Rede von
Dr.
Richard
Jaeger
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Tatsache, daß der Verteidigungsminister ebenso wie der Außenminister in dieser zweitägigen Diskussion gesprochen haben, zeigt die enge Verzahnung, die zwischen ,der Verteidigungspolitik und der Außenpolitik besteht, einer Außenpolitik, die, so kann man vielleicht sagen, auf Entspannung hin ausgerichtet ist, und einer Verteidigungspolitik, die auf dem Prinzip der Sicherheit beruht. Nur derjenige, der sich nicht die Mühe gemacht hat, die Problematik unserer Zeit zu Ende zu denken, kann der Auffassung sein, daß es sich hier um einen Widerspruch handelt; und nur derjenige, der die Augen vor der Wirklichkeit verschließt, kann die Äußerung des Bundesfinanzministers kritisieren, in der Entspannung sei bisher nur Atmosphäre sichtbar geworden. Ja, es gibt Punkte in der Welt — wie Berlin —, wo ich sogar bezweifle, ob auch nur atmosphärisch eine Entspannung sichtbar geworden ist.
Wir müssen uns bei der Entspannung darüber klarsein, daß es sich um ein Ziel der Politik handelt, ein Zwischenziel übrigens, denn das eigentlich Ziel aller Außenpolitik muß reine Friedensordnung sein, die man in Tat und Wahrheit als ein Werk der Gerechtigkeit bezeichnen kann.
Aber als ein Zwischenspiel kann und muß man die Entspannung bezeichnen. Sie aber heute schon als Faktum zu nehmen, das würde einfach der Wirklichkeit in Berlin, in Vietnam, in Nahost und an allen möglichen Stellen der Welt nicht entsprechen.
Ich kann mich auf die Worte beziehen, die kein geringerer als der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des amerikanischen Repräsentantenhauses, der Kongreßmann Rivers, in Brüssel — einem Ort, gegen den Herr Kollege Borm hoffentlich keine Einwendungen hat — auf der Konferenz der Parlamentarier der NATO-Staaten, nunmehr Nordatlantische Versammlung genannt, gesprochen hat. Dort hat er gesagt, er sei am Tage vorher in Berlin an der Mauer gestanden, und seither wisse er, was er von Entspannung als Tatsache zu halten habe. Ich könnte demgegenüber aber auch die andere Seite zitieren: Die Sowjetunion begründet die Erhöhung ihres Verteidigungshaushalts mit der Verstärkung der internationalen Spannungen. Demgemäß wird auch dort, und zwar öffentlich, Entspannung keineswegs als Tatsache hingestellt.
Das ändert gar nichts an der Sache, daß es sich bei der Entspannungspolitik um eine Politik handelt, die selbst so gegensätzliche Bundesgenossen wie die Amerikaner und die Franzosen in gleicher Weise betreiben und der auch wir uns mit guten Gründen angeschlossen haben. Es ist aber eben, um es genau zu sagen, keine Politik der Entspannung, sondern eine
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Dezember 1967 7239
Dr. Jaeger
Politik auf Entspannung hin. Es darf also keine Politik des „als ob" sein, denn Verteidigung, meine Damen und Herren, kann sich nicht an Wünschen und Hoffnungen orientieren, sondern einfach an den Fakten.
Es ist für die Planung sowohl unserer Bundeswehr als auch des gesamten NATO-Bündnisses nicht die diplomatische Atmosphäre maßgebend, sondern allein das Zahlenwerk des Militärpotentials der möglicherweise gegnerischen Seite. Herr Kollege Dr. Zimmermann hat bereits gestern darauf hingewiesen, daß das militärische Potential des Warschauer Paktes noch nie so groß war, wie es heute ist. Wir haben eine Steigerung des sowjetischen Verteidigungshaushalts für 1968 um 15 %. Das ist mehr als in den letzten drei Jahren zusammen. Dabei handelt es sich nur um die offenen Zahlen des Verteidigungshaushalts, nicht um diejenigen Zahlen, die in anderen Haushalten untergebracht sind.
