Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich zunächst für die freundlichen Worte herzlich bedanken, die ich anläßlich meiner Rückkehr in dieses Hohe Haus habe hören dürfen.
Ich habe heute die Ehre, dein Hohen Hause die erste Regierungserklärung der im Dezember vergangenen Jahres gebildeten Regierung der Großen Koalition zur Verteidigungspolitik bekanntzugeben. Diese Regierungserklärung behandelt die mit unserer Sicherheit und unseren Verteidigungsanstrengungen zusammenhängenden Fragen in einer Gesamtschau. Nach meiner Kenntnis ist dies bislang im Deutschen Bundestag in einer umfassenden und zusammenhängenden Weise noch nicht geschehen. Natürlich sind viele wichtige, ja entscheidende Einzelkomplexe intensiv behandelt worden.
Ich darf auf folgendes hinweisen: Es ist gesagt worden, daß ,die Anfragen, die den Gegenstand der heutigen Beantwortung bilden, erst im Juli gestellt worden sind, also mehr oder weniger doch in den Ferien, nämlich am 10. Juli, am 17. Juli und am 24. Juli. Es 'ist ferner gesagt worden, daß man schon vorher, etwa im Mai, die Absicht gehabt habe, über Fragen der Verteidigungspolitik zu diskutieren. Das hätte geschehen können, wenn man das tatsächlich gewollt hätte. Ich finde es also nicht richtig, die Verschiebung dieser Debatte auf den Dezember etwa als einen Vorwurf an die Regierung darstellen zu wollen. Ich 'glaube, die Regierung wäre in der Lage gewesen — jedenfalls nach meiner Meinung muß sie in der Lage sein —, sich in jedem Stadium des Verfahrens zu den an sie gerichteten Fragen zu äußern. Das mag sein, wie es will.
Die heutige Regierungserklärung geht auf die genannte Initiative zurück. Die Fragen sind unter dem Eindruck der mittelfristigen Finanzplanung und angesichts vielschichtiger und 'internationaler Entwicklungen gestellt worden. Es bestand sehr wohl der Wunsch und die Notwendigkeit, Auskunft über unsere zukünftige Verteidigungspolitik und die Gewährleistung unserer Sicherheit zu erhalten. In diesen drei Anfragen sind nun 29 Einzelfragen aufgeworfen. Die Regierungserklärung behandelt die in diesen Einzelfragen aufgeworfenen Probleme und stellt gleichzeitig den Umriß der zukünftigen Struktur der Bundeswehr dar. Sie stellt unsere Verteidigungspolitik in den Zusammenhang, in den sie gehört, nämlich in unsere Sicherheits- und Außenpolitik. Es sind nur ein paar Fälle, die aus Gründen der Geheimhaltung nicht zu einer Beantwortung der Fragen hier führen. Das sind die Fragen 10, 11 und 12 der FDP-Liste. Ich habe diese Fragen gegenüber Vertretern der FDP-Fraktion unmittelbar beantwortet und bin natürlich auch bereit, sie im Verteidigungsausschuß zu erörtern.
Lassen Sie mich nun noch ein einleitendes Wort zu dem sagen, was nach meinem Wissen draußen im Land hinsichtlich unserer Verteidigung gedacht und empfunden wird. Es gibt da Äußerungen der Resignation — Äußerungen etwa der Art, unsere Bundeswehr habe keinen Sinn, wir könnten im Ernstfall doch nichts unternehmen. Ich glaube aber nicht, daß diese Stimmen repräsentativ sind. Aus den vielen Zuschriften, aus meinen Gesprächen und aus Befragungen wird vielmehr deutlich erkennbar, daß die Bevölkerung ungeachtet der großen Schwierigkeiten, denen wir uns in finanzieller Hinsicht und in außenpolitischer Beziehung gegenübersehen, ja, vielleicht gerade wegen dieser Schwierigkeiten, die Notwendigkeit fortlaufender eigener Verteidigungsanstrengungen im Rahmen des Bündnisses eindeutig bejaht. Die Erhaltung einer modernen und qualitativ erstklassigen Bundeswehr wird für richtig und erforderlich angesehen. Das ist nicht nur die Meinung der Wähler, sondern auch die der heranwachsenden Generation, der oft kritisierten Studenten, die sich nach einer Repräsentativumfrage erst kürzlich zu 75 % dahin ausgesprochen haben, daß die Bundeswehr notwendig ist.
Ich komme nun in Beantwortung der drei Fragen zunächst auf die Ziele der deutschen Sicherheitspolitik zu sprechen. Die deutsche Verteidigungspolitik ist vornehmlich auf die sicherheitspolitische Lage in Europa bezogen; sie muß aber auch die gesamtstrategische Situation in ihre Überlegungen mit einbeziehen. Seitdem die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion über interkontinental verwendbare nukleare Waffensysteme verfügen, mit denen sie sich gegenseitig schwersten Schaden zufügen können, ist das Muster der Machtstruktur, das der Weltpolitik zugrunde liegt, nicht entscheidend verändert worden. Solange eine ausgewogene nukleare Abrüstung nicht verwirklicht werden kann, sind das nukleare Patt und die Überlegenheit der Vereinigten Staaten auf nuklearem Gebiet wesentlich für die Erhaltung des Weltfriedens.
