Rede von
Herbert
Wehner
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Zur Frage 17. Die jetzt im anderen Teil Deutschlands in Kraft getretene Verfassung ersetzt die alte Verfassung vom 7. Oktober 1949, die sowohl durch verfassungsergänzende Gesetze als auch durch die politisch ideologische Auslegung und die vielfache Nichtbeachtung, die zur Regel gehört hat, in der Praxis keine Bedeutung mehr hatte. Die neue Verfassung gibt den ursprünglichen gesamtdeutschen Geltungsanspruch der alten Verfassung auf und soll die Existenz von zwei deutschen Staaten im Rahmen der fortbestehenden einheitlichen deutschen Nation formalisieren, für deren Schicksal eine besondere Verantwortung der als DDR organisierten Gewalt postuliert wird. Die staatliche Vereinigung Deutschlands in einer Ordnung, die dem Parteiprogramm der SED entspräche, wird in der Verfassung als Fernziel und nationale Aufgabe fixiert.
Diese Verfassung bricht endgültig mit der Tradition des früheren Verfassungstextes, indem sie die Führungsrolle der SED im Staatsapparat und in der Gesellschaft, das sogenannte sozialistische Eigentum an den Produktionsmitteln, das Prinzip der Gewaltenkonzentration und das System des demokratischen Zentralismus, wie es genannt wird, verankert.
Der Grundrechtsteil enthält neben Formulierungen klassischer Freiheitsrechte zahlreiche Gesellschafts- oder gesellschaftliche Rechte und Rechte auf politische Mitwirkung, die zwar mit materieller Verwirklichungsgarantie ausgestattet sind, zugleich aber durch Gesetzes- oder allgemeine Vorbehalte relativiert werden. Verschiedene Rechte der alten Verfassung fehlen, z. B. die Freiheit der Berufswahl, das Streikrecht, das Verbot der Pressezensur und die Auswanderungsfreiheit. Das Recht auf Freizügigkeit gilt nur noch innerhalb des Staatsgebietes DDR.
Die politische Wirkung der neuen Verfassung ist sehr stark nach außen berechnet. Sie soll die DDR gegenüber anderen als sozialistisch bezeichneten Staaten als ideologisch ebenbürtig und politisch konsolidiert ausweisen. Es geht also um eine Art Ranggleichheit. Für die übrige Welt soll sie den
Anschein der Legitimität erwecken und die Rechtmäßigkeit oder, wenn Sie so wollen, die Rechtsstaatlichkeit des Systems betonen. Für den innerdeutschen Bereich soll sie wohl die Endgültigkeit der gegenwärtigen Verhältnisse in dem Teil, in dem diese Verfassung gilt, unterstreichen und jedes Gespräch über Veränderungen hinfort nur auf das lenken, was nach dem Willen der SED in der Bundeserpublik Deutschland geändert werden müsse.