Wir wissen auch, daß die Armeen der Satellitenstaaten in diesen Jahren modernisiert worden sind. Wir wissen, daß die Sowjetunion ihre Anstrengungen nicht nur auf atomarem Gebiet vorgenommen hat — auf dem sie ja einiges gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika nachzuholen hat —, sondern auch auf konventionellem Gebiet, wo sie sowieso schon die stärkste Armee der Welt darstellt.
Wir müssen uns außerdem überlegen, daß eine solche Armee wie die russische durchaus nicht nur für einen Krieg in Marsch gesetzt, sondern als ein handfestes Mittel militärischer Bedrohung verwendet werden kann. Auch vor einer solchen Pression muß uns die NATO und in ihrem Rahmen die Bundeswehr schützen. Es wäre — wie der Generalsekretär der NATO, Brosio, auf der gleichen Konferenz in Brüssel mit Recht gesagt hat — töricht, sich auf die guten Absichten der Sowjetunion und ihrer Verbündeten zu verlassen. Es wäre töricht, weil wohl niemand unbedingt und absolut an gute Absichten glaubt. Aber selbst dann, meine Damen und Herren, wenn es jemanden gäbe, der meint, jeder Staatsmann des Ostens sei ein geborener Friedensengel, sollte er sich doch wenigstens daran erinnern, wie einmal über Nacht ein pausbäckiger Friedensengel demontiert worden ist. Denn als Herr Chruschtschow gestürzt wurde, da hat das nicht nur kein westlicher Nachrichtendienst vorher erfahren, da hat es nicht nur keine Zeitung des Westens vorher geschrieben, sondern es wird auch behauptet, daß Herr Chruschtschow in der Frühe des Tages, an dem er mittags ging, es selbst noch nicht gewußt habe. Wenn aber in totalitären Staaten so schnell ein Umschwung in der Führung eintreten kann, dann kann sich das morgen wiederholen, und dann ist es möglich, daß auch — wenn ich so sagen darf — eine rotchinesische Fraktion, eine Richtung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, auf einmal über Nacht die Macht ergreift, eine Fraktion, die den Kalten Krieg verschärft oder gar mit dem Gedanken des Heißen Krieges spielt. Für solche Fälle muß die Rüstung des Westens, an der die Bundeswehr einen unverzichtbaren Anteil stellt, abschreckend und abkühlend auf jeden wirken.
Deshalb glaube ich, daß eine sinnvolle, auf dem Prinzip der Sicherheit beruhende Verteidigungspolitik geradezu die Grundlage aller Entspannungsdiplomatie bildet, damit diese nicht am Ende mit einer großen Enttäuschung endet.
Ferner hat Generalsekretär Brosio vor der Nordatlantischen Versammlung erklärt, daß er sich Entspannung nur auf dem festen Boden der Gemeinsamkeit und einer angemessenen Stärke vorstellen könne. Ich kann aber auch wieder die andere Seite zitieren. Paul Verner, Mitglied des Politbüros der SED, hat am 21. Oktober dieses Jahres in Berlin erklärt:
Die Friedenspolitik der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Staaten und ihre Anstrengungen zur Verstärkung der Verteidigungskraft sind eine untrennbare notwendige Einheit.
Drüben läßt man bei der angeblichen Friedenspolitik nicht in den Verteidigungsbemühungen nach, sondern verstärkt sie mehr als in den letzten drei Jahren zusammen. Wir werden in unserer Entspannungspolitik auch nicht übersehen dürfen, daß uns die Sicherheit nur dann gewährleistet ist, wenn wir in der Verteidigungsanstrengung nicht nachlassen.
Wir müssen die Chance außenpolitisch groß halten durch eine ideenreiche Politik der Entspannung und das Risiko möglichst klein halten durch eine kräftige Verteidigungspolitik im Rahmen des Bündnisses. Nun wird immer wieder — es ist auch heute geschehen — der Gedanke eines europäischen Sicherheitssystems in die Debatte geworfen. Wer wird nicht solchen Überlegungen gegenüber offen sein? Aber, meine Damen und Herren, ich mißtraue einem jeden europäischen Sicherheitssystem, in dem kein Platz für die Vereinigten Staaten von Amerika ist.
