Rede von
Dr.
Adolf
Müller-Emmert
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als am 28. März 1963 zum erstenmal in diesem Hause über jenen Reformentwurf beraten wurde, den wir heute allgemein unter dem Namen „E 1962" kennen, sind sehr ausführliche und, wie ich auch meine, sehr kluge Reden gehalten worden, die der Bedeutung des Vorhabens gewiß in jeder Weise Rechnung getragen haben. Es wurde damals darauf hingewiesen, daß die Strafrechtsreformgeschichte sehr lange dauere und daß auch viele Rückschläge zu verzeichnen gewesen seien. Das Ende der rund 60 Jahre währenden Bemühungen schien damals nahe, und es war nicht zu verwundern, daß die Sprecher der damaligen Koalitionsfraktionen den Entwurf mit Freude begrüßten.
Die Reaktion der Redner meiner Fraktion war damals eher skeptisch. Einmal deshalb, weil wir zu wissen glaubten, daß das umfangreiche Reformvorhaben nicht in kurzer Zeit oder gar in einer einzigen Legislaturperiode zu bewältigen sein würde, zum anderen deshalb, weil wir mit der Grundkonzeption des Entwurfs 1962 nicht völlig einverstanden sein konnten. Das war nach unserer Meinung nicht die Strafrechtsreform, die wir uns vorgestellt hatten. Es war lediglich eine redliche Bestandsaufnahme der Rechtsprechung und Rechtslehre, die allerdings — was wir immer anerkannt haben — fraglos sehr sorgfältig, gewissenhaft und perfekt erarbeitet worden war. Der Mut hingegen, in strafrechtliches Neuland vorzustoßen, war kaum zu erkennen.
In den entscheidenden kriminalpolitischen Fragen des Strafensystems, besonders der kurzzeitigen Freiheitsstrafe und der einheitlichen Freiheitsstrafe, hat der Entwurf 1962 eine Stellung bezogen, die wir eindeutig als rückschrittlich empfunden haben. Die von vielen Seiten geäußerte Kritik an diesem Entwurf, nämlich an seiner moralisierenden Tendenz, war nach unserer Meinung ebenfalls sehr gerechtfertigt. Wir haben deshalb bereits damals, bei der ersten Lesung, eine Entrümpelung dieses Entwurfs gefordert.
Von manchen Mitgliedern dieses Hohen Hauses wurde unsere damalige Kritik nicht sehr gern gehört. Frau Kollegin Dr. Diemer-Nicolaus glaubte damals sogar, uns auffordern zu sollen, bei den Reformarbeiten nicht abseits zu stehen. Dies zu tun, meine Damen und Herren, war niemals unsere Absicht. Wer die Geschichte der Sozialdemokratischen Partei kennt, weiß, wie wesentlich ihr gerade dieses Reformanliegen immer war.
Bereits der Mannheimer Parteitag von 1906, das Görlitzer Programm von 1921 und das Heidelberger Programm von 1925 — ich sage dies sicher nicht ohne einen gewissen Traditionsstolz — stellten, immer von der damaligen Zeit her gesehen, Grundsätze für ein richtungweisendes Strafrecht auf und forderten insbesondere einen auf die Resozialisierung des Täters abgestellten Strafvollzug. Einen der glanzvollen Höhepunkte der Strafrechtsreformgeschichte überhaupt stellt das Schaffen des sozialdemokratischen Reichsjustizministers Gustav Radbruch dar, der im Jahre 1922 den am weitesten in Neuland vorstoßenden Entwurf eines neuen Strafgesetzbuchs vorgelegt hat. Radbruch hat Maßstäbe für ein kriminalpolitisches Programm gesetzt, das die SPD über die folgenden Jahrzehnte hinaus bis heute in den Grundzügen beibehalten hat.