Andererseits kann die nukleare Pattsituation lokale Konflikte und Aggressionen nicht verhindern. Die nukleare Überlegenheit der Vereinigten Staaten im strategischen Bereich ist keine ausreichende Abschreckung für alle Formen der Aggression. Die Weltmächte können ihre nukleare Macht nicht mehr ohne weiteres in politische Kontrolle oder diplomatischen Einfluß umsetzen.
Ein weiterer komplizierender Faktor ist der Aufbau des. nuklearen Potentials der Volksrepublik China, das im strategischen Kalkül der Mächte vermehrt an Bedeutung gewinnt. Es hat die Vereinigten Staaten veranlaßt, auf ihrem Territorium Abwehrraketensysteme zu errichten, deren Schutzeffekt nach dem heutigen technischen Stand zunächst vor allem gegenüber chinesischen Raketen gegeben sein dürfte.
Die strategische Gesamtlage spiegelt sich in der unmittelbaren Konfrontation der beiden Weltmächte und der großen Militär-Allianzen auf deutschem Boden wider.
Unsere Lage im Zentrum der Ost-West-Auseinandersetzung um Europa hat die außenpolitische Gesamtvorstellung der deutschen Regierung bestimmt. Sie gründet sich auf den Willen zur Verständigung zwischen den Völkern und die Verantwortung für
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den Frieden in diesem Teil der Welt. Das Ziel der deutschen Außenpolitik ist eine Friedensordnung Europas, die allen europäischen Staaten ausreichende Stabilität sichert und eine gerechte und dauerhafte Lösung der deutschen Frage vorsieht. Die deutsche Regierung weiß, daß sich nur in einer Periode der Entspannung der Weg für eine solche europäische Friedensregelung bereiten läßt.
Bis eine gerechte europäische Friedensordnung geschaffen ist, kann die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland nur durch ein politisch geschlossenes und militärisch starkes Nordatlantisches Bündnis gewährleistet werden. Ohne den festen Rückhalt in der Allianz können wir keine Politik der Entspannung treiben. Ohne Entspannung des Ost-West-Verhältnisses läßt sich unser politisches Ziel — die Schaffung einer europäischen Friedensordnung und eine gerechte und dauerhafte Lösung der deutschen Frage — nicht verwirklichen.
Aus dieser. außenpolitischen Gesamtvorstellung der deutschen Regierung folgt für die deutsche Sicherheitspolitik eine doppelte Zielsetzung:
Erstens. Die deutsche Regierung wird auch künftig in Übereinstimmung mit den Verpflichtungen, die sie gegenüber der Nordatlantischen Allianz übernommen hat, einen militärisch wirksamen und ihren Möglichkeiten angemessenen Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung leisten.
Zweitens. Die deutsche Regierung strebt an, im Zusammenwirken mit ihren Verbündeten zu Ost-West-Absprachen und Vereinbarungen über Entspannungsmaßnahmen und insbesondere auch über Rüstungskontrollmaßnahmen zu gelangen. Sie tritt dafür ein, durch eine ausgewogene Verminderung der Streitkräfte beiderseits der Demarkationslinie zur Sicherheit Europas und damit zum Frieden in der Welt beizutragen.
Beide Ziele deutscher Sicherheitspolitik — die Wahrung unserer Sicherheit im Zusammenwirken mit unseren Partnern im Nordatlantischen Bündnis und eine aktive Rüstungskontrollpolitik — sind nur erreichbar, wenn das bestehende militärische Kräfteverhältnis nicht zum Nachteil des Westens verändert wird. Die Verbündeten, und mit ihnen die deutsche Regierung, handelten unverantwortlich, wenn sie ohne Gegenleistung die Kampfkraft ihrer Streitkräfte verringerten. Die deutsche Regierung würde damit nicht nur ihrer Sicherheitspolitik, sondern auch ihrer Entspannungspolitik die Grundlage entziehen.
Der Wunsch der deutschen Regierung, unsere Verpflichtungen gegenüber der NATO zu erfüllen, und unser Bestreben, das militärische Kräfteverhältnis nicht einseitig zum Nachteil des Westens zu verändern, bestimmt auch die Haltung der deutschen Regierung in der Frage der Ausstattung der Bundeswehr mit Trägermitteln für nukleare Waffen.
Die deutsche Regierung ist entschlossen, Schritte zu unternehmen und Vorschläge zu unterstützen, die zu einer militärisch ausgewogenen Rüstungsverminderung auf nuklearem und konventionellem Gebiet beitragen können. Sie ist jedoch überzeugt, daß einseitige Vorleistungen eine aktive Rüstungskontrollpolitik erschweren und nicht erleichtern würden.