Denn ohne den Rückhalt der Vereinigten Staaten könnten die Europäer selbst dann, wenn sie sich entschließen sollten — was derzeit ja nicht möglich ist —, sich zu einem europäischen Bündnis enger Art zusammenzuschließen, auch nicht allein standhalten.
Die Erfahrungen der Geschichte zeigen uns: Das beste Sicherheitssystem ist und bleibt ein Bündnis, das mindestens so stark ist wie die Summe seiner möglichen Gegner. Ich bitte Sie, doch zu beachten, daß das derzeitige Sicherheitssystem — die NATO — seit fast 20 Jahren funktioniert und uns im westlichen Europa einschließlich der vorgeschobenen Stadt Berlin den Frieden, die Sicherheit und die Freiheit erhalten hat.
Natürlich beruht dieses Sicherheitssystem auf der Furcht, die die Machtblöcke voreinander haben. Natürlich wäre es schöner, ein Sicherheitssystem würde auf Vertrauen gegründet sein. Aber, meine
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Dr. Jaeger
Damen und Herren, Vertrauen können Sie nicht zaubern und nicht durch Institutionen herbeizwingen. Jedenfalls, eine höhere Sicherheit, als die NATO in den letzten 20 Jahren Europa gegeben hat, kann auch ein anderes Sicherheitssystem nicht bieten, ganz abgesehen davon, daß dieses im Augenblick nicht im Blickfeld liegt.
Deshalb ist der Atlantikpakt und die Organisation, die auf ihm aufgebaut ist, lebensnotwendig für Europa im ganzen wie für Deutschland im besonderen.
Hier ist von dem Jahr 1969 gesprochen worden. Es wird von vielen Seiten gefordert, man solle die NATO reformieren. Nun, wer die NATO reformieren will — im Inland und vor allem im Ausland —, der soll dazu Vorschläge machen. Wir Deutsche werden allen Vorschlägen offen sein, insbesondere auch solchen, die der Tatsache Rechnung tragen, daß Europa in den vergangenen zehn Jahren wesentlich erstarkt ist. Wir sind auch offen für die Idee, die der Präsident dieses Hohen Hauses einmal in einer Rede in Tokio dargelegt hat, daß die NATO kein Kreis mehr sei mit einem Mittelpunkt, sondern eine Ellipse mit zwei Mittelpunkten.
Aber, meine Damen und Herren, dann muß man natürlich auch bereit sein, den zweiten Mittelpunkt zu schaffen,
um dieses Europa auch verteidigungspolitisch enger zusammenzuschließen.
An uns, am Deutschen Bundestag, wird das ganz gewiß nicht scheitern.
Der Generalsekretär der NATO, den ich schon zweimal zitiert habe, hat in seiner beachtlichen Rede in Brüssel auch von dem Plan der Sowjetunion gesprochen, daß man ab 1969 die NATO und den Warschauer Pakt sozusagen auf Gegenseitigkeit auflöse, um damit .die Blockbildung zu vermindern, ohne das Gleichgewicht zu verändern. Meine Damen und Herren, ich halte dies für einen höchst gefährlichen Plan, wenn man nicht etwas anderes an die Stelle der NATO setzt, was ebenso wirksam ist. So etwas ist — jedenfalls im Augenblick — nicht zu sehen. Der Osten hat ein System von Staaten, die längst durch eine Vielzahl zweiseitiger Abkommen aneinander gebunden sind, die auf der Grundlage — trotz allem — vieler gemeinsamer Interessen und sicherlich einer gemeinsamen Weltanschauung, vor allem aber auf der gemeinsamen Organisation der kommunistischen Internationale beruhen. Für den Osten ist der Warschauer Pakt nur ein äußeres Dach. Für uns im Westen aber stellt die NATO überhaupt die Möglichkeit dar, die Vielzahl nationaler Interessen — leider meistens auch noch in aller Öffentlichkeit — auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, nachdem man sich kräftig die Meinung gesagt hat. Wenn wir auf dieses Clearing House, wenn wir auf dieses Bündnis, wenn wir auf diese Möglichkeit gemeinsamer Beratung und Beschlußfassung verzichten, wüßte ich nicht, wie die Einheit der westlichen Welt überhaupt garantiert werden sollte.
