und die Wiedereingliederung unserer behinderten Mitbürger in Beruf und Gesellschaft als eine Aufgabe von hohem Rang, und das nicht erst seit gestern. Dieser Auffassung haben wir schon 1970, wenige Monate nach der Übernahme der Regierungsverantwortung, mit unserem „Aktionsprogramm Rehabilitation" sichtbaren Ausdruck verliehen. In diesem Programm das in der Öffentlichkeit eine gute Aufnahme gefunden hat, haben wir die Ziele und Aufgaben einer fortschrittlichen Rehabilitation umrissen, und demgemäß und entsprechend diesem Programm haben wir in den hinter uns liegenden Jahren konsequent und konzentriert gehandelt. Darum darf ich heute mit Fug und Recht feststellen, daß wir in den letzten Jahren gerade in der Rehabilitation ein gutes Stück vorangekommen sind. Diese Erfolge sind vor allem auch der Arbeit dieses Hohen Hauses zu danken.
Das Jahr 1974 ist für die Rehabilitation und ihre Weiterentwicklung von herausragender Bedeutung. Wir haben in diesem Jahr für die Eingliederung der Behinderten eine Fülle neuer, zum Teil bahnbrechender Rechtsvorschriften geschaffen. In diesem Umfang hat es das vorher zu keiner Zeit gegeben. Erinnert sei nur an das neue Schwerbehindertengesetz, an das Rehabilitationsangleichungsgesetz, an die Dritte Novelle zum Bundessozialhilfegesetz und an die dem Parlament noch vorliegenden Gesetzentwürfe der Bundesregierung über die Sozialversicherung der Behinderten und die unentgeltliche Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr. Wir haben den Behinderten, die früher nicht selten im Schatten der Wohlstandsgesellschaft standen, neue und bessere Chancen eröffnet.
Hierfür nur einige Beispiele: Wir haben die Eingliederungshilfen des neuen Schwerbehindertengesetzes unabhängig von Art und Ursache der Behinderung allen Behinderten zur Verfügung gestellt. Wir haben für alle Schwerbehinderten das Recht auf besondere Hilfen zur Erlangung eines Arbeitsplatzes und zur beruflichen Förderung, einen umfassenden Kündigungsschutz und einen Zusatzurlaub von sechs Arbeitstagen eingeführt.
Und, Herr Burger, wenn ich das noch anmerken darf: Die Arbeitslosenquote der Behinderten ist in der letzten Zeit zurückgegangen. Sie befindet sich weit unter dem Bundesdurchschnitt der sonstigen Arbeitnehmer.
Wir haben im Bundessozialhilfegesetz die Leistungen der Eingliederungshilfen für Behinderte und die Hilfe zur Pflege verbessert, den Kreis der Anspruchsberechtigten erweitert und die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfen erleichtert. Und wir haben dafür gesorgt, daß heute von allen Rehabilitationsträgern einheitliche Sach- und Geldleistungen zur Rehabilitation erbracht werden, vor allem ein einheitliches Übergangsgeld in Höhe des bisherigen Nettoeinkommens des Behinderten.
Die teilweise grundlegenden Neuerungen in den gesetzlichen Grundlagen der Rehabilitation sind der Hintergrund, wie ich meine, einer sich abzeichnenden Neuorientierung der Rehabilitation als eines eigenständiges Zweiges moderner Sozialpolitik. Durch das am 1. Oktober dieses Jahres in Kraft getretene Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation wird nämlich erstmals der Versuch gemacht, die Leistungen zur Eingliederung der Behinderten über mehrere Sozialleistungsbereiche hinweg zu koordinieren und anzugleichen. Damit ist eine Entwicklung eingeleitet, die einmal dazu führen kann daß die Rehabilitation aus ihrer bisherigen Rolle eines unselbständigen Teilaspekts in den verschiedenen Sparten der sozialen Sicherung herausgelöst, zu einem eigenständigen Faktor fortschrittlicher Gesellschaftspolitik gemacht und in dieser Funktion auch in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gerückt werden kann.
