Mit der windelweichen Haltung, die z. B. Staatssekretär Herold und Minister Franke in diesen Aktuellen Stunden an den Tag gelegt haben, ermutigen Sie geradezu die Ostberliner Regierung zu weiteren Pressionen.
Sie haben sich vorhin verteidigend vor den Bericht gestellt, den Minister Franke vorgelegt hat. Ich kann dazu nur sagen: Es handelt sich hierbei um einen manipulierten und an der Wirklichkeit völlig vorbeigehenden Bericht,
dem die „Frankfurter Allgemeine" die Ehrlichkeit abspricht.
— Die „Frankfurter Allgemeine", Herr Wehner, schreibt:
Statt dessen wird die Führung der DDR nun dem Bericht der Bundesregierung entnehmen, daß trotz aller Restriktionen und Schikanen die Bonner Zufriedenheit — besser: Selbstzufriedenheit — noch nicht im geringsten erschüttert ist.
Herr Bundeskanzler, wie wollen Sie wirklich etwas für die Menschen in diesem Lande und dort drüben erreichen, wenn Sie weiter eine Politik der Nachgiebigkeit und der Beschönigung betreiben?
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch zwei Bemerkungen zum innenpolitischen Bereich machen, weil wir diese Generalaussprache auch dazu benutzen sollten, deutlich zu machen, wie tief in den ersten 100 Tagen des Kabinetts Brandt die Kluft zwischen Wort und Tat, zwischen Versprechungen und Wirklichkeit bereits wieder geworden ist. So etwas haben wir ja schon in der letzten Legislaturperiode erlebt. Zu diesem Thema und zur Regierungserklärung hat der Bundesvorsitzende der Jungsozialisten auf dem jüngsten Bundeskongreß seiner Organisation erklärt, die Regierungserklärung habe etwas Irreales an sich. Dies ist einer der seltenen Fälle, in denen die Opposition mit dem Bundesvorsitzenden der Jusos in der Beurteilung der politischen Vorgänge vollständig übereinstimmt.
Herr Bundeskanzler, wie sollen wir Ihnen eigentlich die neue Verkündigung glauben? Nach den Erfahrungen der letzten Jahre und insbesondere der letzten Wochen kann es sich hier doch nur um Glauben und Gläubigkeit handeln, denn das, was Sie in der praktischen Politik in diesen letzten 100 Tagen bewirkt und veranlaßt haben, ist doch das genaue Gegenteil dessen, was Sie in der Regierungserklärung angekündigt und zum Maßstab Ihrer Politik erklärt haben. Gerade Sie sagen doch immer, Herr Bundeskanzler, daß Ihre Politik von moralischen Grundlagen getragen werde. Zwei kurze Beispiele hierzu. Wir werden auch morgen noch darüber sprechen.
Am 21. September 1972 hat der Bundestag das Gesetz über die Weiterführung der Rentenreform beschlossen, und zwar einstimmig, ohne Gegenstimmen bei nur einer Enthaltung. Die Koalition hat diese von der CDU/CSU, wie Sie sicher nicht bestreiten werden, weitgehend initiierte Reform gegenüber den Rentnern als große soziale Tat dieser Bundesregierung verkauft. Ich erinnere hier nur an den enormen Propagandaaufwand. Jeder einzelne Rentner wurde von der Bundesregierung angeschrieben und auf die Leistungen von Willy Brandt und Walter Arendt aufmerksam gemacht, die so die wörtliche Formulierung der SPD — das größte Rentenprogramm der Nachkriegszeit durchgesetzt hätten.
Kaum ist die Wahl vorüber, wird die Rentenreform demontiert, werden beschlossene Leistungen in einer Art und Weise zurückgenommen, über die die „Süddeutsche Zeitung" geschrieben hat, mit der eilfertigen Änderung des Rentenreformgesetzes bewege sich die sozialliberale Koalition an der Grenze dessen, was für den Staatsbürger zumutbar sei.
Herr Bundeskanzler, Sie mögen die Entscheidung der Regierung — das haben wir heute morgen schon erlebt, und das werden wir auch in den nächsten Tagen wieder erleben —,
vor der Wahl gemachte Versprechungen unmittelbar nach der Wahl zurückzunehmen, als Ausdruck glaubwürdiger Politik empfinden. Wir nennen ein solches Verhalten gegenüber den sozial Schwächeren unsozial, Täuschung des Wählers, schlechten politischen Stil und dem Ansehen des Deutschen Bundestages abträglich.