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Dr. Müller-Emmert
Als die SPD bald nach dem Neuanfang 1945, nämlich im Jahre 1951, die Einsetzung der dann drei Jahre später konstituierten Großen Strafrechtskommission zur Vorbereitung der Reform verlangte, war dies nur eine Fortsetzung ihrer fortwährenden Bemühungen um die Strafrechtsreform. Wenn Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren, die Gesetzentwürfe betrachten, über die wir heute endgültig abzustimmen haben, dann werden Sie feststellen, daß diese Bemühungen bis heute nicht aufgehört haben. Ich bitte, es mir nicht als Unbescheidenheit anzulasten, wenn ich sage, daß wir in diesen Gesetzentwürfen einen Großteil unserer Vorstellungen verwirklicht sehen.
Ich sage nicht, daß dies sozialdemokratisches Strafrecht sei; ein solches gibt es natürlich nicht, genauso wenig wie es ein christdemokratisches oder ein freidemokratisches Strafrecht gibt. Recht kann selbstverständlich niemals das geistige Eigentum einer einzigen Fraktion oder Partei sein, es kann auch niemals das Zufallsprodukt einer parlamentarischen Mehrheitsentscheidung sein; es kann nur die Zusammenfassung jener Überzeugung in unserem Volke darstellen, die einer weit überwiegenden Mehrheit in unserem Volk gemeinsam ist und die zugleich Minderheiten mit anderen, aber berechtigten Auffassungen nicht in Gewissenskonflikte bringen will.
Mein Freund Adolf Arndt, der gern an dieser Abschlußdebatte teilgenommen hätte, aber wegen Krankheit verhindert ist, und dem ich von dieser Stelle aus herzliche Genesungswünsche zukommen lassen möchte,
nannte das Recht einmal ein Geschehen, das sich tagtäglich tausendfach vollzieht, weil freie Menschen es sich freiwillig zur Regel machten und es liebten, rechtlich zu handeln. Fürwahr, nur die Freiwilligkeit, mit der jeder sich die rechtliche Ordnung zu eigen macht, kann zu einer Gemeinsamkeit des Rechtes führen.
Dazu gehört in einer pluralistischen Gesellschaft auch Toleranz, Duldsamkeit gegenüber der Auffassung des Andersdenkenden. Es kann nämlich kein Zweifel darüber bestehen, daß der Mangel an Toleranz eine Rechtsordnung nicht nur im Hinblick auf ihre Wirksamkeit als fragwürdig erscheinen läßt, sondern sie unter Umständen auch zum Unrecht machen kann.
Warum sage ich dies, und warum sage ich es im Zusammenhang mit der Erwähnung jenes Entwurfs 1962? Nicht deshalb, weil ich der Auffassung bin, daß dieser Entwurf dem gemeinsamen Rechtsdenken in eklatanter Weise widerspräche, sondern deshalb, weil ich glaube, daß dieser Entwurf da und dort Ansatzpunkte zeigt, die mit dem Toleranzgebot nur schwer zu vereinbaren sind. Konservative und teils auch weltanschauliche Gesichtspunkte werden in ihm zum Nachteil von anderen, gleichwohl aber berechtigten Rechtsüberzeugungen überbetont.
Dieses System der Über- oder Unterbewertung verschiedener Ansichten zu beseitigen, ist ein wesentliches Anliegen der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion. Ich meine, daß die Beratungsergebnisse des Sonderausschusses diesem unserem Anliegen in erheblicher Weise Rechnung tragen.
Wir Sozialdemokraten sind uns darüber im klaren, daß wir nicht alles erreichen konnten, was wir uns vorgenommen haben. Aber das ist unter Berücksichtigung der politischen Mehrheitsverhältnisse in diesem Hause verständlich. Wir wollen das auch gar nicht beklagen, genausowenig wie Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion, es beklagen sollten, daß Sie erhebliche Abstriche von Ihren ursprünglichen Vorstellungen machen mußten. Es mußte eben einmal ein gemeinsamer Nenner gefunden werden, damit die Rechnung aller aufgehen konnte. Nach meiner Überzeugung hat der Strafrechtsausschuß diesen gemeinsamen Nenner gefunden. Seine Ergebnisse werden gerade aus diesem Grunde ganz sicher auf öffentliche Kritik stoßen, und zwar von Kritikern, die nach meiner Meinung an der politischen Wirklichkeit vorbeidenken. Mir ist vor dieser Kritik nicht bange. Es gibt nämlich gute und schlechte Kompromisse; der vom Sonderausschuß gefundene verdient jedenfalls mit Sicherheit das Prädikat „gut".
