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ID0710100600

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    Deutscher Bundestag 101. Sitzung Bonn, Montag, den 20. Mai 1974 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag des Abg. Dr. Götz 6625 A Bestellung des Abg. Dr. Häfele zum Vertreter des Abg. Windelen im Vermittlungsausschuß an Stelle des ausscheidenden Abg. Dr. Heck . . . . . . . . . 6625 A Überweisung von Vorlagen an Ausschüsse 6625 B Amtliche Mitteilungen 6625 C Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung Dr. Carstens (Fehmarn) (CDU/CSU) 6627 A Wehner (SPD) 6637 A Mischnick (FDP) 6647 A Schmidt, Bundeskanzler . . . . 6655 C Dr. Barzel (CDU/CSU) . . . . . 6658 C Friedrich (SPD) 6666 A Dr. Graf Lambsdorff (FDP) . . . 6669 D Dr. Althammer (CDU/CSU) (Bemerkung nach § 35 GO) . . 6679 C Nächste Sitzung 6679 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . 6681* A Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 101. Sitzung. Bonn, Montag, den 20. Mai 1974 6625 101. Sitzung Bonn, den 20. Mai 1974 Stenographischer Bericht Beginn: 15.00 Uhr
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    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Dr. Abelein 20. 5. Dr. Aigner * 22. 5. Dr. Artzinger * 22. 5. Batz 22. 5. Dr. Becher (Pullach) 22. 5. Blumenfeld 21. 5. Brandt 6. 6. Damm 20. 5. Erhard (Bad Schwalbach) 20. 5. Dr. Evers 20. 5. Ferrang 22. 5. Flämig * 21.5. Dr. Freiwald 22. 5. Gerlach (Emsland) * 21. 5. Gewandt 19. 6. Dr. Gölter *** 22. 5. Dr. Götz 20. 5. Dr. Gradl 10. 6. Groß 20. 5. Dr. Haenschke 31. 5. Handlos 22. 5. Jäger (Wangen) 1. 6. Dr. Jahn (Braunschweig) * 22. 5. Kahn-Ackermann *** 21. 5. Kiep 20. 5. Dr. Klepsch *** 22. 5. * Für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments *** Für die Teilnahme an Sitzungen der Versammlung der Westeuropäischen Union Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Lampersbach 25. 5. Lange * 21.5. Lautenschlager 20. 5. Lemmrich *** 22. 5. Lenders 20. 5. Lenzer *** 22. 5. Dr. Lohmar 22. 6. Lücker * 26. 5. Memmel * 22. 5. Dr. Mende *** 21.5. Müller (Mülheim) * 21. 5. Dr. Müller (München) *** 21. 5. Mursch (Soltau-Harburg) * 22. 5. Frau Dr. Orth * 21. 5. Pawelczyk *** 22. 5. Pohlmann 20. 5. Richter *** 22. 5. Dr. Riedl (München) 20. 5. Schlaga *** 22. 5. Schmidt (Kempten) *** 22. 5. Frau Schroeder (Detmold) 20. 5. Schröder (Wilhelminenhof) 20. 5. Dr. Schwencke *** 22. 5. Seefeld * 21. 5. Dr. Slotta 21. 5. Dr. Freiher Spies von Büllesheim 24. 5. Springorum * 21. 5. Dr. Starke (Franken) 23. 5. Vogel (Ennepetal) 22. 5. Dr. Vohrer *** 21. 5. Walkhoff * 22. 5. Frau Dr. Walz * 22. 5. Frau Dr. Wex 20. 5. Wurbs 20. 5. Zeyer 8. 6.
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    Rede von Herbert Wehner


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein geehrter Herr Vorredner, der Kollege Carstens, hat gegen Schluß seiner Rede erklärt, daß gegenüber der neuen Regierung Schmidt/ Genscher die CDU/CSU sich so verhalten werde, wie es ihrem eigenen Verständnis von der Rolle der Opposition im deutschen Parlament entspreche. Sie werde sich dabei ausschließlich von den Interessen unseres Landes leiten lassen, sie werde die Arbeit der Regierung kritisch beobachten, und sie werde — abgeschwächt: wie bisher — bereit sein, Maßnahmen der Regierung zu unterstützen, die im Interesse unseres Landes notwendig sind. Sie werde aber auch schonungslos — wie bisher — die Aufmerksamkeit der deutschen Bürger auf Schwächen und Fehler lenken.
    Das ist das gute Recht der Opposition, und die Debatte über die Regierungserklärung ist natürlich auch, allerdings nicht nur, die Stunde der Opposition.
    Herr Carstens hat erklärt, eine Wende in der Politik sei nicht erkennbar; im Gegenteil, die neue Regierung bleibe weitgehend in den Vorstellungen ihrer Vorgängerin befangen. Ich danke Ihnen, Herr Carstens, für dieses Kompliment für Kontinuität und Konzentration.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Reddemann: Der Kurs wird bestätigt!)

    Ich muß allerdings ein wenig Ihren Slalomlauf nachziehen,

    (Beifall bei den Regierungsparteien)

    den Sie gemacht haben durch die Fähnchen mit Behauptungen und durch Negativtafeln. Dieser Spur wird sicher in dieser Debatte unsere Aufmerksamkeit gelten, es sei denn, einer Ihrer nachfolgenden Redner werde diese Spur so gut wie verlöschen. Aber das werden wir ja sehen.

    (Heiterkeit bei den Regierungsparteien.)

    Sie haben von einem grundlegenden Widerspruch gesprochen, weil die Regierungserklärung vom Jahre 1973 übernommen wurde und in Geltung befindlich ist und angeblich Teile ausdrücklich aufgegeben würden. Ich nehme an, daß Sie das so gesagt haben, weil Sie natürlich einen Einstieg brauchten; denn wenn Sie dann sagten, der Widerspruch werde verschärft durch Aussagen über Stabilität, so kommen Sie ja genau an das Thema, das Sie während dieser ganzen Jahre sozusagen wund geritten haben. Zur wirtschaftlichen Lage ist von Ihnen nichts Neues gesagt worden. In der Regierungserklärung ist das, was Sie gesagt haben, widerlegt, und meine Kollegen werden sich dazu noch eingehender äußern.
    Sie haben einige Feststellungen getroffen zu den Forderungen der Opposition nach gleichzeitigen Steuersenkungen und Haushaltsmehrausgaben. Wissen Sie, wie ich Ihre Haltung sehe? Sie ist eine klassische Art von Opposition: durch Anträge und Programme Milliardenforderungen stellen, zugleich Haushaltsmittel ablehnen und drittens von inflatorischen Bundeshaushalten sprechen. Das ist doch
    ungefähr die Drei-Säulen-Theorie, auf der das fußt.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ich mache Ihnen das nicht zum Vorwurf; Ihre Haushaltsexperten werden sich sowohl in der Debatte über die Regierungserklärung — das wird schon mit Herrn Strauß anfangen — als auch in der Debatte über den Haushaltsplan 1974 sicher dieser Sache näher annehmen.
    Das ist so, wenn Sie anbieten: Sobald die Bundesregierung ein ernsthaftes, konkretes Programm zur Wiedergewinnung von Stabilität in der Haushalts-, Finanz- und Steuerpolitik vorlege, dann werde die CDU/CSU auch ihrerseits 'bereit sein, im Rahmen ihrer eigenen Zielvorstellungen mitzuwirken. Bitte sehr, beim Haushaltsplan 1974 — und dann in Bälde 1975 — wird Gelegenheit sein, darüber in der Sache — und auch hart; aber jedenfalls zur Sache — zu sprechen, meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen von der Opposition.
    Nun haben Sie, Herr Kollege Carstens, ein Kapitel mit dem wehmütigen Titel versehen: Abschied von der Reformpolitik. Ei, ei, wie Sie das doch beherrschen!