In diesem Bündnis der NATO liegt unsere Verteidigungspolitik, und jeder, der den Vorwurf erhebt, in Deutschland werde keine neue Konzeption der Bundeswehr entwickelt, sollte sich zuerst einmal die Tatsache vor Augen halten, daß jede Konzeption der Bundeswehr nur eine Teilkonzeption der NATO, unserer gemeinsamen Verteidigungsanstrengungen sein kann und nach unserer Vorstellung auch sein soll.
Der Auftrag, den die NATO der Bundeswehr gegeben hat, ist der gleiche, auch nach der Ministerweisung vom 9. Mai 1967, und die flexible response ist zwar jetzt erst offiziell zur Doktrin der NATO gemacht worden, aber sie war es praktisch doch schon lange. Daß die Bundeswehr auf dem Prinzip der massiven Vergeltung aufgebaut worden sei — wie Herr Kollege Ollesch gestern behauptet hat —, stimmt gar nicht. Sie können in den Lebenserinnerungen unseres Kollegen von Eckardt nachlesen, wie er von Konrad Adenauer nach Amerika geschickt wurde, um den Radford-Plan kaputtzumachen, einen Plan, der die Verteidigung allein atomar vorsah und konventionell nur einen Stolperdraht. Hätten wir in Deutschland nur einen Stolperdraht errichtet, dann hätten wir nicht zwölf Divisionen gebraucht, sondern nur zwölf Brigaden oder zwölf Regimenter.
Nein, de facto war schon seit langem die abgestufte Abschreckung das Prinzip, auf dem die NATO im allgemeinen und der deutsche Verteidigungsauftrag im besonderen beruhte. Er ist, wie ich sagte, der alte Auftrag: die Erhaltung und die Wiederherstellung der Integrität des NATO-Territoriums. Wenn ich aber diesen Auftrag habe und wenn ich mit einer Bedrohung rechnen muß, die nicht geringer, sondern stärker geworden ist, dann ist es allerdings sehr bedenklich, wenn man allzusehr den Rotstift ansetzt. Es wäre vor allem eine weltfremde Romantik, anzunehmen, man könne mehr Sicherheit für weniger Geld und weniger Menschen haben; vor allem dann, wenn man gleichzeitig verkündet, daß man auf alle atomaren Waffen, die einigermaßen einen Ersatz für Geld und Menschen darstellen können — wenn auch nur bis zu einem gewissen Grade —, auch noch verzichten will.
Ich halte es auch für falsch, wenn man — hoffentlich nur außerhalb dieses Hauses — immer wieder die Behauptung aufstellt, unsere Bundeswehr sei veraltet. Meine Damen und Herren, sie ist doch eine Armee, die gerade erst aufgebaut ist, ja, deren Aufbau noch nicht in allen Punkten zu Ende gekommen ist. Weshalb sollte sie, die, wie Sie wissen, den modernsten Panzer der westlichen Welt, wenn nicht der Welt überhaupt, besitzt — weshalb sollte ausgerechnet sie veraltet sein? Wir dürfen schon um unserer Soldaten willen, aber auch um unserer Glaubwürdigkeit in der Welt willen, unsere Streitkräfte nicht ständig vermiesen. Wir sollten uns klar sein, daß wir in diesen zwölf Jahren des Auf-
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Dr. Jaeger
baus der Bundeswehr ein Kapitel hinter uns gebracht haben, daß — ich glaube, so wird einmal der Historiker urteilen — die größte Friedensleistung ist, die deutsche Soldaten je vollbracht haben,
den Aufbau nämlich aus dem Nichts. Das hat es in unserer Militärgeschichte noch nicht gegeben, auch nicht zu den Zeiten eines Scharnhorst, die in manchem eine Parallele zu unserer Zeit darstellen, vor allem wegen der Ideen .der Reform. Überall war schon eine Armee vorhanden; nur diesmal mußte man vom Nullpunkt an aufbauen. Ich glaube, für diese Leistung können wir allen Offizieren, Unteroffizieren und Mannschaften der Bundeswehr auch hier unseren besonderen Dank sagen.