Denn trotz des Kompromißcharakters erweisen sich die erarbeiteten Lösungen als eine moderne und zukunftweisende Konzeption eines neuen Strafrechts. Dies gilt vor allem für den kriminalpolitischen Teil der beiden Vorlagen. Der Verzicht auf die Aufgliederung der Freiheitsstrafe in Zuchthaus, Gefängnis, Strafhaft, Haft und Einschließung, die der Entwurf von 1962 noch vorgesehen hatte, ist ein entscheidender Fortschritt. Gerade die Forderung nach Beibehaltung der Zuchthausstrafe war und ist offenbar auch heute noch Symbolfigur sehr konservativ Denkender, die sich nicht dazu aufraffen können, anzuerkennen, daß die Resozialisierungsfunktion der Strafe gegenüber der Vergeltungsfunktion Vorrang erhalten muß. Dabei weiß jeder Sachkenner, daß es in der Praxis ohnehin kaum einen Unterschied zwischen der Gefängnis- und der Zuchthausstrafe gibt und daß eine Differenzierung im Vollzug außer nach reinen Vollzugsgesichtspunkten nur in kleinlichen Schikanen bestehen kann. Der Unterschied der beiden Freiheitsstrafen macht sich in verhängnisvoller Weise erst dann bemerkbar, wenn der Zuchthausgefangene entlassen wird und in das bürgerliche Leben, in die Gesellschaft zurückkehren will. Die Abstempelung als Zuchthäusler verhindert seine echte Wiedereingliederung in die Gemeinschaft und bewirkt, daß er, der von der Gemeinschaft als Außenseiter abgelehnt wird, erneut straffällig wird. Die nunmehr beschlossene einheitliche Freiheitsstrafe ermöglicht demgegenüber eine Trennung nach Tätergruppen und die Unterbringung in geeigneten Anstalten. Sie verzichtet auch auf die unnötigen Kosten für besondere Zuchthausanstalten. Außerdem brandmarkt sie den Täter nicht, wie dies bei der Zuchthausstrafe der Fall ist, und wirkt sich
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Dr. Müller-Emmert
deshalb weniger schädlich auf die Resozialisierung aus. Aus diesen Gründen wurde die einheitliche Freiheitsstrafe bereits in mehreren ausländischen Rechtsordnungen mit Erfolg eingeführt und erhält auch bei den Reformarbeiten mehrerer ausländischer Staaten, die zur Zeit laufen, mehr und mehr den Vorzug.
Eine ähnliche Tendenz zeigt sich bei dem Problem der kurzen Freiheitsstrafe. Nach weit überwiegender Auffassung in Wissenschaft und Praxis gelten Freiheitsstrafen von unter sechs Monaten als ungeeignet für die Verbrechensbekämpfung. Der Grund hierfür ist, daß der Vollzug einer Freiheitsstrafe unter sechs Monaten nicht ausreicht, einen erzieherischen Effekt zu erzielen. Der Aufenthalt in einer durch Vollzug vieler kurzer Freiheitsstrafen überfüllten Strafanstalt wirkt sich eher schädlich aus, da der Verurteilte durch den Verkehr mit anderen Gefangenen der Gefahr krimineller Ansteckung ausgesetzt ist.