Die Voraussetzungen für eine derartige Entwicklung erscheinen deshalb günstig, weil der Gesetzgeber selbst anläßlich der Verabschiedung des Rehabilitationsangleichungsgesetzes die Bundesregierung aufgefordert hat, auf dem Wege zur weiteren Angleichung der Rehabilitationsleistungen fortzufahren und mit einem nächsten Schritt die
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 136, Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1974 9371
Bundesminister Arendt
Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz in die Angleichung einzubeziehen. Die Bundesregierung wird entsprechend dem ihr durch das Rehabilitationsangleichungsgesetz erteilten Auftrag bis zum 31. Dezember 1975 über diese Probleme berichten und dem Hohen Haus Vorschläge zur Weiterführung der Harmonisierung unterbreiten.
Ich will diesen Rückblick auf unsere Bemühungen um bessere gesetzliche Grundlagen der Rehabilitation nicht abschließen ohne ein besonderes Wort des Dankes an dieses Hohe Haus. Sie haben unseren Gesetzgebungsvorschlägen in vollem Umfang zugestimmt. Die Diskussion sowohl zum neuen Schwerbehindertengesetz als auch zum Rehabilitationsangleichungsgesetz war geprägt vom gemeinsamen Bemühen, den behinderten Mitbürgern zu helfen. Beide Gesetze sind einstimmig verabschiedet worden. Mein Dank gilt daher auch Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition.
Die Initiativen der Bundesregierung zur Verbesserung der Situation der Behinderten waren nicht auf den Bereich der Gesetzgebung beschränkt. Der Katalog des Aktionsprogramms reichte von der Beseitigung baulicher Hindernisse über eine bessere Behindertenstatistik bis zu einer Veränderung in der Einstellung der Öffentlichkeit zu den Behinderten. Auch hier sind wir in den letzten Jahren ein gutes Stück vorangekommen. Ich verweise auf die Schaffung von DIN-Normen für den Bau behindertengerechter Wohnungen, und zwar sowohl für Rollstuhlfahrer als auch für Blinde. Ich verweise ferner auf die im Schwerbehindertengesetz geschaffenen Grundlagen einer umfassenden Behinderten- und Rehabilitationsstatistik. Schließlich verweise ich auf die Welle des Interesses an Fragen der Rehabilitation, die in den letzten Jahren unser Land erfaßt hat, auf die vielen Beiträge in Presse, Funk und Fernsehen, die mit dazu beitragen, das Verständnis für die Probleme der Behinderten zu wecken und zu fördern. Für dieses Engagement möchte ich auch vor diesem Hohen Haus den Damen und Herren der Presse, des Rundfunks und des Fernsehens herzlich danken.
Besonderen Dank aber möchte ich dem Ehepaar Heinemann aussprechen.
Gustav Heinemann hat das Ansehen seines hohen Amtes in den Dienst der behinderten Mitbürger gestellt und bei vielen Gelegenheiten vor allem auf die humanitäre Seite der Rehabilitation hingewiesen. Seine Worte — und ich darf ihn zitieren — „Unsere so sehr auf Leistung und Wettbewerb ausgerichtete Gesellschaft ist nur dann eine menschliche Ordnung, wenn sie behinderten Minderheiten volle Achtung, volle Gemeinschaft und ein Höchstmaß an Eingliederung gewährt" sind heute schon Allgemeingut der deutschen Rehabilitation geworden.
Frau Heinemann hat durch die Gründung der HildaHeinemann-Stiftung auf das besondere Anliegen der Wohnraumbeschaffung für Behinderte aufmerksam gemacht.
