Rede von
Dr.
Ernst
Schellenberg
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Kollege Härzschel, Sie wissen, daß wir darüber sehr eingehend in den Ausschüssen gesprochen haben, und Sie wissen auch, daß nur rund 1 % der über 65jährigen noch weiterarbeitet, während hier ein sehr großer Personenkreis angesprochen ist.
— Wenn ich das nicht wüßte, dann müßte ich ihnen sagen, daß 99 % der Berechtigten die vorgezogene Altersgrenze und das Arbeitseinkommen in Anspruch nehmen. Das ist die Wirkung, die sich aus der von Ihnen durchgesetzten Regelung ergibt.
4. Die gegenwärtige Regelung widerspricht dem Grundsatz sozialer Gerechtigkeit. Während ältere Arbeitnehmer, die aus gesundheitlichen Gründen wirklich nicht mehr arbeiten können, ausschließlich auf die Rente angewiesen sind, bezieht ein rüstiger Arbeitnehmer Doppeleinkommen. Damit werden am Ende des Arbeitslebens praktisch zwei Klassen von Arbeitnehmern im gleichen Betrieb geschaffen. Das ist gesellschaftspolitisch nicht zu rechtfertigen.
5. Die gegenwärtige Regelung gefährdet die langfristige finanzielle Solidität der Rentenversicherung. Das haben Sie durch Ihre Zwischenfrage, Herr Härzschel, ungewollt bestätigt. Die Vorausberechnungen für das Rentenreformgesetz beruhen auf einer Inanspruchnahmequote von 70 % der Berechtigten. Wenn aber die Bezieher von vorgezogenem Altersruhegeld bei erhöhtem Nettoeinkommen voll weiterarbeiten können, so ist damit zu rechnen, daß 80 oder 90 % aller berechtigten Arbeitnehmer dieses Altersruhegeld in Anspruch nehmen. Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte rechnet sogar — ich zitiere wörtlich — „mit einer Inanspruchnahmequote von nahezu 100 %".
Diese hohe Inanspruchnahmequote, meine Damen und Herren, wird kaum dadurch gemindert, daß nach der gegenwärtigen Regelung bei vorläufigem Rentenverzicht vom 63. Lebensjahr an ein Zuschlag zur zukünftigen Rente gewährt wird. Der Anreiz, sofort Rente neben erhöhtem Arbeitsverdienst beziehen zu können, ist so stark, daß der zukünftige Vorteil eines Rentenzuschlages wenig durchschlägt.
6. Die gegenwärtige Regelung muß dazu führen, daß wegen der überhöhten Inanspruchnahmequote die Beiträge der Rentenversicherung über den Satz von 18 vom Hundert hinaus zu erhöhen sind. Eine solche Entwicklung muß im Interesse der Beitragszahler verhindert werden. Den Arbeitnehmern ist nämlich nicht zuzumuten, daß sie wegen einer unvernünftigen Regelung erhöhte Beiträge entrichten müssen.
Herr Kollege Katzer hat kürzlich in einer Stellungnahme zu dem vorliegenden Gesetzentwurf erklärt:
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 19. Dezember 1972 49
Dr. Schellenberg
Selbst bei einer höheren Inanspruchnahme der flexiblen Altersgrenze ist in den nächsten Jahren die finanzielle Stabilität den Rentenversicherung nicht gefährdet.
Das ist eine leichtfertige Behauptung, die die Interessen der Arbeitnehmer mißachtet. Die Versicherungsträger und die Gewerkschaften erklären übereinstimmend, daß die gegenwärtige Regelung zwangsläufig zu einer stärkeren finanziellen Belastung der Rentenversicherung führt. Bei dieser Sachlage hat der Gesetzgeber die Pflicht, unverzüglich zu handeln.
Die Koalition bringt deshalb den vorliegenden Gesetzentwurf eines Vierten RentenversicherungsÄnderungsgesetzes ein. Er sieht vor:
1. Neben dem Bezug des flexiblen Altersruhegeldes soll bis zum 65. Lebensjahr nur gelegentliche Tätigkeit bis zu drei Monaten jährlich ohne Einkommensgrenze oder laufende Nebentätigkeit, deren Entgelt drei Zehntel der Beitragsbemessungsgrenze nicht überschreiten darf — das sind 690 DM für das
Jahr 1973, die dann dynamisiert werden —, zugelassen werden.
2. Der Zuschlag, den die gegenwärtige Regelung bei vorläufigem Rentenverzicht vorsieht, soll nicht schon vom 63. Lebensjahr an, sondern erst nach Erfüllung der allgemeinen Voraussetzung für das unbedingte Altersruhegeld, also vom 65. Lebensjahr an, gewährt werden.
Dieser Zuschlag wird auf Grund versicherungsmathematischer Berechnungen pro Monat des Rentenverzichts 0,6 % betragen. Die Änderung der Vorschriften über den Zuschlag ist im Interesse der finanziellen Solidität der Rentenversicherung geboten; denn bei Gewährung von Zuschlägen bereits vom 63. Lebensjahr an wird das durch den Gesetzentwurf angestrebte Ziel einer wohlausgewogenen langfristigen Finanzierung der Rentenversicherung beeinträchtigt.
3. Übergangsregelungen stellen sicher, daß insbesondere den Arbeitnehmern, die in der Zwischenzeit bestimmte arbeitsrechtliche Dispositionen getroffen haben, keine finanziellen Nachteile entstehen.
Schlußbemerkung. Der vorliegende Gesetzentwurf ist besonders eilbedürftig. Nach dem Willen der Koalition soll das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz am 1. Januar 1973 in Kraft treten. Hierdurch wird erreicht, daß die Gewährung der flexiblen Altersgrenze, von Übergangsregelungen abgesehen, nach einheitlichem Recht erfolgt. Ein späterer Termin des Inkrafttretens würde zu einer Ungleichbehandlung der Arbeitnehmer führen, die sachlich nicht gerechtfertigt ist. Zudem vergrößert ein späteres Inkrafttreten die finanziellen Gefahren, die sich für die Rentenversicherung aus der Gewähwährung der flexiblen Altersgrenze bei vollem Arbeitsverdienst ergeben.
Die Koalition ist deshalb der Auffassung, daß der Gesetzentwurf noch in dieser Woche verabschiedet werden sollte. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird eine Regelung der flexiblen Altersgrenze verwirklicht, die finanziell solide ist, die mehr Gerechtigkeit und mehr Humanität am Ende des Arbeitslebens schafft.