Hinzu kommt, daß die Vollstreckung solcher kurzen Freiheitsstrafen noch die Nachteile mit sich bringt, die in der Gefahr des Verlustes des Arbeitsplatzes des Betroffenen und in durch seine Abwesenheit bedingten familiären Schwierigkeiten begründet sind. Der Sonderausschuß hat diese Gesichtspunkte, die von den Vertretern der SPD-Fraktion schon seit langer Zeit vorgetragen werden, berücksichtigt. Er schlägt zwar nicht vor, die kurzfristige Freiheitsstrafe vollständig abzuschaffen, er befürwortet aber eine entscheidende Einschränkung in der Weise, daß im Bereich bis zu sechs Monaten grundsätzlich Geldstrafen verhängt werden müssen und daß dann, wenn ausnahmsweise auf Freiheitsstrafe erkannt werden muß, diese Strafe grundsätzlich zur Bewährung ausgesetzt werden muß. Sollte sich die gefundene Lösung in den nächsten Jahren bewähren, wird man zu überlegen haben, ob es vertretbar ist, zukünftig auf kurzfristige Freiheitsstrafen ganz zu verzichten. Bis zum Inkrafttreten der großen Reform im Jahre 1973 besteht noch genügend Zeit, entsprechende Korrekturen anzubringen.
Neben der Regelung dieser beiden kriminalpolitischen Kardinalprobleme, meine sehr geehrten Damen und Herren, sehen die Vorlagen des Strafrechtsausschusses noch eine weitere Fülle von Neuerungen vor, die ich in der gebotenen Kürze noch einmal zusammenfassend aufzählen darf, ohne Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen.
Der Anwendungsbereich der Strafaussetzung zur Bewährung wurde erweitert. Die Möglichkeit des Verzichts auf Strafe bei besonders schweren Tatfolgen für den Täter wurde eingeführt. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gilt nunmehr auch bei der Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung. Das Arbeitshaus wurde gestrichen. Die Voraussetzungen für die Sicherungsverwahrung werden erheblich verschärft, so daß sie eine starke Waffe gegen die Schwer-, Gewohnheits- und Berufskriminalität geworden ist.
Bei den freiheitsentziehenden Maßregeln tritt neben die schon bisher vorsehene psychiatrische Krankenanstalt, neben die Entziehungsanstalt und die Sicherungsverwahrung nun auch noch die für die Resozialisierung besonders bedeutsame neue sozialtherapeutische Anstalt. Diese in der Bundesrepublik bislang nur in einigen Ansätzen vorhandene neue Maßregel lehnt sich an das Vorbild verschiedener ausländischer Sonderanstalten — besonders in Holland und Dänemark — sowie an die verdienstvollen Vorschläge im Alternativ-Entwurf der 14 Strafrechtsprofessoren an. In ihr gehen die im Entwurf 1962 für schuldunfähige und vermindert schuldfähige Täter vorgesehene Bewahrungsanstalt und die vorbeugende Verwahrung für sogenannte Jungtäter auf. Sie erfaßt darüber hinaus voll schuldfähige Rückfalltäter mit schweren Persönlichkeitsstörungen und — was auch von erheblicher Bedeutung ist — Triebtäter.
Weiter ist zu sagen, daß die Geltungsbereichsvorschriften neu gestaltet worden sind, daß ein neues dogmatisches Konzept im Allgemeinen Teil gefunden wurde, das sich allerdings in wissenschaftlichen Streitfragen mit Recht sehr stark zurückhält, daß die Vorschriften über die Schuldunfähigkeit und die verminderte Schuldfähigkeit neu gefaßt worden sind.
Die nicht mehr zeitgemäßen Rückfallvorschriften für bestimmte Vermögensdelikte wurden gestrichen und durch eine allgemeine Rückfallklausel ersetzt. Auch wurde das Rechtsinstitut der Verwarnung mit Strafvorbehalt im Geldstrafenbereich neu eingeführt. Außerdem ist neu die freiheitsbeschränkende Maßregel der Führungsaufsicht, die die Polizeiaufsicht des geltenden Rechts ablöst und sich auch von der Sicherungsaufsicht, wie sie der Entwurf 1962 vorsah, abhebt. Der gleichfalls neue Vikariierungsgrundsatz, der besagt, daß freiheitsentziehende Maßregeln grundsätzlich vor der Strafe zu vollstrecken sind, berücksichtigt den Resozialisierungsgedanken besonders dadurch, daß es nunmehr auch möglich ist, die noch nicht verbüßte Strafe oder einen Strafrest zur Bewährung auszusetzen.