Auf einem Gebiet sind die Erfolge der verstärkten Bemühungen der Bundesregierung besonders deutlich geworden, nämlich bei der Schaffung eines bundesweiten bedarfsdenkenden Netzes von Rehabilitationseinrichtungen. Moderne, leistungsfähige Einrichtungen für die verschiedenen Bereiche der Rehabilitation sind ein sichtbarer Beweis einer beispiellosen Aufwärtsentwicklung. In allernächster Zeit werden wir für die behinderten Erwachsenen über insgesamt 21 moderne Berufsförderungswerke verfügen. Das ist eine Leistung, die auch über die Grenzen unseres Landes hinaus große Beachtung gefunden hat.
Der Ausbau der Berufsförderungswerke hat die Rehabilitation ganz entscheidend beeinflußt. Die Umschulungsmaßnahmen haben kontinuierlich zugenommen. Betrachtet man den Zeitraum der letzten fünf Jahre, so ist eine Steigerung von 11 400 bewilligten Umschulungsmaßnahmen im Jahre 1969 auf 23 000 im Jahre 1973 zu verzeichnen. Das ist eine Steigerung um mehr als 100 Prozent. Diese Steigerung ist erreicht worden, ohne daß die rehabilitationsfeindlichen Wartezeiten angestiegen wären. Das Gegenteil ist sogar der Fall. Heute kann jeder Behinderte in einem überschaubaren Zeitraum von etwa sechs bis acht Monaten mit dem Beginn seines Umschulungslehrgangs rechnen. Unser Ziel, jedem Behinderten, der auf eine besondere medizinische und soziale Betreuung während der Umschulung angewiesen ist, einen modernen Ausbildungsplatz in der Nähe seines Heimatortes anzubieten, ist nahezu erreicht.
Das ist nur möglich, weil für die Förderung der beruflichen Einrichtungen zur Rehabilitation im Bundeshaushalt zu keiner Zeit so viel finanzielle Mittel bereitgestellt worden sind wie seit 1969. Für das Jahr 1974 sind es 59 Millionen DM; dazu kommen die Aufwendungen der Länder, der Bundesanstalt für Arbeit und der übrigen Rehabilitationsträger. Insgesamt werden zur Zeit jährlich rund 300 Millionen für die Rehabilitation investiert. Das hat es vorher zu keiner Zeit gegeben.
Meine Damen und Herren, auf eine Kategorie der beruflichen Einrichtungen zur Rehabilitation möchte ich etwas näher eingehen, nämlich die Werkstätten für Behinderte. In der Großen Anfrage wird in Frage 16 die Befürchtung geäußert, daß künftig nur bestimmte, besonders leistungsfähige Werkstätten eine Förderung erfahren könnten. Ähnliche Äußerungen sind uns auch aus Kreisen der Behindertenorganisationen und der Werkstätten selbst bekanntgeworden.
Um es vorwegzunehmen: Diese Befürchtungen sind unbegründet. Mit den Ländern, den überörtlichen Trägern der Sozialhilfe und der Bundesanstalt für Arbeit sind inzwischen gemeinsame Grundsätze für ein vorläufiges Anerkennungsverfahren der Werkstätten entwickelt worden. Durch die vorläufige Anerkennung soll sichergestellt werden, daß die Werkstätten vom 1. Januar des nächsten Jahres an die im Schwerbehindertengesetz vorgesehenen Vergünstigungen in Anspruch nehmen können. Von diesem Zeitpunkt an nämlich sind die Arbeitgeber verpflichtet, Ausgleichsabgaben zu zahlen, wenn sie
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Bundesminister Arendt
nicht sämtliche Pflichtplätze mit Schwerbehinderten besetzt haben. Das Anerkennungsverfahren soll — besonders in der Aufbauphase der Werkstätten —großzügig gehandhabt werden.
Eine Reihe von Fragen — so vor allem die Gestaltung der individuellen Leistungen der Sozialhilfe und der Bundesanstalt für Arbeit, die Entlohnung der Behinderten und insbesondere die Defizitdeckung — sind noch offen. Sie müssen in der nächsten Zeit gelöst werden, wenn wir die Aufwärtsentwicklung der Werkstätten nicht gefährden wollen. Hierbei mitzuwirken, sind alle Beteiligten aufgerufen, vor allem aber die Werkstätten selbst.
