Rede von
Dr.
Philipp
Jenninger
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Namens und im Auftrag der CDU/CSU-Fraktion darf ich zu dieser sogenannten zweiten Beratung des Bundeshaushalts 1972 folgende Erklärung abgeben:
Nachdem es das erklärte Bedürfnis der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen ist, die „Tragödie des ewigen Haushaltsentwurfs 1972" durch einen, wie es heißt, „rein formalen Akt" wenige Tage vor dem Abschluß des Haushaltsjahres — gewissermaßen im Jahresabschlußgalopp — ihrem wohlverdienten Ende zuzuführen, sieht die CDU/ CSU-Fraktion zu ihrem Bedauern keinen Sinn mehr darin, im Rahmen dieser sogenannten zweiten Beratung in eine, wie es der Übung dieses Hauses entspräche, eingehende Beratung .der Bestimmungen des Haushaltsgesetzes 1972 und der Einzelpläne des Haushaltsplanes 1972 einzutreten.
In Anlehnung an den alten lateinischen Spruch „de mortuis nil nisi bene" — in freier deutscher Übersetzung: über einen Leichnam sollte man nicht reden —
können wir nur noch in einem Akt der Barmherzigkeit zur Kenntnis nehmen, wie dieser Bundeshaushalt nach 15monatigen Beratungen, nach 15monatigem Liegenlassen und Hinauszögern,
nach 355 Tagen etatlosen Regierens nun im Schnellverfahren über die Bühne gezogen werden soll.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, was hier vor sich geht, hat nichts mehr mit einer ordentlichen und demokratischen Beratung eines Bundeshaushalts zu tun, sondern ist schlicht die Verabschiedung einer in Gesetzesform gekleideten Indemnitätserklärung des Haushalts 1972.
Diese Art von Verabschiedung und diese Art der Abwicklung der Beratung eines Bundeshaushalts hat es, meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesem Jahrhundert in Deutschland noch nicht gegeben, und sie wird als eine einmalige negative Ruhmestat der sozialliberalen Koalition in die Geschichte des deutschen Parlamentarismus eingehen.
Das vielgepriesene Schicksalsbuch der Nation 1972 ist dank des Versagens und der haushaltsrechtlichen Manipulationen der vorherigen Bundesregierung mittlerweile zum „letzten Ladenhüter der Nation 1972" geworden.
Nachdem schon bei der Aufstellung des Etats durch die Bundesregierung die ehernen Grundsätze der Wahrheit und Klarheit des Haushalts mitnichten Pate standen, kann man jetzt — nach zahlreichen Änderungen, Verschiebungen, dreimaligen abschließenden Beratungen und Beschlußfassungen im Haus-
42 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 19. Dezember 1972
Dr. Jenninger
haltsausschuß, nach der tatsächlichen Abwicklung des Haushalts in fast 12 Monaten durch den Zwang oder auch, wie man es nehmen will, durch den Vorteil des Nothaushaltsrechts im Rahmen der vorläufigen Haushaltsführung — nur noch allgemeine Dunkelheit hinsichtlich des Zustands dieses Etats konstatieren.
Was uns hier, meine sehr verehrten Damen und Herren, an sogenannten Entwürfen und an Vorschlägen für die Einzelpläne heute auf den Tisch gelegt wird, hat nichts mit der Wirklichkeit, nichts mit der tatsächlichen Abwicklung, mit dem tatsächlichen Ablauf der Haushaltsführung in diesem Jahr im einzelnen zu tun, sondern ist allenfalls noch mit der Philosophie Nietzsches von der „Umkehrung aller Werte" zu erklären.
Meine Damen und Herren, auch die neue Bundesregierung hielt es nicht für notwendig, die wahren Haushaltszahlen vorzulegen, geschweige denn eine umfassende Bestandsaufnahme der augenblicklichen Situation der Bundesfinanzen diesem Parlament und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Was wir von diesem Etat wissen, ist lediglich, daß er auf der Ausgabenseite auf rund 109 Milliarden DM begrenzt ist. Aber auch das ist schon fraglich geworden, da sich die Bundesregierung konstant weigert, erstens die mittlerweile entstandenen weiteren überplanmäßigen und außerplanmäßigen Ausgaben in der Größenordnung von rund 665 Millionen DM konkret in die Einzelpositionen der Pläne einzubauen, wozu sie gesetzlich und verfassungsrechtlich verpflichtet wäre, und zweitens eine Konkretisierung der sogenannten globalen Minderausgaben, die auf die Einzeletats entfallen sollen, vorzunehmen, um einen konkreten Überblick auch über die wirklichen Belastungen der Einzelpläne zu ermöglichen. Drittens sprach die Bundesregierung gestern im Haushaltsausschuß noch von einem weiteren Nachdeckungsrisiko von rund 300 Millionen DM, die irgendwo und irgendwann im Laufe der nächsten Wochen in den Haushalt hinein „verwurstelt" werden sollen, was dieses Parlament gar nicht zu interessieren habe.
Durch diese Art der Haushaltsmanipulationen wird das vornehmste Recht des Parlaments, eine wirksame Kontrolle über die Staatsfinanzen auszuüben, ad absurdum geführt; es ist zu einer Farce geworden.
Mit dieser Art der Haushaltsberatung wird den meisten Kollegen in diesem Hause außerdem praktisch das Recht genommen, in der zweiten Lesung Einzelanträge zu stellen, geschweige denn hat ein Kollege in diesem Hause die Möglichkeit, sich einen wirklichen Überblick über die Situation der Einzelpläne zu verschaffen.
Ich darf zusammenfassen. Erstens: Es ist für die CDU/CSU-Fraktion eine Zumutung, über etwas zu beschließen, was ohnehin nicht mehr zum Tragen kommen kann. Zweitens: Es ist eine noch größere Zumutung, etwas im nachhinein einzusegnen, das man nicht einmal kennt.
Aus diesem Grunde, meine sehr verehrten Damen und Herren, sind wir nicht bereit, in dieser sogenannten zweiten Lesung all den Einzelplänen unsere Zustimmung zu geben, hinter denen die politische Verantwortung dieser Bundesregierung steht. Wir werden den Einzelplänen 01, 02, 03, 19, 20 und 33 unsere Zustimmung geben, aber alles andere in dieser zweiten Beratung ablehnen.