Im Besonderen Teil, meine sehr geehrten Damen und Herren, werden verschiedene Vorschriften gestrichen, für die ein kriminalpolitisches Bedürfnis nicht mehr besteht. Dazu gehören insbesondere die Tatbestände des Ehebruchs, des Zweikampfes, der fahrlässigen Gefangenenbefreiung, der Unzucht mit Tieren, der Erschleichung des außerehelichen Beischlafs und der einfachen Unzucht zwischen Männern. Der bisherige § 175 a des Strafgesetzbuches, der die schwere Unzucht zwischen Männern unter Strafe stellt, wird durch eine neue Vorschrift ersetzt, die nur noch qualifizierte Formen der männlichen Homosexualität mit Strafe bedroht. Gleichgeschlechtliche Unzucht ist danach nur noch strafbar, dies aber auch unbedingt und mit Recht, wenn sie mit Minderjährigen, mit Abhängigen, gewerbsmäßig oder mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt erfolgt.
Der Sonderausschuß hat weiter die Bestimmung über die falsche Anschuldigung auf die Taten beschränkt, die wider besseres Wissen begangen werden. Er hat auch die Straftaten gegen den religiösen Frieden in voller Übereinstimmung mit den Stellungnahmen der Katholischen und der Evangelischen Kirche umgestaltet. Der Tatbestand der Gottes-
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lästerung kommt ganz in Wegfall. Die Vorschriften über Religionsbeschimpfung und Hinderung am Gottesdienst beziehen sich künftig auch auf Weltanschauungsgemeinschaften, erfassen aber im wesentlichen in einem engeren Rahmen nur Handlungen, die geeignet sind, den öffentlichen Frieden zu stören. Neu ist in diesem Bereich auch die Strafvorschrift über die Störung einer Bestattungsfeier.
Auch werden die Entführungstatbestände der §§ 235 bis 238 eingeengt. Beispielsweise wird das Schutzalter vom 21. auf das 18. Lebensjahr herabgesetzt. In dem § 237 wird die bisherige, weit übersetzte Strafdrohung beseitigt und gezielt auf die moderne Erscheinungsform dieser Taten, nämlich auf die Entführung mit Kraftfahrzeugen, abgestellt.
Auch wurden die Tatbestände des schweren Diebstahls reformiert, so daß die oft seltsamen Ergebnisse der Rechtsprechung zukünftig nicht mehr anzutreffen sein werden.
Neu und durch die technische Entwicklung bedingt ist schließlich auch die Ausdehnung der Urkundenfälschung auf die Fälschung und Unterdrückung technischer Aufzeichnungen, die nunmehr den Urkunden gleichgestellt werden.
Besonders zu betonen ist, daß bei den vielfach als reformbedürftig angesehenen Abtreibungs- und Kuppeleivorschriften die Zeit nur noch dazu ausreichte, die Verbrechen der Fremdabtreibung und der schweren Kuppelei in Vergehen umzuwandeln. Immerhin wird dadurch die Problematik auf diesen umstrittenen Gebieten insofern entschärft, als in gewissen Fällen, in denen eine Bestrafung schwer einzusehen ist, das Verfahren eingestellt werden kann, ohne daß es überhaupt zur Anklageerhebung durch den Staatsanwalt zu kommen braucht.
Nicht berücksichtigt wurden in den beiden ersten Teilgesetzen zur Reform des Strafrechts die Beschlüsse des Sonderausschusses über ein Rechtsgebiet, das in der öffentlichen Diskussion steht, nämlich über die Straftaten gegen den Gemeinschaftsfrieden. Es wird in den noch bevorstehenden Beratungen sicher sehr schwer sein, bei der Ausgestaltung dieser Tatbestände, die sich in dem Spannungsverhältnis zwischen dem Demonstrationsrecht des einzelnen und dem Schutzbedürfnis der Allgemeinheit bewegen, die zum Teil völlig konträren Standpunkte anzugleichen und zu sachgerechten Lösungen zu kommen. Trotz dieser Schwierigkeiten habe ich jedoch die zuversichtliche Hoffnung, daß dem Strafrechtsausschuß, der bisher alle Schwierigkeiten meistern konnte, auch die Lösung dieses Problems gelingen wird. Die sachliche und kollegiale Atmosphäre, in der der Sonderausschuß zusammengearbeitet hat und für die ich mich bei Ihnen, meine Damen und Herren vom Sonderausschuß, recht herzlich bedanken möchte, berechtigt zu dieser Hoffnung. Diese Sachlichkeit war es auch, die uns in die Lage versetzte, unsere Arbeit zu diesem Zeitpunkt erfolgreich abzuschließen.