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Wissen Sie, da kommt gleich die Sache mit dem 312-Mark-Gesetz. Ich habe gemerkt, hinter meinem Rücken waren meine Kolleginnen und Kollegen schon ganz unruhig, was das wohl heißen sollte. Aber ich habe gemerkt, als Sie redeten: Der Pfiff beim 312- und 624-Mark-Gesetz ist Ihnen nicht bekannt.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Aber Sie haben sicher Kollegen in Ihrer Fraktion, die werden Sie darin eines Besseren belehren.
    Denn Sie sind damit hausieren gegangen

    (Zuruf von der CDU/CSU)

    — ich bitte um Entschuldigung, Sie sind ein vornehmer Vertreter dieser Art — und haben gesagt, wir hätten einfach die Summe verdoppelt. Glauben Sie, daß deswegen z. B. im letzten Jahr nach der Statistik sich zirka 17 Millionen Arbeitnehmer dieses 624-Mark-Gesetz zunutze gemacht hätten?

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Glauben Sie das? Das können Sie doch im Ernst nicht glauben. Nein, Herr Carstens, Ihnen ist hier ein Fehler passiert: Sie haben übersehen, daß bei dem 312-Mark-Gesetz ernsthafte Mängel bestanden, daß diese Mängel diejenigen, die von ihm Gebrauch machen wollten, in Nachteil brachten bei ihrer Sozialversicherung. Das ist es. Darüber werden Sie sich genau, auch bei Ihren Kollegen, orientieren können.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Das 624-Mark-Gesetz ist eben nicht nur einfach das Doppelte, sondern es ist zugleich frei von den Mängeln des 312-Mark-Gesetzes. Sehen Sie, wenn ich mich darüber so verbreitere, dann kann ich damit das, was Sie sachkundig über Reformen sagten, von



    Wehner
    denen man Abschied genommen habe, verlassen. Wir kommen auf diese Dinge noch zurück.
    Was Sie dort z. B. über Vermögensbildung sagen, dazu, ganz privat beinahe, folgendes. Auf dem Hannoverschen Parteitag meiner eigenen Partei, der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, habe ich nach heftigen Diskussionen über das, was dort dann mit großer Mehrheit als ein Konzept für die Anteilnahme der Arbeitnehmer am Zuwachs des Produktivvermögens angenommen worden ist, gesagt: „Kinder, glaubt nicht, daß in absehbarer Zeit eine einzige Partei außer der unseren sich dieses Konzept voll zu eigen machen kann. Das wird wohl eine ganze Weile dauern." Wir sind damit nicht aufgelaufen. Aber Sie werden es ja sehen. Sie hätten es auch noch im Gedächtnis haben können. Sie haben inzwischen auch die Regierungserklärung des Bundeskanzlers gehört. Da steht doch ganz genau, was und aus welchen Gründen es unter solch großen Mühen gemacht wird. Wenn Sie einige Ihrer Steuerfachleute aus der Fraktion fragen und wenn wir hier unsere entsprechenden Fachleute in der Debatte hören werden, dann werden Sie sehen: wenn da an die 50 Gesetze geändert werden müssen — ich greife diese Zahl nicht; sie ist von jemandem, der etwas davon versteht, genannt worden —, so heißt das eben eine etwas längere, aber deswegen doch keineswegs aufgegebene Arbeit. Da bleiben wir dran. Dafür ist uns das gesellschaftspolitisch viel zu wichtig.
    Nun haben Sie aber, nachdem Sie die Reform so
    behandelt haben, sehr breit und auf Niedersachsen
    gezielt die Sache mit der Berufsausbildung vorgebracht. Ich bin sehr froh, daß Sie hier ein wenig knirschen, weil jene Finte nicht gezogen hat, als ob wir sozusagen Berufsausbildung verstaatlichen wollten.

    (Abg. Stücklen: Das wollten Sie doch!)

    —Aber nein, Sie kennen die Sache doch noch aus der Zeit der Großen Koalition. Da haben Sie plötzlich, wie Ziethen aus dem Busch — entschuldigen Sie den Vergleich mit dem preußischen Husarengeneral —,

    (Heiterkeit bei der SPD)

    das Ultimatum mit den Kammern gestellt. Das wissen Sie doch noch. Wir haben damals nicht anders gekonnt, um überhaupt ein Berufsbildungsgesetz jener Möglichkeiten zu machen, als hier in einen sauren Apfel zu beißen. Wir werden uns einander hier schon näherkommen.
    Ich wende mich dem geistigen Kapitel des Herrn Kollegen Carstens zu. Ich hatte darüber vorher schon beim Generalsekretär gelesen. Wahrscheinlich war es auch die Meinung, daß es eine ernste Sache mit uns ist. Das zielt natürlich auf Niedersachsen, was Sie da über geistig-politische Auseinandersetzung mit der neomarxistischen Linken gesagt haben.

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU.)

    Da merkt man bei Ihnen das Heimweh nach den fünfziger Jahren.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zuruf von der CDU/CSU: Heimweh bei Ihnen!)

    Herr Kollege Carstens, was Sie sagen über öffentlichen Dienst, über DKP und über Extremisten: Lassen Sie doch erstmal das, was der Innenminister als Kabinettsbeschluß eingebracht hat, durchberaten werden. Hier reden Sie plötzlich in einen erst in der Entwicklung befindlichen Pfannkuchen hinein, so daß der gar nicht wirklich wachsen kann. Hier ist sogar von der Bundesratsseite nicht abgelehnt worden, daß man nach einer Lösung suche. Brauchen Sie das jetzt so dringend, daß man, ehe man mit der Sache weiterkommt, sie schon sozusagen einseitig glaubt verwerfen zu können? Aber, verehrter Herr Kollege und meine Damen und Herren von der Opposition, immer geht es in diesen Fragen, auch dort, wo es sich um ganz schwerwiegende Dinge handelt, darum, daß jeder Fall für jede Person rechtsstaatlich einwandfrei geklärt werden muß.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.) Das ist alles, meine Damen und Herren.

    Und nun, Herr Carstens, weil Sie so im Neomarxismus und im Marxismus herumpaddelten: Ich habe mir das Jahrbuch der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands für die Jahre 1950/51 geben lassen. In diesem Jahrbuch ist als Vorwort ein Text für den Parteitag 1952 enthalten, dem ersten Parteitag, den wir ohne Kurt Schumacher zu führen hatten; denn er war im August gestorben. Ich weiß ganz genau: Das gehörte mit zu dem, was ihm am Schluß — wenn man es einmal so sagen darf — das Herz hat brechen lassen. Schumacher schrieb in der einen seiner beiden letzten Niederschriften:
    Die schwerste Versündigung am deutschen Volk ist nicht von der alliierten Seite selbst, sondern von den Parteien der heutigen Regierung erfolgt, als sie die Formel aufstellten, Christentum oder Marxismus, nach der das eine das andere ausschließen soll. Das ist die Zerreißung auch des Volkes der Bundesrepublik in zwei Teile. Es ist unmöglich, daß der eine Teil bestimmt, wer Christ und was unter Marxismus zu verstehen ist. Vor 1949, als die Sozialdemokratie praktisch allein den Abwehrkampf gegen die politische Überflutung Deutschlands durch den Kommunismus führte, war die Handhabung des Begriffs Marxismus eine andere als heute. Heute versucht man, die Sozialdemokratie als Vorfrucht des Kommunismus zu verdächtigen.
    Es heißt weiter bei Schumacher:
    Die Grundlage des Antimarxismus ist völlige Unwissenheit und Unkenntnis der Materie. Die sogenannten Antimarxisten von heute übernehmen die Propagandaformeln, mit denen die Hitlerdiktatur zur Macht gekommen ist.

    (Beifall bei der SPD.)

    Sie haben ihnen geistig nichts Neues hinzugefügt. Sie appellieren dementsprechend auch an die alten Instinkte der 12 Jahre und erhoffen sich hieraus, eine Antipathie gegen die Sozialdemokratie neu zu erwecken.