Nun leiden wir Deutsche alle miteinander ganz zweifellos an der Krankheit des Perfektionswahns. Wir glauben, alles muß gleich, sofort, hundertprozentig in Ordnung sein, und nehmen nicht zur Kenntnis, was den Romanen selbstverständlich ist: daß alles menschliche Werk eben unvollkommen ist und bleibt. Aber auch von dieser allgemeinen Betrachtung abgesehen: Wie sollte unsere Bundeswehr vollkommener sein als unser junger Staat und unsere Gesellschaft?
Wie sollte für die Bundeswehr das Problem der Tradition gelöst sein, wenn es für unseren Staat nicht gelöst ist?
Die Bundeswehr ist ein Teil unseres Staates und
ein Teil unserer Gesellschaft; sie kann deshalb nicht
besser sein als unser Staat und unsere Gesellschaft.
Wir werden uns in den kommenden Jahren und Jahrzehnten eben gemeinsam und einheitlich darum zu bemühen haben, die Bundeswehr wie den Staat und die Gesellschaft auf der Grundlage, die wir geschaffen haben, weiterzuentwickeln und zu vervollkommnen.
Nun ist ja — um auf den Auftrag 'der Bundeswehr zurückzukommen — am 9. Mai in der Ministeranweisung in Luxemburg festgelegt worden, daß die konventionellen Waffen verstärkt werden sollen — verstärkt und nicht abgebaut. In diesem Zusammenhang hat der Oberbefehlshaber Europa, General Lemnitzer, auf der Konferenz der Nordatlantischen Versammlung in Brüssel ausdrücklich darauf hingewiesen, daß er einen achtzehnmonatigen Wehrdienst für das mindeste in der jetzigen Zeit hält. Ich glaube, meine Damen und Herren, wenn wir Deutschen damit anfangen würden, davon abzugehen, würden wir eine Kettenreaktion auslösen, ganz abgesehen davon, daß man ja vielleicht auch darüber nachdenken kann, warum wohl die Amerikaner eine zweijährige und die Russen gar eine noch längere Dienstzeit haben. Nicht, daß wir die Zeit von achtzehn Monaten erhöhen wollten —, dazu ist, glaube ich, bei uns nun auch wieder kein Anlaß; aber es heißt doch, daß wir zumindest für
die nächsten Jahre an eine Verminderung der Dienstzeit wie der Streitkräfte nicht herangehen können.
In der Diskussion ist in besonderer Weise immer wieder der Gedanke der Arbeitsteilung hochgekommen, der Gedanke, man 'solle auf die Trägerwaffen verzichten, und ein Redner hat sogar die Frage des Mitbesitzes damit vermischt. Nein, meine Damen und Herren, wir haben keinen Mitbesitz an Atomwaffen, und die Bundesregierung und dieses Hohe Haus haben immer wieder betont, daß wir auch keine nationale Verfügungsgewalt darüber anstreben. Aber unsere Beteiligung an den Trägerwaffen, an den Raketen ist einfach die Voraussetzung, um den Verteidigungsauftrag der Bundeswehr zu erfüllen.
Ich habe schon vor beinahe zehn Jahren in diesem Hohen Hause gesagt, daß man es nur dann verantworten kann, deutsche Soldaten zu den Waffen zu rufen, wenn sie dieselben Waffen haben wie die Verbündeten und wie der mögliche Gegner.
Wenn die amerikanischen und britischen Divisionen Atomwaffen haben und die deutschen diese Träger nicht haben, dann ist doch ganz klar, daß im Falle des Falles der Gegner dort einbricht, wo deutsche Soldaten stehen.