Wir Mitglieder des Strafrechtsausschusses werden
gleichwohl aber den langen Marsch durch die Paragraphen des Strafgesetzbuches zwangsläufig noch eine Weile fortsetzen müssen, und wir werden es auch erreichen — davon bin ich überzeugt —, daß zunächst unüberwindlich erscheinende Gegensätze ausgeräumt und überwunden werden.
Ein rühmenswertes Beispiel stellt insofern die Fraktion der Freien Demokraten dar, die — um mit einem Vergleich zu sprechen — aus einem Saulus zu einem Paulus geworden ist und die uns gezeigt hat, wie sehr man seine Auffassungen aus sachlichen Gründen innerhalb eines verhältnismäßig kurzen Zeitraumes ändern kann. Das war schon eine frappierende Kehrtwendung, die Sie, meine Damen und Herren von der FDP-Fraktion, vollzogen haben. Ich habe noch die Worte im Ohr, die der damalige Bundesjustizminister, Herr Kollege Bucher, anläßlich der Einbringung des Entwurfs von 1962 gebraucht hat. Er hat den Entwurf damals „eine auf dem Grundgesetz aufbauende, sich von Extremen fernhaltende, ausgewogene Grundlage" genannt, „die es jedem von uns ermöglichen sollte, ein grundsätzliches Ja dazu zu sagen". — Noch 1966, bei der dritten Einbringung dieses Entwurfs, sprachen Sie, Frau Kollegin Dr. Diemer-Nicolaus, sich zusammen mit den Sprechern der CDU/CSU-Fraktion für die Beibehaltung der Zuchthausstrafe und gegen die Einheitsstrafe aus. Auch das Problem der kurzzeitigen Freiheitsstrafe und der Strafaussetzung zur Bewährung haben Sie, meine Damen und Herren von der FDP- Fraktion und auch von der CDU/CSU-Fraktion, damals ganz anders gesehen als heute. Ihr heutiger Reformeifer verdient unsere ganz besondere Anerkennung.
Sie werden mir, rückblickend betrachtet, sicher zustimmen, meine Damen und Herren, wenn ich sage, daß wir in unserer Reformarbeit entschieden schneller und weiter vorangekommen wären, wenn sich die beiden anderen Fraktionen gleich und von Anfang an den Grundsatzauffassungen angeschlossen hätten, die wir von Anbeginn an vertreten haben, wie Sie es dann im Laufe der Beratungen doch zwangsläufig getan haben.
Uns allen geht es darum, ein Strafrecht zu schaffen, das dem Erfordernis der Gerechtigkeit genügt. Ich meine nicht jene absolute Gerechtigkeit, die zu erkennen wir Menschen niemals in der Lage sein werden; ich meine vielmehr die Gerechtigkeit, die den vielen Fällen des täglichen Lebens standhalten muß. Dabei mögen wir berücksichtigen, daß das Verbrechen niemals ausschließlich ein Problem des Verbrechers, sondern immer auch ein Problem unserer Gesellschaft ist.
Es wird unsere Aufgabe sein, in verstärktem Maße jene Anlage- und Umweltfaktoren zu erforschen, die für die verbrecherische Handlung mitentscheidend sind. Wir wissen viel zuwenig über die Vererblichkeit krimineller Neigungen, über die bei Zeugung unter Alkoholeinfluß möglichen Schädigungen, über
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Drüsenstörungen und den Einfluß der Geschlechtshormone auf die Persönlichkeitsentwicklung und -entfaltung, über körperliche und seelische Erkrankungen, über die Psychopathie und die Auswirkung von Intelligenzmängeln, Affekten und Neurosen.