    Wehner
    Dann schrieb Schumacher:
    Der Marxismus ist eine Methode der soziologischen und politischen Erkenntnis und kein Gebäude von dogmatischen Lehrsätzen.
    Das ist seine Auslegung.
    Jetzt herrscht die Methode, alles als kommunistisch hinstellen zu wollen, was die Sozialdemokratie an selbständiger und entschiedener Vertretung der Interessen des arbeitenden Volkes zeigt. Das ist dieselbe Methode, mit der Hitler und Goebbels jeden Versuch, sich gegen ihre Diktatur aufzubäumen, als Kommunismus abzutun versuchten. Damit haben sie dem Kommunismus
    — so sagte Schumacher —
    im Bewußtsein der Massen eine Bedeutung gegeben, die ihm seiner tatsächlichen Stärke nach gar nicht zukam. Damit haben sie erreicht, daß nach der Zertrümmerung der Hitlerdiktatur der Kommunismus als ein Faktor galt, den auch die Alliierten nicht übergangen haben.
    Meine Damen und Herren, Herr Carstens, wenn Sie sich diese bitteren, aber nicht nur bitteren Worte und Sätze Kurt Schumachers einmal ansehen, werden Sie doch manches von Ihrer Fanfare über das Fehlen einer geistigen Auseinandersetzung, einer geistig-politischen Auseinandersetzung mit der neomarxistischen Linken finden.

    (Abg. Reddemann: Was hat denn Kurt Schumacher mit der Regierungserklärung Helmut Schmidts zu tun?)

    — Was hat denn der Neomarxismus mit der Erklärung Helmut Schmidts zu tun, kluger Herr Reddemann?

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zuruf des Abg. Reddemann.)

    Nun zur Ostpolitik, wie Sie sie bezeichnen. Ich fand es schade, daß es zu nicht mehr gereicht hat, als die alte Legende von den sogenannten Bahr-Papieren hier noch einmal aufzublättern.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Herr Kollege Carstens, können Sie sich denn nicht erinnern — wenn Sie damals auch nicht Fraktionsvorsitzender waren; Sie waren damals aber doch schon einige Wochen im Bundestag —, daß wir hier in der Debatte über die Regierungserklärung vom Januar 1973 diese Dinge und die zum Teil unverschämten Unterstellungen gegen Egon Bahr ausgekämpft haben?

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Widerspruch bei der CDU/CSU.)

    Das können Sie doch in den Protokollen nachlesen. Natürlich kann man das nicht in „Quick" nachlesen; in „Quick" können Sie sich erquicken. In den Protokollen, die Sie genauso haben wie ich, können Sie das nachlesen.

    (Zurufe von der CDU/CSU.)

    Im übrigen, Herr Kollege Carstens, apropos Planungsstabarbeiten: Sie haben in Ihrem Buch dazu geschrieben — ich habe das ganze Buch sehr aufmerksam gelesen, nicht nur deswegen, sondern schon vorher —:
    Planungsstäbe müssen unabhängig sein, jedenfalls in dem Sinne, daß niemand ihnen das Ergebnis ihrer Untersuchungen vorschreiben darf. Das bedeutet, daß der Planungsstab unter Umständen Projekte vorlegt, die den jeweils vorherrschenden Intentionen der Regierung in keiner Weise entsprechen.
    Aber, wie gesagt, das sind Anklänge an das, was wir schon einmal und ein wiederholtes Mal ausgekämpft haben.
    Und im übrigen: Ich kann mich noch entsinnen, wie ich von dieser Stelle aus in den fünfziger Jahren über gewisse Planungsstab- und dann bald schon mehr gewordene Arbeiten im Hinblick auf die Wiedervereinigungsmöglichkeiten geredet habe. Das können Sie in den damaligen Protokollen nachlesen. Wissen Sie, damals gab es nicht nur Planungsstabarbeiten, sondern damals gab es sozusagen auch Vorbereitungen für den Fall, daß die Sowjetunion der Wiedervereinigung durch freie Wahlen zustimmen sollte, damit das nicht sofort dazu führen könne, daß sie bei dieser Gelegenheit usw. usw. Das sind Dinge aus den fünfziger Jahren. Ich merke, Sie haben überhaupt eine Sehnsucht nach den fünfziger Jahren. Soll das noch einmal nachgeschlagen werden? Dabei werden Sie keine sehr glückliche Figur machen, meine Damen und Herren. Ich meine nicht Herrn Carstens selbst; der kennt das von der anderen Seite.
    Ich war sehr froh, daß Sie, Herr Carstens, den Versuch gemacht haben, einiges sozusagen konkret Positive zu sagen, welches — wie Sie es ausdrückten — die Position der CDU/CSU in der Frage der Ostpolitik und der Deutschlandpolitik ist. Sie betonen: Wir bejahen Entspannung, wir sind für Gewaltverzicht, aber wir fordern ausgewogene Verträge, in denen Leistungen und Gegenleistungen in einem vernünftigen Verhältnis einander gegenüberstehen,

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

    wir fordern, daß Berlin in diese Politik voll mit einbezogen wird, daß nicht Entspannungspolitik auf Kosten der Interessen Berlins betrieben wird, und wir fordern -- was übrigens eine ziemliche Unterstellung ist; aber ich nehme an, Sie wollen uns das nicht unterstellen, sondern Sie sagen: das muß in jedem Falle so sein; da wären wir wieder sehr nahe beieinander —, daß die menschlichen Erleichterungen, die das Ziel dieser Politik sind, genügend abgesichert werden, usw. usw. Ich sage: Das sind Sätze, über die ernsthaft zu sprechen lohnen sollte, und es ist nicht zu schlecht, daß das auch in Ihrer Erklärung zur Regierungserklärung gefunden werden kann.
    Sehr mager, finde ich, war das, Herr Kollege Carstens, was Sie über Westeuropa und die Vereinigten Staaten von Amerika gesagt haben. Liegt das an dem, was in der Regierungserklärung des Kabinetts Schmidt/Genscher so präzis an Definitionen über die Kontinuität der Positionen der Politik



    Wehner
    der Bundesrepublik Deutschland seit Jahren steht? Mag sein. Sie haben selbst gesagt, in diesen Teilen der Regierungserklärung sei eine Reihe wichtiger Gedanken enthalten, denen Sie zustimmten. Sie haben allerdings wieder gesagt und das fand ich nirgendwo begründet, nirgendwo belegt, auch nirgendwo durch eine Alternative deutlicher gemacht —, daß Sie keinerlei Initiativen, keine Andeutungen von möglichen Initiativen zur Wiederingangsetzung des europäischen Einigungsprozesses darin gefunden hätten. Und Sie sagen, dieser Teil der Regierungserklärung atme weitgehend Resignation. Ich finde genau das Gegenteil: Dieser Teil ist ein mutiger Teil, ist ein tapferer Teil, ist ein Teil, der die Europäische Gemeinschaft nicht dem Verfall ausgesetzt lassen will,

    (Beifall bei den Regierungsparteien)

    ein Teil, der auch angesichts der Schwierigkeiten Geltung hat, mit denen es diese Gemeinschaft zu tun hat — nicht nur in wirtschaftlicher Beziehung — und die doch weiß Gott nicht unserer Regierung Brandt/Scheel angelastet werden dürfen, die 1969 bei jener Konferenz in Den Haag endlich der europäischen Vereinigungs- und Zusammenarbeitspolitik eine weitere Dimension gegeben hat — das wäre doch sonst gar nicht denkbar gewesen; bis dahin hing das doch an einer Stelle oder war auf dem toten Gleis — und die 1972 in Paris das Fahrzeug erneut nach vorne gelenkt hat. Nein, nein, hier bin ich ganz anderer Meinung.
    In einem Punkt bewundere ich Sie, Herr Carstens. Sie hatten unlängst einmal Gelegenheit genommen
    — entweder selbst oder so, daß man merkte: das ist von Ihnen autorisiert —, sagen zu lassen, die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich sollten bei jenen Wiener Konferenzgesprächen, wo es um die Truppenbegrenzung, Rüstungsverminderung und Rüstungsbegrenzung geht und wo sich Frankreich ja expressis verbis nicht beteiligt, zusammenarbeiten. Jetzt kommt von Ihnen wieder: Das könnte vor allem eine engere Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland werden. Ich hoffe sehr, daß es, nachdem in Frankreich wieder innenpolitische Voraussetzungen vorhanden sein werden, nachdem die Präsidentenwahl dort durchgegangen ist, — —

    (Abg. Stücklen: Gut gelaufen ist!)