Die Direktive vom 9. Mai, über die ich hier spreche, hat nun auch einen Punkt, den man mit einer gewissen Vorsicht betrachten muß. Es ist die Behauptung, daß man mit großer Wahrscheinlichkeit, wenn nicht beinahe mit Sicherheit mit einer Vorwarnzeit, und zwar einer politischen wie einer militärschen Vorwarnzeit, rechnen könne; demgemäß sei vielleicht die Präsenz nicht mehr so notwendig wie früher, denn man sei vorher gewarnt und könne mobilisieren. Ich will all die Argumente, die dagegen sprechen — und es wären sehr viele —, hier nicht anführen, sondern will Sie nur auf eines hinweisen: Im Nahen Osten hatten wir in diesem Sommer eine politische und eine militärische Vorwarnzeit, und trotzdem war ein Überraschungsangriff möglich. Ich glaube, diese Tatsache sollten wir uns auch einmal für Europa vor Augen halten, wenn etwa Truppen des Ostens aus dem Manöver heraus einen Überraschungsangriff starten würden.
Ich habe aus der Rede eines Herrn der Freien Demokraten gestern herausgehört — ich glaubte, es jedenfalls herauszuhören —, daß er einen Überraschungsangriff überhaupt nicht mehr für möglich halte. Meine Damen und Herren, die Möglichkeit des Überraschungsangriffs ausschließen heißt doch den Osten zu diesem Angriff einladen. Denn wenn wir hier über das Kriegsbild sprechen, dann kann ich die Frage, welches das wahrscheinlichste ist, immer dahin beantworten: am wahrscheinlichsten ist das Kriegsbild, von dem wir im Deutschen Bundestag behaupten, daß es gerade dies nicht gebe.
Sollte die Sowjetunion sich jemals zum Kriege entschließen, wird sie bestimmt kein atomares Risiko
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Dr. Jaeger
eingehen, aber auch dem Westen keine Gelegenheit zum Aufmarsch geben, sondern ihre konventionelle Überlegenheit plötzlich und überraschend einsetzen, um Faustpfänder zu gewinnen.
Im übrigen bitte ich Sie noch zu bedenken: Wenn die NATO von einem begrenzten Krieg spricht, dann kann das durchaus ein Krieg sein, der nach den Maßstäben des ersten und des zweiten Weltkrieges für uns Deutsche ein totaler Krieg wäre.
Denn was heißt regionaler Krieg? — Das ist ja auch gestern hier erwähnt worden. — Region heißt in der NATO der Abschnitt eines Kommandobereichs. Europa-Mitte ist ein Kommandobereich, und er reicht von Lübeck bis Passau, die gesamte Grenze des Bundesgebietes entlang. Ein regionaler Krieg mag für die NATO ein begrenzter Krieg sein. Für uns ist er, selbst wenn er nur mit konventionellen Waffen geführt wird, ein Krieg, der uns in der Substanz, der uns völlig trifft.
Deshalb, glaube ich, meine Damen und Herren, dürfen wir in unseren Verteidigungsbemühungen im Westen, in Europa und in der NATO nicht nachlassen. Denn wenn wir nachließen, dann würde das Leben in Europa im allgemeinen und in Deutschland im besonderen erheblich gefährlicher werden, vielleicht bequemer, vielleicht billiger, aber ich muß sagen: Lieber etwas unbequemer und lieber mit Opfern, aber dann mit jenem Grad der Sicherheit, den wir in vergangenen Jahrzehnten gehabt haben.
Es geht einfach darum: Sind wir noch bereit, den Preis der Freiheit zu zahlen, zu zahlen im Opfer unserer jungen Männer, zu zahlen mit unseren Steuern, zu zahlen auch gelegentlich mit Einschränkungen unserer Wirtschaft? Sind wir bereit, diesen Preis zu zahlen? Die Antwort darauf, ob der Westen, Europa und Deutschland bereit sind, diesen Preis zu zahlen, entscheidet über unser aller Schicksal in den 70er Jahren.