Meine Damen und Herren, wir können alle stolz auf das sein, was in den letzten fünf Jahren auf diesem Feld erreicht worden ist. Aber sicher sind noch nicht sämtliche Probleme der Rehabilitation gelöst. Das war nicht möglich und — das füge ich hinzu — das wird auch in Zukunft nicht möglich sein, denn Wiedereingliederung der Behinderten in Beruf und Gesellschaft ist eine permanente Aufgabe der Gesellschaft.
Deshalb möchte ich noch einige Bemerkungen über die künftigen Aufgaben machen.
Vorrangig wird es in den nächsten Jahren darum gehen, die verbesserten gesetzlichen Grundlagen der Rahabilitation für die Behinderten in vollem Umfang zu erschließen. Wir werden mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln darum bemüht sein, daß die in den Gesetzen geregelten Leistungen auch nahtlos und zügig die Behinderten erreichen.
Unser Ziel muß es sein, im Rehabilitationsverfahren zu bestmöglichen Erfolgsquoten zu kommen. Fehlmaßnahmen dürfen nicht eintreten, denn hinter jedem Rehabilitationsverfahren steht ein hilfesuchender Mensch. Hinter jedem schief gelaufenen oder verzögerten Verfahren steht eine enttäuschte Hoffnung.
Ich sehe eine ganz wichtige Aufgabe künftig in der Aus- und Fortbildung der Fachkräfte der Rehabilitation, und zwar sowohl für die Rehabilitationseinrichtungen selbst als auch für die Rehabilitationsträger.
Bei allem Verständnis für den durch die neuen Aufgaben gestiegenen Arbeitsanfall kann die Lösung nicht in einer uferlosen Personalvermehrung gefunden werden. Die Grenzen der Belastung öffentlicher Haushalte durch Personalausgaben sind inzwischen mehr als deutlich geworden. Die Lösung kann daher nur lauten: vereinfachen, rationalisieren und mehr Effektivität.
Meine Damen und Herren, wir werden in der nächsten Woche hier in Bonn für das „Haus der Behinderten" den Grundstein legen. In etwas mehr als einjähriger Vorbereitungszeit ist es gelungen, die planerischen und finanziellen Voraussetzungen für die Verwirklichung dieses Modellprojekts der Rehabilitation zu schaffen. Bald wird ein Zentrum entstehen, das den Gedanken der Eingliederung der Behinderten in die Gesellschaft fördern und die Zusammenarbeit aller in der Rehabilitation Beteiligten
sichtbar zum Ausdruck bringen soll. Ein Angebot vielfältiger Hilfen soll den Behinderten zur Verfügung stehen. Gedacht ist dabei an beratende therapeutische, kulturelle und soziale Maßnahmen — angefangen mit einem Früherkennungs- und Beratungszentrum über einen Sonderkindergarten bis hin zur Freizeitgestaltung.
Besonderer Wert soll auf die sportliche und gesellige Betätigung gelegt werden. Zugleich soll aber auch eine Begegnungsstätte für Behinderte und Nichtbehinderte entstehen. Nicht zuletzt soll das „Haus der Behinderten" als Modell Anregungen zur Schaffung entsprechender Zentren in anderen Orten geben.
Meine Damen und Herren, ich habe es schon gesagt — ich wiederhole es —: Die Rehabilitation ist und bleibt eine ständige Aufgabe. Wir müssen dafür sorgen, daß die behinderten Menschen in unserer Gesellschaft mit ihren Sorgen und Problemen nicht alleingelassen werden. Die Bundesregierung nimmt diese Verpflichtung sehr ernst. Wir werden, wie bisher, auch in Zukunft um eine fortschrittliche Weiterentwicklung der Rehabilitation bemüht sein. Wir vertrauen darauf, daß wir dabei auch weiterhin auf die Unterstützung dieses Hohen Hauses rechnen dürfen.