    — Ja nun, sicher: Jede Wahl, wenn sie in Ordnung vor sich geht, ist gut gelaufen.

    (Zurufe von der CDU/CSU.)

    — Ich muß hier nicht Glück wünschen; das hat meine Regierung und hat der Regierungschef schon getan.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ich finde es gut, daß auch die Opposition dies tut. Es wird so einfach nicht sein. Das ist doch nicht einfach mit Namen zu machen; das wissen einige von denen, die in den europäischen Dingen stecken, ganz genau. Das kann man also nicht mit Namen allein markieren.
    Ich habe Hoffnungen, daß wir im Gespräch — ich beneide die nicht, die die Gespräche von unserer Seite aus zu führen haben — allmählich ein paar
    Zoll weiterkommen und daß einiges von dem gelockert wird, was dort, gleichgültig, unter welchem der beiden letzten Präsidenten, eben doch ziemlich steif geworden war, bei allem Respekt vor der bedeutenden Persönlichkeit jedes der beiden Vorgänger.
    Meine Damen und Herren, Sie haben mich für das Ende der Regierung Brandt — Sie haben sich ziemlich ausführlich gerüstet und sich hier geäußert — zum Prügelknaben gemacht. Schönen Dank! Das zielt auf das, was Ihnen jemand gesagt hat, dieser Regierung fehle ein Kopf.

    (Abg. Seiters: Der „Spiegel" !)

    — Ja, Sie sind Geschäftsführer; Sie müßten das doch besser wissen. Sie dürfen doch Ihrem Chef nicht etwas Falsches, längst Dementiertes wieder ins Ohr sagen. Der läuft damit auf. Er ist heute damit auch aufgelaufen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Lachen und Zurufe von der CDU/CSU.)

    — Ja, meine Herren. Herr Carstens, Sie haben zu Bremen ein besonderes Verhältnis. Am 17. März dieses Jahres habe ich auf dem Landesparteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Bremen diese Dinge an Hand meines Briefwechsels mit dem „Spiegel" — hin und zurück — und mit der „Zeit" — hin und zurück — klargelegt.

    (Widerspruch bei der CDU/CSU.)

    — Wenn Sie so außer Kurs sein sollten, daß Sie das, was ich am 17. März gesagt habe, weil es die Zeitungen, die ich hier nannte, selbst nicht für genehm hielten, das, was ich ihnen widerlegt hatte — —

    (Lachen und Zurufe von der CDU/CSU.)

    — Da lachen Sie. Sie brauchen ja auch etwas. Sehen Sie, in diesen Dingen leben Sie ja voneinander.

    (Abg. Haase [Kassel]: Märchenstunde! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)

    So muß ich hier — ich kann nicht anders —, weil Ihnen das Spaß zu machen scheint, meinen Brief vom 9. Oktober 1973 an Herr Schreiber vom „Spiegel", der die Reise mitgemacht hatte, verlesen:
    Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie nochmals wegen zurückliegender Ereignisse im „Spiegel"-Bild behellige. Es liegt mir fern, Sie belehren zu wollen. Ich rede Ihnen auch nicht hinein in das, was Sie von mir denken und schreiben. Doch die auf Seite 27 des „Spiegel" vom 8. Oktober 1973 mir in den Mund gelegte Stelle: „ .. und, was der Regierung fehlt, ist ein Kopf"

    (Abg. Dr. Jenniger: Welche?)

    ist in Verbindung mit dem, was vorher gedruckt steht, schlichtweg falsch.
    Und dann habe ich das erklärt.

    (Lachen bei der CDU/CSU. — Abg. Haase [Kassel] : Sie hatten doch recht, Herr Wehner! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)

    — Ja, da lachen Sie. Wissen Sie, der Brief kommt trotz Ihres Gelächters in das Protokoll, und andere

    Wehner
    werden ihn nachlesen und werden sich wundern, wieso Sie so gelacht haben.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Rawe: Herr Wehner, wir freuen uns ja nur darüber, daß Sie das damals schon richtig gesehen haben!)

    Vielleicht
    — so heißt es weiter —
    erinnern Sie sich, daß ich im Zusammenhang mit den Schwierigkeiten, die in den Erwartungen der Vertragspartner UdSSR, Volksrepublik Polen, Rumänien und des hoffenlich baldigen Vertragspartners CSSR liegen, insofern wir nämlich unmöglich alle Erwartungen erfüllen können und doch genötigt sind, auch in der Frage der Wirtschaftsbeziehungen etwas zu tun, was dem Aufeinander-Zugehen dient, gesagt habe: Es fehlt ein Kopf, der durch und durch wirtschaftlich denken und disponieren kann, außerdem aber die politischen Impulse begreift und schließlich nicht den Ehrgeiz haben darf, sich selbst zu „profilieren" oder in den Vordergrund zu schieben. Ein solcher Kopf, der unserer Regierung fehlt, müßte koordinieren können, ohne ein Amt dazu aufbauen zu wollen. Er müßte jeweils das Kettenglied herausfinden, das dem jeweiligen Partner hilft, auch wenn wir nicht „alles" erfüllen können, was sich eigentlich jeder von unseren Partnern wünschte.
    Das war es, was ich in meinem Schreiben gesagt habe:
    Weder der Bundeskanzler noch der Außenminister werden von mir als kopflos gesehen oder bewertet.

    (Lachen bei der CDU/CSU.)

    Übrigens habe ich Grund anzunehmen, daß dem Bundeskanzler dieser Gedanke, den ich ihm gegenüber schon in einigen Zusammenhängen ausgesprochen hatte (z. B. nach einem Koschnick-Bericht über Polen-Eindrücke), nicht fremd ist.

    (Zurufe von der CDU/CSU.)

    Ich gebe allerdings zu, daß der Stümmelsatz, den ich eingangs zitiert habe, besser ins damalige „Spiegel"-Bild paßt als meine „skurrile" Erklärung, die ich Ihnen hiermit in Erinnerung rufen möchte.
    Daraufhin hat der Herr Schreiber vom Spiegel geantwortet:
    Vielen Dank für Ihren Brief vom 9. Oktober, der mich kurz vor der Abreise nach Israel erreicht hat. Ich habe die insgesamt neun Schreibmaschinenseiten mit Zitaten und Reiseeindrükken, die ich den Autoren der von Ihnen erwähnten Titelgeschichte an Hand gegeben hatte, noch einmal durchgelesen. Das von Ihnen beanstandete Zitat steht nicht drin. Ich erinnere mich aber ganz gut an Ihre jetzt brieflich wiederholte Definition des koordinierenden Kopfes, der unserer Regierung fehlt,

    (Zurufe von der CDU/CSU) und erinnere mich auch, daß ich diesen Punkt in meinem ohnehin zu umfangreichen Informationsbericht für die Verfasser der Titelgeschichte gar nicht aufgenommen habe, nicht weil ich Ihre Erklärung „skurril" fand, sondern weil es zu viel Platz gekostet hätte, sie komplett und exakt wiederzugeben.

    So der „Spiegel".

    (Lachen bei der CDU/CSU.) Das soll nicht heißen,

    — schließt Herr Schreiber —
    daß ich mich vor der kollektiven Verantwortung für die von Ihnen monierte Titelgeschichte drücken will.

    (Zuruf des Abg. Reddemann.)