Die verbrecherische Tat
so sagte einmal der verstorbene hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer
ist wie ein großer Strom, aus vielen Flüssen und Bächen gespeist, mag es. sich um einen grauenvollen Mord oder um einen kleinen Diebstahl handeln.
Selten ist jemand zum Verbrecher geboren. Zu der anlagebedingten Prädisposition kommen immer ungünstige Umweltbedingungen. Gerade unsere heutige Wohlstandsgesellschaft entwickelt typische sozialschädliche Milieuformen. Sie schafft teilweise Gesellschaftsideale, die sich nicht in allen Fällen günstig auswirken. So ist die Begehrlichkeitskriminalität, über deren Zunahme wir alle erschrecken und die sich in allen Schichten der Bevölkerung findet, nicht zuletzt das Produkt ökonomischer Ungleichheit in einer Wettbewerbswirtschaft, in der sich die soziale Rangstufe weitgehend danach bemißt, ob man nur Schuhe oder vielleicht ein Fahrrad, ein Moped, ein Motorrad oder auch einen Volks- oder Luxuswagen besitzt. Die falsche Tafel der Rangwerte, die von einer sogenannten Oberklasse unserer Gesellschaft tagaus, tagein aufgestellt wird, ist ein verbrechensfördernder Faktor ersten Ranges. Ihr folgen Haß, Neid, falscher Ehrgeiz und alle Arten von Hochstapelei zwangsläufig. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, daß sich die Erkenntnis immer mehr durchsetzt, daß die beste Strafrechtspolitik eine gute Sozial- und Bildungspolitik ist.
Wenn wir speziell die Zunahme der Jugendkriminalität betrachten, dann haben wir uns zu überlegen, wie es uns gelingen kann, diese unsere jungen Menschen in die Gemeinschaft zu integrieren. Wir haben dabei zu berücksichtigen, daß im Prozeß der Industrialisierung in den letzten hundert Jahren die ländliche oder kleinstädtische Großfamilie, die im ständigen Miteinanderleben einen festen Zusammenhalt bildete, der modernen Großstadtfamilie weichen mußte. Diese heutige Familie ist häufig nicht mehr in der Lage, dem Kind die Kunst des Triebverzichts im weitesten Sinne zugunsten der Gemeinschaft beizubringen, da sie selbst keine Gemeinschaft mehr ist. Sie ist oft pervertiert zu einer Produktionsgenossenschaft, deren wichtigstes Ziel die Erreichung eines höheren Lebensstandards ist. Wir werden diese Entwicklung nicht rückgängig machen können. Wir werden uns aber bemühen müssen, den jungen Menschen einen Inhalt zu geben, der in einem besseren, der Situation angepaßten Bildungssystem bestehen muß. Wir werden bei der Behandlung straffällig Gewordener besonders im Strafvollzug Rücksicht auf diese ungünstigen Milieuformen zu nehmen haben.
In der Öffentlichkeit wird gegen das neue Strafrecht manchen Ortes der Vorwurf erhoben, es sei zu weich. Manche unserer Bürger wünschen sich auch heute noch gern drakonische, harte Strafen. Diese Meinung sollte korrigiert werden und besserer Einsicht weichen. Der Gesetzgeber kann sich von solchen Vorstellungen nicht leiten lassen. Ihm muß es darauf ankommen, ein Gesetz zu schaffen, das eine wirksame Verbrechensbekämpfung gewährleistet. Mit sogenannten harten Strafen ist überhaupt nichts erreicht.
Sie verhindern in aller Regel nicht, daß ein Mensch straffällig wird, und sie bewirken auch keine Besserung. Die Zahl der in unserer Gesellschaft rückfällig gewordenen Täter spricht insoweit eine deutliche Sprache.
Härte ist nicht der Maßstab, an dem die Güte eines Strafrechts zu messen ist.
Soll es die Gesellschaft vor dem Verbrechen schützen, so muß eine zweckmäßige Kriminalpolitik nicht auf Strenge und Vergeltung, sondern allein auf Wirksamkeit abzielen.