    Ich war daran beteiligt, und ich bin der einzig Beteiligte, der in der Sowjetunion mit dabei war. Auch habe ich den „Stümmelsatz" im Manuskript gelesen und meinerseits nicht moniert,

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    da er mir durchaus ins Bild, nicht bloß ins „Spiegel"-Bild zu passen schien. Wenn das eine Fehleinschätzung war, bitte ich um Entschuldigung.

    (Zuruf von der CDU/CSU.)

    — Mein sehr verehrter Herr Carstens, wenn Sie also nach etwas suchen,

    (Abg. Reddemann: Das hätten Sie im „Vorwärts" veröffentlichen sollen!)

    dann müssen Sie etwas anderes als dieses suchen. Dasselbe könnte ich jetzt weiter mit dem Brief erläutern, den mir der Chefredakteur der „Zeit" geschrieben hat, aber das lohnt nicht. Ich will Ihnen helfen — —

    (Zuruf des Abg. Dr. Carstens [Fehmarn] sowie weitere Zurufe von der CDU/CSU: Ahlers!)

    — Nein, das lohnt nicht.

    (Weitere Zurufe von der CDU/CSU. — Abg. Breidbach meldet sich zu einer Zwischenfrage.)



Rede von Dr. Hermann Schmitt
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten — —

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Herbert Wehner


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Das lohnt nicht! Die Briefe läßt man mich nicht vorlesen, aber Zwischenfragen von Leuten soll ich beantworten. Ich gedenke das nicht zu tun.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD. — Zuruf des Abg. Reddemann sowie weitere Zurufe von der CDU/CSU.)

    Herr Kollege Carstens, Sie haben mit besonderem Nachdruck aus der Zeit der Regierung Kiesinger, der ich als Mitglied des Kabinetts angehört habe, eine



    Wehner
    Erinnerung hervorgegraben und ein wenig, na, sagen wir einmal, massiert.

    (Abg. Dr. Kunz [Weiden] und Abg. Stücklen: Na, na!)

    — Ich kann mir gut denken, warum Ihnen das so gefallen hat. Damals ging es um gewisse Geheimdienstberichte mit Entstellungen von Gesprächen, die einige unserer Freunde in Italien geführt hatten.

    (Zuruf des Abg. Dr. Kunz [Weiden].)

    An Geheimdienstberichte erinnern Sie sich besonders, auch wenn sie entstellt waren. Daß es Ihnen dazu gerade gut genug ist, zu sagen, Sie hätten mich noch nie so in Erregung gesehen: Schönen Dank für dieses Kompliment! Ich war nur — die anderen Beteiligten werden eine etwas andere Erinnerung haben als Sie; es waren ja noch einige von Ihrer Seite dabei — gegen das Ausschlachten von Gesprächen in einer Weise, wie sie aus diesen Berichten hervorleuchtete oder hervorschimmerte.
    Nun zum Fall Guillaume. Die Tatsache

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    — das habe ich ja gesagt; Sie haben vielleicht Zugang zu den entsprechenden Papieren von Herrn Carstens —, daß damals einige Sozialdemokraten, darunter Leo Bauer, den ich hoch schätzte und schätze, gesprochen haben —(Zurufe von der CDU/CSU.)

    — Müssen Sie einen Toten noch, nachdem er tot ist und schwer gelitten hat, durch Ihr Gegröhl kränken oder beleidigen? Das ist nicht in Ordnung!

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP.)

    Nein, ich bin überzeugt, wenn wir darüber einmal in Ruhe reden könnten, einschließlich des Herrn Carstens,

    (Zuruf des Abg. Reddemann)

    würde sich in Ihrer Erinnerung einiges sozusagen zurechtbewegen.

    (Zuruf von der CDU/CSU.)

    — Ich bitte Sie um Entschuldigung, Sie urteilen nach gewissen Geheimdienstberichten, die Ihnen damals zugespielt wurden. Ich habe dem Bundeskanzler gesagt, was ihm zu sagen war.

    (Lachen und Zurufe bei der CDU/CSU. — Abg. Reddemann: Wie bei Brandt!)

    Und nun zum Fall Guillaume!

    (Fortgesetzte Zurufe von der CDU/CSU.)

    — Wollen Sie mir vielleicht sagen, ich hätte auch Herrn Kiesinger gestürzt? Das können Sie doch wohl nicht annehmen.

    (Beifall bei Abgeordneten der Regierungsparteien. — Lachen bei der CDU/CSU.)

    Der ist durch etwas ganz anderes vergangen.
    Zum Fall Guillaume, Herr Kollege Carstens, haben Sie so gesprochen, als ob Sie nicht wüßten, daß die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft im Gange sind und daß es untunlich ist, nun über — —

    (Lachen bei der CDU/CSU.)

    — Ich bitte Sie um Entschuldigung! Man kann ja die Bundesanwaltschaft fragen. Man kann ja im Vertrauensmännergremium danach fragen, was sie bereit und imstande ist, Ihnen, den Vertrauensmännern, zu sagen. Ich unterstelle mich dem absolut. Sie dürfen aber doch nicht so tun, als ob man über Dinge, die in der Ermittlung sind und wegen deren Leute vernommen werden, wegen deren die Spuren anderer noch verfolgt werden, hier in aller Öffentlichkeit sprechen könnte. Ich habe ja aus Ihrer Ecke schon gehört — jetzt ist das etwas leiser geworden —, Sie wollten vielleicht einen Untersuchungsausschuß darüber einsetzen. Na gut! Ich finde, Herr Kollege Carstens, daß Ihre Angaben über das, was Sie den Fall Guillaume nennen, nicht frei von einseitigen Wertungen sind, obwohl Sie es — jedenfalls in einigen der Punkte, die Sie hier schief dargestellt haben — genauer wissen könnten.

    (Abg. Stücklen: Zum Beispiel? — Abg. Dr. Carstens [Fehmarn] : Welche?)

    — Das werden wir im Vertrauensmännergremium erörtern.

    (Widerspruch bei der CDU/CSU. — Abg. Wohlrabe: Schutzbehauptung!)

    — Sie glauben, das ginge so auf offenem Markt. Wehe dem, der Ihnen folgte. Dann wäre so gut wie nichts von raffinierter Geheimdiensttätigkeit aufzudecken.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Widerspruch und Lachen bei der CDU/ CSU. — Abg. Wohlrabe: Raffinierte Schutzbehauptung!)

    Ich komme noch einmal auf eine Passage zurück, die in den Augen von Herrn Carstens sehr mager ausgefallen ist, die ich aber für ein ganz wesentliches Stück Darlegung von Kontinuität und Konzentration in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers Schmidt halte.

    (Abg. Haase [Kassel] : Im alten Geist geht es weiter!)

    Der Bundeskanzler hat für die politischen Leitlinien Kontinuität und für die Bestandteile der Politik der Koalition Konzentration angepeilt und definiert. Er hat gesagt:
    Binnen zweieinhalb Jahren wird sich das sozialliberale Bündnis der Entscheidung der Bürger stellen. Bis dahin ist vieles zu tun.
    Dies ist eine nüchterne Sprache, die Sie nicht schelten können.
    An anderer Stelle heißt es in der Regierungserklärung:
    Unsere Freunde und Nachbarn, unsere Bündnis- und Vertragspartner in der Welt sollen wissen, daß die Positionen unserer Außen- und Sicherheitspolitik unverändert bleiben. Wir werden die Politik der Friedenssicherung fortsetzen und die Sicherheit unseres Landes wah-



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    ren und festigen. Wir werden aktiv mitarbeiten ..., um das zum Frieden notwendige Gleichgewicht der Kräfte zu erhalten.
    Es folgen das Bekenntnis zur politischen Einigung Europas — in Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika — und die Feststellung, daß die Europäische Gemeinschaft die unersetzliche Grundlage dafür ist. Es wird gesagt, daß die Schaffung einer europäischen politischen Union dringender denn je ist. Zusammenfassend heißt es in der Regierungserklärung dann:
    Zusammen mit unseren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft werden wir bestrebt sein, dieses Ziel zu verwirklichen.
    Daß das Atlantische Bündnis die elementare Grundlage unserer Sicherheit und der notwendige politische Rahmen für unsere Bemühungen um Entspannung in der Welt ist, daß wir auch künftig an der politischen Stärkung der Allianz arbeiten und mit der Bundeswehr unseren im Bündnis vereinbarten Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit leisten werden — diese Aussage wurde mit dem Dank an unsere Soldaten verbunden, die diese Aufgabe erfüllen —, finden wir in folgender Passage zusammengefaßt:
    Das Gleichgewicht in der Welt und die Sicherheit Westeuropas bleiben auf absehbare Zeit . .. von der militärischen und von der politischen Präsenz der USA in Europa abhängig. Übereinstimmende sicherheitspolitische Interessen bestimmen das europäisch-amerikanische Verhältnis.
    Meine Damen und Herren, Sie können doch nicht sagen — wie es der Herr Führer der Opposition im Bundestag getan hat —, aus diesen Worten spreche so etwas wie Resignation. Wir haben in der Regierungserklärung unsere Entschlossenheit betont, zusammen mit unseren Verbündeten eine Politik der Rüstungskontrolle und Rüstungsverminderung zu unterstützen, um die Gefahr machtpolitischer und militärischer Pressionen einzuschränken. Es wurde gesagt, daß die Regierung nicht ohne Sorge die wachsenden Rüstungsanstrengungen im Warschauer Pakt betrachtet und deshalb auch den Erfolg der sowjetischamerikanischen Bemühungen um die Begrenzung nuklear-strategischer Waffensysteme wünscht, daß sie ihre eigenen Anstrengungen für eine ausgewogene, beiderseitige Verminderung von Truppen und Rüstungen in Europa — mit dem ernsten Willen zum Erfolg — fortsetzt, ebenso wie sie das wünscht, was mit der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in ganz Europa geplant und gedacht ist. Denn wir möchten — so betont es die Regierung —, daß diese Konferenz, der wir eine vertrauensbildende Bedeutung für ganz Europa zumessen, zu positiven Ergebnissen führt, und es ist unser Ziel, über bloße Entschließungen hinaus zu praktischen Ergebnissen zu gelangen, um der Entspannungspolitik in Europa mehr Substanz zu geben.
    Im Geiste dieser politischen Ziele ist es, daß die Bundesregierung unseren Willen zur Zusammenarbeit mit jenen Staaten in Europa betont, die selbst keiner der politischen oder militärischen Gruppierungen oder Allianzen angehören, doch deshalb nicht etwa weniger an Fortschritten der Entspannung und der Friedenssicherung interessiert sind.
    Ich finde, daß die Regierungserklärung realistisch feststellt, die internationale Entwicklung zeige uns, daß es richtig war, mit der Vertragspolitik gegen-
    über unseren östlichen Nachbarn die Chance nicht zu versäumen, unsere eigenen Interessen mit dem weltweiten Entspannungsprozeß zu verbinden.
    Die Verträge von Moskau und Warschau und der vor der Ratifikation stehende Vertrag von Prag sind Ergebnisse unserer internationalen Entspannungsbemühungen, und ohne diese Verträge — Herr Carstens, Sie haben hier eine kritische Bemerkung in bezug auf Berlin angebracht — wäre das Viermächteabkommen über Berlin nicht zustande gekommen. Es hat die Lebensfähigkeit dieser Stadt auf eine sicherere Basis gestellt und zur Befriedung in Mitteleuropa beigetragen. Daß die Bundesregierung ihrerseits alles tun wird, um die Lebensfähigkeit Berlins zu sichern, das Vertrauen der Berliner in die Zukunft zu stärken sowie die Bindungen ihrer Stadt an die Bundesrepublik Deutschland aufrechtzuerhalten und zu entwickeln, sollte doch wohl von allen Seiten des Deutschen Bundestages nachhaltig unterstützt werden können.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Mit der Vertragspolitik, die von mir an Hand dieser Regierungserklärung wiedergegeben oder angedeutet worden ist, hat unsere sozialliberale Koalition insbesondere durch den Abschluß des Vertrages über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR der Politik den praktischen Weg eröffnet, in Deutschland zu einem geregelten Miteinander zu kommen; und trotz aller Schwierigkeiten und Rückschläge werden wir in dem Bemühen nicht nachlassen, die gegenseitigen Beziehungen zu verbessern. Sie sind nach unserer Auffassung, so haben wir gesagt, Beziehungen von besonderer Art.
    An dieser Stelle erinnere ich und lenke Ihre Aufmerksamkeit, meine Damen und Herren, auf die am 26. Januar 1973 vom damaligen Bundeskanzler Willy Brandt gegen Schluß der Debatte über die Regierungserklärung der Bundesregierung Brandt/Scheel vorgenommene Zusammenfassung der Schwerpunkte dieser Debatte. Er behandelte zunächst die Außen- und Deutschlandpolitik und kam zu folgenden Feststellungen.
    Erstens: die entschlossene Verwirklichung der europäischen Union, damit wir das in Paris gesetzte Ziel in der verabredeten Frist — wie er es ausdrückte: womöglich früher — erreichen können. Ich habe nicht erkennen können, sagte er damals, daß die Opposition dies wesentlich anders sieht.
    Zweitens: die Fundamentierung der europäischamerikanischen Allianz durch Prüfung und Ausgleich der gemeinsamen Interessen und Bewahrung der Sicherheit. Ich habe, sagte Brandt damals, nicht sehen können, daß die Opposition dies wesentlich anders sieht.