Sinnvoll sind nur Freiheitsstrafen — das beweisen die Erfahrungen der Länder, die sich bereits zu einem modernen Strafrecht durchgerungen haben —, die bei der notwendigen abschreckenden Wirkung, die selbstverständlich von ihnen ausgehen muß, nicht zur Niederdrückung und Peinigung der Verurteilten, sondern zur Stärkung ihrer körperlichen, geistigen und sittlichen Widerstandskraft im Kampf um das Dasein führen. Wir befinden uns auf dem richtigen Weg. Von diesem Weg dürfen wir uns nicht abbringen lassen, auch wenn manche, die es nicht besser wissen oder wissen wollen, eine Verbrechenspsychose schüren, die durch keinerlei Tatsachen gerechtfertigt ist.
An einem entscheidenden erfolgreichen Punkt unserer gemeinsamen Reformarbeit gebietet es die Kollegialität ganz selbstverständlich, allen an der Strafrechtsreform Beteiligten herzlichen Dank zu sagen. Die sechs Jahre Arbeit waren nicht einfach. Sie waren mühsam und von zeitraubender Tätigkeit erfüllt. Die SPD-Fraktion anerkennt diese Arbeit. Im Namen meiner Fraktion danke ich besonders dem Ausschußvorsitzenden, Herrn Kollegen Dr. Güde, der unermüdlich tätig war und es durch seine ausgleichende, souveräne Art immer fertiggebracht hat, die Arbeit voranzutreiben.
Ein besonderes Lob gebührt auch Frau Kollegin Dr. Diemer-Nicolaus.
Für sie war es deshalb besonders schwer, weil sie die einzige Vertreterin ihrer Fraktion im Ausschuß ist, also die Last der Arbeit für ihre Fraktion sechs Jahre allein tragen mußte, womit sie allerdings, das darf ich sagen, trotz ihrer zarten Schultern spielend fertig wurde.
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Dr. Müller-Emmert
Ich darf auch allen Kolleginnen und Kollegen im Strafrechtsausschuß für ihre erfolgreiche Arbeit danken.
Ich darf mich besonders auch bei dem vormaligen Bundesjustizminister Dr. Gustav Heinemann und dem jetzigen Bundesjustizminister und seinem vormaligen Staatssekretär, Professor Dr. Horst Ehmke, sehr herzlich bedanken.
Durch die Initiativen dieser beiden Justizminister wurden entscheidende Impulse gesetzt. Sie haben dafür gesorgt, daß die Mitarbeiter ihres Ministeriums in gewohnt perfekter und präziser Form die Ausschußarbeit entscheidend unterstützt haben.
Damit habe ich zugleich den Herrn des Justizministeriums die ihnen im großen Maße gebührende Anerkennung gezollt. Ich möchte ihnen ebenfalls herzlich Dank sagen.
Zuletzt darf ich mich auch noch der angenehmen Aufgabe entledigen, daran zu erinnern, daß die Mitarbeiter des Strafrechtsausschusses, Oberlandesgerichtsrat Dr. Meyer und Landgerichtsrat Dr. Friedrich, eine unübersehbare langjährige Arbeit hinter sich gebracht haben und damit auch nicht von dem gemeinsamen Erfolg wegzudenken sind.
Lassen Sie mich abschließend sagen, meine sehr geehrten Damen und Herren, daß es dem neu zu beschließenden Strafrecht sehr dienlich wäre, wenn es mit großer Mehrheit von diesem Hohen Haus in Kraft gesetzt würde. Wie kein anderes Rechtsgebiet greift das Strafrecht in die Belange des einzelnen Bürgers ein. Daraus folgt, daß nur diejenigen Strafrechtsvorschriften auf Dauer Bestand haben werden, die von der weit überwiegenden Mehrheit unseres Volkes getragen werden.
Deshalb bittet Sie die SPD-Fraktion, die diesem großen Gesetzgebungswerk ihre Zustimmung gibt, ihm auch durch Ihr Ja volle Anerkennung zu zollen.