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    Drittens: Abbau der Spannungen von ihren Ursachen her. Das ist die Aufgabe, die wir uns durch die Teilnahme ran den beiden Konferenzen setzen, die jetzt — damals — mühsam vorbereitet werden. Darüber werden wir miteinander — so, wie die Dinge voranschreiten — sehr ernsthaft reden müssen.
    Viertens: geduldige Arbeit für eine gute Nachbarschaft mit Osteuropa als Erfüllung und Ergänzung der Verträge, die wir beschlossen haben. „Das sieht mancher bei ihnen" — so sagte er, an die Opposition gewandt — „weiterhin anders; aber der Herr Kollege Strauß hat ja vorgestern — damals im Januar — ausdrücklich gesagt, man müsse vom Boden der demokratisch so geschaffenen Tatsachen aus Politik machen."
    Fünftens: Ratifizierung und Ausfüllung des Grundvertrages. Brandt fügte damals hinzu — damit hätte er auch 'anfangen können —: von zwei deutschen Staaten unter der konsequenten 'Forderung von uns, egal wie lang es braucht, bis sie erfüllt ist, daß auch an der Grenze zur DDR täglicher Friede einkehren kann und ein Höchstmaß an Freizügigkeit hinüber und herüber erreicht wird.
    Der Bundeskanzler Helmut Schmidt hat in seiner Regierungserklärung die gleichen außen-, sicherheits-, europa- und deutschlandpolitischen Positionen markiert, die 1973 in der Regierungserklärung bestimmend waren. Ich halte das nicht für einen Nachteil, sondern ich halte das für das, was wir unter Kontinuität verstanden wissen wollen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Es kann also nicht kritisiert werden, wie es hier geschehen ist. Die Regierungserklärung Helmut Schmidts konzentriert sich auf die Notwendigkeiten, die sich aus der internationalen und europäischen Entwicklung ergeben und denen wir uns stellenmüssen, wenn die Ziele nicht verfehlt werden sollen.
    In den Punkten der Regierungserklärung — ich glaube, sie haben die Ziffern 31 bis 35 — ist die Regierungserklärung mitten 'hineingegangen in unsere ökonomische, politische, soziale Wirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland, immer im Geflecht der europäischen Gemeinschaft. Denn genauso, meine Damen und Herren, das wissen Sie doch genau, wie es töricht wäre, als Bundesrepublik allein von militärischer Sicherheit zu sprechen — Sicherheit besteht nur im Verbund mit anderen —, ist es eben auch in bezug auf die inflationären Strömungen und Tendenzen in der Welt, denen wir uns nicht willenlos hingeben. Aber wer sich die Mühe macht, in der von mir erwähnten und zitierten Rede Brandts vom 26. Januar 1973 nachzulesen, der wird — damals bei den Schwerpunkten im Innern an die Spitze gestellt, eins, zwei und drei — diese Bemühungen sehen.
    Heute zwingt uns die Entwicklung zur Konzentration. Ich nenne nur Stichworte. Meine Kollegen werden darüber ausführlich 'mit ihnen reden und, wenn notwendig, ringen. Ich nenne: Auf Grund der Ölpreisentwicklung und sonstiger Rohstoffpreisentwicklungen inflationäre Erscheinungen in der Welt, in die wir verflochten sind und in der wir leben.
    Wenn die Opposition — es ist auch heute wieder angekündigt, und besonders deutlich hat das der schleswigholsteinische Ministerpräsident Stoltenberg gestern in einem Blatt getan — erklärt, daß sie die Steuerreform 'zum Gegenstand ihrer Bemühungen machen werde, das Regierungsprogramm Helmut Schmidts und seines Kabinetts aus den Angeln zu heben, so zielt sie damit — ich sehe das so — auf das Feld, dessen Verwüstung innen- wie europapolitisch unsere Rolle als ein Partner in West und Ost, in Nord und Süd lähmen könnte. Denn dies ist innenpolitisch lebenswichtig für unsere Partnerrolle in West, Ost, Nord und Süd.
    Denn ich persönlich — ich kann mich hier nicht darüber ausbreiten, will es nur erwähnen, weil dies als zentraler Punkt des Angriffs auf die Regierungserklärung bezeichnet worden ist — will zu der Steuerreform sagen: sie ist ein wesentlicher Faktor als ein gesellschaftspolitischer Stabilisator mit Konsequenzen für die haushalts- und für die finanzpolitische Leistungsfähigkeit unseres demokratischen und sozialen Bundesstaates in der Europäischen Gemeinschaft. Denn — ich wiederhole — nationale Maßnahmen allein würden sowenig wie bei Verteidigung und Sicherheit ausreichen. Aber unser Beitrag, das, womit wir uns bei uns selbst Mühe geben, wie aber auch die Beiträge der anderen, das ist es, wo wir uns jetzt der Konzentration widmen.
    Ich will noch einige Bemerkungen zum vertraglich geregelten Verhältnis zur DDR sagen — als einem besonders schwierigen und zugleich besonders wichtigen Feld unserer Bundesrepublik. Die Regierungserklärung hat mit Recht betont, daß wir im Geiste der Entspannungspolitik und im Interesse aller Deutschen mit der DDR Verträge geschlossen haben, die nicht nur aus Buchstaben bestehen. Beide Vertragspartner müssen sich auch an den Geist abgeschlossener Verträge halten, heißt es in der Regierungserklärung. Es ist eine gewichtige Feststellung, daß mit diesem Geist der schwerwiegende Spionagefall nicht vereinbar ist, der die Menschen in Ost und West in diesen Tagen tief beunruhigt. Mit Recht heißt es deshalb in der Regierungserklärung:
    Wir kennzeichnen diesen Fall in aller Offenheit als eine ernste Belastung des Verhältnisses zwischen den Vertragspartnern, ... zumal wir selbst entschlossen sind, von unserer Seite aus den Vertrag nach Buchstaben und nach seinem Geiste voll zu erfüllen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Meine Damen und Herren, im Gefüge der Verträge, die wir mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken als einer der Vier Mächte, die besondere Verantwortung für Deutschland als Ganzes, wie es 1945 hieß, in Berlin besonders tragen, geschlossen haben — die Sowjetunion verfügt zugleich über besonderes Gewicht im Rahmen der im Warschauer Pakt zusammengeschlossenen Staaten, mit denen wir ja ebenfalls Verträge geschlossen haben —, spielt der Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland



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    zur DDR eine Rolle, die sowohl für das Verhältnis unseres Staates zur Gruppe der Staaten des Warschauer Pakts als auch bilateral von hochrangiger Bedeutung für unsere Politik der Friedenssicherung ist.
    Diese Verträge über unsere Beziehungen zu jedem dieser Staaten sind für sich genommen präzise einzuhalten und entwicklungsfähig. Jeder muß zugleich als Bestandteil eines Systems von Verträgen gesehen und gepflegt werden. Das gilt auch für die Wirtschaftsbeziehungen; es gilt für multilaterale Vorhaben wie die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in ganz Europa und für die Konferenz zur schrittweisen Rüstungs- und Truppenbegrenzung. Nicht zu vergessen ist auch folgendes: Auf uns zuzukommen — oder wir werden uns bemühen müssen — scheint in absehbarer Zeit eine Abrüstungskonferenz.
    In dem Bericht, den ich am 1. Juni des vergangenen Jahres dem Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands über Gespräche gegeben habe, die ich am 30. und 31. Mai mit dem ersten Sekretär der SED, Erich Honecker, und Vertretern der Fraktion in der Volkskammer der DDR geführt hatte — der Bericht ist damals im Wortlaut veröffentlicht worden —, heißt es in Honeckers damaliger Eigendiktion:
    Er unterstrich die Erwartung, daß der Grundlagenvertrag baldigst in Kraft gesetzt werden kann. Seine strikte Einhaltung und volle Anwendung wird es ermöglichen, günstige Bedingungen für die Zusammenarbeit zwischen der DDR und der Bundesrepublik zu schaffen, was dem Wohl der Menschen in beiden deutschen Staaten dient. Im Zuge der Normalisierung der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD werden praktische und humanitäre Fragen gelöst, wie es im Grundlagenvertrag vorgesehen ist. Eine besondere Rolle werden die Abkommen spielen, die entsprechend diesem Vertrag auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Technik, des Verkehrs, des Rechtsverkehrs, des Post- und Fernmeldewesens und über andere beiderseits interessierenden Fragen abzuschließen sind. Das wird eine neue, für die Beteiligten vorteilhafte Seite in der Herstellung gutnachbarlicher Beziehungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik aufschlagen.
    Daran wollte ich erinnert haben.
    Ich habe seinerzeit — das geht aus demselben Bericht hervor — unsere Auffassung von der Schlüsselrolle des Viermächteabkommens über Berlin dargelegt und seine Ausführung als entscheidend für das Verhältnis von Bundesrepublik Deutschland und Deutscher Demokratischer Republik zueinander sowie für die weitere Entwicklung in dem durch dieses Abkommen und durch die Vertragsgrundlagen der Bundesrepublik Deutschland bestimmenden Gefüge der obersten Verantwortung der Vier Mächte bei den Bemühungen um Frieden und gutnachbarliche Beziehungen in Europa und für den Frieden in der Welt begründet.
    Meine Damen und Herren, ich erinnere auch an folgendes. Bei aller Kritik an den bisherigen Ergebnissen aus den Vertragsregelungen zwischen diesen beiden Staaten im getrennten Deutschland darf daran doch nicht vorbeigesehen werden: Die Zahlen sprechen eine positivere Sprache, Besucherzahlen hinüber und herüber, Zahlen über Ausreisegenehmigungen, Familienzusammenführungen und Transitverkehr. Vor allem gibt es Verträge als Grundlage für die Austragung von Streitfragen, die sich aus den verschiedenen Interessen beider Seiten ergeben. Wie wir gesehen haben, ist bezüglich des Sportverkehrs ein Schritt voran gegangen worden.
    Ich halte für aktuell, Bemühungen um eine Korrektur z. B. der Mindestumtauschbeträge für Besucher, Entwicklung und Sicherung der Wirtschaftsbeziehungen und des Energieverbunds — auch zum Nutzen Berlins — und Folgevereinbarungen aus dem Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen sorgfältig und gediegen zustande zu bringen.
    Ich komme noch einmal zurück auf die interessanten sachlichen Bemerkungen, die der Herr Kollege Carstens in bezug auf das, was die CDU/ CSU zur Ost- und zur Vertragspolitik in dieser Richtung zu sagen hatte, gemacht hat. Ich erinnere an eine Erklärung, die das Kuratorium „Unteilbares Deutschland" im vorigen Jahr zum 20. schmerzlichen Jahrestag des 17. Juni herausgegeben hatte. In ihr hieß es:
    Die Teilung Deutschlands ist gegen den Willen der Deutschen, aber nicht ohne deutsche Schuld zustande gekommen. Das System der Mächte, das sich als Antwort auf den unmenschlichen Nationalsozialismus schließlich ergeben hat, wird die Grundstruktur des europäischen Kontinents für eine überschaubare Zukunft bleiben. Gegenwärtig leben wir Deutsche in zwei völlig gegensätzlichen gesellschaftlichen und politischen Ordnungen. Gerade deshalb müssen wir auf die Sicherung des Friedens und den Abbau der Spannungen hinarbeiten.
    Es ist Aufgabe der vor uns liegenden Zeit, das Bewußtsein der Einheit der Nation zu erhalten. Gemeinsame Geschichte, Sprache und Kultur sind unauslöschliche Bestandteile dieser Einheit der Nation. Die durch jahrelange Trennung verschütteten menschlichen Beziehungen gilt es Schritt für Schritt neu zu beleben.
    Mit sachlichem Ernst ist damals erklärt worden:
    Bis in diese Tage ist um die Politik der Verträge und um die Verträge selbst leidenschaftlich gerungen worden. Nachdem die Verträge gütig geworden sind, gelten sie für die Befürworter wie für die Kritiker.
    Alle Parteien sind sich darüber einig. - So hieß es damals.
    Auf dieser Basis muß nunmehr versucht werden, das Beste für alle Deutschen aus der neuen Situation zu machen. Niemand sollte sich Illusionen hingeben, jedoch darf sich auch niemand von der Schwere der Aufgabe zu Resignation verleiten lassen. Eine Sprache und



    Wehner
    Politik der bloßen Gegensätze würde nicht weiterführen. Es ist Aufgabe der kommenden Monate und Jahre, Annäherung für die Menschen in beiden Richtungen Stück für Stück in die Wege zu bringen.
    Ich habe mich im vorigen Jahr veranlaßt gesehen, in der 44. Sitzung des Deutschen Bundestages diese Erklärung, an der Kollegen aller drei Bundestagsfraktionen, aller im Bundestag vertretenen Parteien mitgewirkt haben, Wort für Wort vorzulesen, weil es damals leider eine sehr konträre Rede des Herrn Kollegen Carstens außerhalb des Bundestages dazu gegeben hatte. Sie finden diesen ganzen Text in dem Protokoll der 44. Sitzung der 7. Wahlperiode, Seite 2469 und Seite 2470.
    Zum Schluß einiges zum Verhältnis der Opposition zur Koalition! Da komme ich zu dem zurück, wo ich mich zu dem geäußert habe, was Herr Kollege Carstens am Schluß seiner Rede gesagt hatte. In der Debatte über die Regierungserklärung vom 18. Januar 1973 hatte ich Erklärungen des damaligen Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Herrn Dr. Barzel, zitiert:
    Das Wahlergebnis gibt diesem 7. Deutschen Bundestag einen ganz anderen Charakter und verlangt von der Opposition eine andere Strategie und Taktik als im 6. Deutschen Bundestag. Wir sind nicht mehr verhinderte Regierungspartei, sondern wir sind klar Opposition, und die anderen sollen regieren. Das heißt, daß man der Regierung die Zeit lassen muß, jetzt mit ihren Vorlagen zu kommen. Das heißt, daß wir nicht jeden Tag, wie wir dies im letzten Bundestag gemacht haben, mit Initiativen und Alternativen hervortreten müssen. Unsere Opposition darf nicht tagespolitisch sein, sie muß gerichtet sein auf morgen, auf die bessere Alternative für 1976.
    Damals standen Ihnen, meine Damen und Herren. noch Klausurtagungen der CDU/CSU und der CDU als Partei bevor. Wenige Monate später hatten Sie einen Führungswechsel in der Fraktion der CDU/ CSU und auch einen in der Partei der CDU vorgenommen. Im Juni hatten Sie umgruppiert, und zugleich zeigte sich, daß der Vorsatz vom 16. Dezember 1973, den ich hier zitiert hatte, ausgelöscht schien.
    Wenn nun heute gefragt und spekuliert und prophezeit wird, wie es um die Führung auf der Seite der Koalitionsparteien — Sozialdemokraten, Freie Demokraten —, ihrer Parlamentsfraktionen und der Bundesregierung stehe, respektive wie sich das entwickeln werde oder müsse, so sage ich Ihnen ganz trocken: Lösen Sie bitte Ihre Führungsprobleme!

    (Beifall bei den Regierungsparteien.) Die unseren sind von anderer Natur.


    (Ironischer Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU.)

    Dazu wissen wir, daß wir den Bundeskanzler Helmut Schmidt und sein Kabinett mit konzentrierten Kräften

    (Abg. Haase [Kassel] : Das letzte Aufgebot!) der Parlamentsfraktion, der Koalition und der großen Kraft der Mitgliederpartei SPD zu unterstützen haben. Das gilt, meine Damen und Herren, in Personen ausgedrückt für den Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands wie für den Vorsitzenden der Fraktion der SPD im Deutschen Bundestag.


    (Beifall bei der SPD.)

    Schließlich lassen Sie mich am Schluß sagen: Bei allem bitteren Streit und bei einem hohen Maß von Vergiftung dieses Streites durch Kampagnen der Verteufelung und der Feindschaft — —

    (Zurufe von der CDU/CSU.)

    — Ich habe Ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Das merke ich seit zweimal 24 Stunden an dem Gerede, daß Sie neuerdings jetzt Ihre Nummer 1 bald bestimmen müssen, während Sie vorher sagten, es habe noch Zeit bis tief in das Jahr 1975 hinein.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Dr. Marx: Sie haben doch keinen Strich durch die Rechnung gemacht! Das machen doch wir, wie wir wollen!)

    — Nein, Kampagnen sind von Ihnen geführt worden. Setzen Sie sich bitte mit denen auseinander, die Sie in solche Kampagnen hineinlocken, hineintreiben und sie fortgesetzt steigern. Das werden Sie auch noch eines Tages tun.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Reddemann: Wer hat denn die Kampagne eröffnet?! Das waren doch Sie, Herr Wehner! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)

    Bei all dem haben Sie und wir nicht weniger, in dem wir übereinzustimmen haben, als daß wir Gegensätzliches haben. Die Grundübereinstimmung ist die freiheitlich-demokratische Grundordnung als Boden und als Rahmen für die Austragung unserer Streitigkeiten im Ringen um die spezifischen Gewichte des Sozialen, des Freiheitlichen in unserer demokratischen Ordnung. Damit wir dieses Ringen führen können, brauchen wir Sie, und was Sie immer von uns halten und wir von Ihnen kennengelernt haben, — um dies kommen Sie nicht herum. Wir wissen, was wir dem Ganzen schuldig sind. Sie müssen sich auch bald daran erinnern.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Das, worin Sie, meine Damen und Herren, und wir übereinstimmen, wiegt nach meiner Ansicht nicht weniger schwer als das, worüber wir streiten, um es sehr nüchtern zu sagen. Da komme ich — entschuldigen Sie — noch einmal zurück auf die Regierungserklärung der ersten Regierung Brandt/Scheel von 1969, in der es damals nach bitteren Auseinandersetzungen diesen schlichten Satz gab: „Im sachlichen Gegeneinander und im nationalen Miteinander." Vielleicht bedurfte es erst vielen Durcheinanders, um dazu zu kommen. Ich danke Ihnen für Ihre Geduld.

    (Anhaltender Beifall bei den Regierungsparteien.)