Hierbei muß daran erinnert werden, daß die im anderen Teil Deutschlands massierten Streitkräfte der Sowjetunion und der Nationalen Volksarmee ebenso wie die Streitkräfte Polens und der Tschechoslowakei mit Trägermitteln für nukleare Waffen ausgestattet sind.
Die deutsche Regierung ist der Auffassung, daß die geradlinige und beharrliche Verfolgung einer Politik der Solidarität mit den Verbündeten und der Bereitschaft zur Rüstungsbegrenzung im Ost-West-Verhältnis unsere Sicherheit gewährleistet und zugleich aber auch der östlichen Hälfte Europas den Friedens- und Verständigungswillen der deutschen Regierung deutlich vor Augen führt. Die deutsche Regierung ist, wie sie schon öfters erklärt hat, bereit, ihren Verzicht auf Androhung oder Anwendung von Gewalt zur Lösung strittiger Fragen auch gegenüber den Staaten im Osten förmlich zu bekräftigen, und zwar in einer Form, die keinen Zweifel läßt, daß der Gewaltverzicht ebenso gegenüber dem anderen Teil Deutschlands und für das offene Problem der Wiedervereinigung gilt.
Ich komme nun zu Grundlagen der deutschen Verteidigungspolitik. Aus der außenpolitischen Konzeption der deutschen Regierung folgt, daß ihre Verteidigungspolitik einen rein defensiven Charakter trägt und daß daher das Maß ihrer Verteidigungsanstrengungen vom Verhalten und dem militärischen Potential des möglichen Gegners abhängig ist. Aus diesem Grunde stellt sich für die deutsche Verteidigungspolitik immer wieder die Frage nach der Stärke der Bedrohung. Die deutsche Verteidigungspolitik muß von der Tatsache ausgehen, daß im anderen Teil Deutschlands unvermindert starke sowjetische Streitkräfte massiert sind und daß das militärische Potential, das die Sowjetunion und ihre Verbündeten Westeuropa gegenüber konzentriert haben, niemals größer und schlagkräftiger war als heute. Im Warschauer Pakt dominiert im militärischen Bereich die Sowjetunion. Sie bestimmt die Strategie und ist zugleich mit ihrem überragenden Wehrpotential der stärkste Staat des Warschauer Pakts. Alle entscheidenden militärischen Führungspositionen sind im Besitz der Sowjetunion, die Umfang, Gliederung, Bewaffnung, Logistik und Ausbildung aller Streitkräfte des Warschauer Pakts und deren Aufgaben entscheidend beeinflußt.
Die jährlich steigenden Militärausgaben lassen .erkennen, daß die Sowjetunion und ihre Verbündeten ihre Wehrkraft weiter zu stärken beabsichtigen. Für ihre Verteidigung wendet die Sowjetunion einen größeren Prozentsatz ihres Bruttosozialprodukts auf als die Vereinigten Staaten
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und einen wesentlich größeren Prozentsatz als die Bundesrepublik Deutschland. Die Masse der sowjetischen Streitkräfte ist nach wir vor im anderen Teil Deutschlands, in Polen, Ungarn und der westlichen Sowjetunion stationiert. Das wachsende Engagement der Sowjetunion im Mittelmeer kündet eine zusätzliche Machtkonzentration gegenüber dem europäischen NATO-Gebiet an. Das Streben der Sowjetunion, ihre militärische Handlungsfähigkeit zu erweitern, findet auch in der Errichtung eines Raketenabwehrsystems, eines Nuklearen Orbitalen Waffensystem und in der Wandlung des seestrategischen Denkens seinen Ausdruck. Diese neue Seestrategie hat einen Ausbau des maritimen Potentials zur Folge.
Die Staaten des Warschauer Pakts sind im Besitz eines militärischen Instruments, mit welchem sie in der Lage wären, Angriffsoperationen jeder Art und Größenordnung durchzuführen. An dieser Tatsache kann man nicht vorbeigehen, auch wenn die deutsche Regierung, ebenso wie ihre Verbündeten, annimmt, daß die Mächte des Warschauer Pakts zur Zeit keine Angriffsabsichten gegenüber der NATO haben. Niemand kann jedoch übersehen, daß das vorhandene Machtinstrumentarium des Warschauer Pakts zum Zwecke der politischen Pression benutzt werden könnte.
Die Verteidigungsplanung muß ferner davon ausgehen, daß ein allgemeiner nuklearer Krieg solange unwahrscheinlich ist, wie die beiden Weltmächte selbst nach einem atomaren Überraschungsangriff im Gegenschlag den Angreifer zu treffen vermögen. Dagegen können nicht als ebenso unwahrscheinlich Kriege bezeichnet werden, die nach politischer Zielstrebung, Raum oder eingesetzten Kräften begrenzt sind. Ein begrenzter Krieg kann in seinen Erscheinungsformen von örtlichen Kampfhandlungen über begrenzte Angriffe stärkerer Kräfte bis zum umfassenden konventionellen Angriff reichen. Auch ein solcher begrenzter Krieg würde für die Bundesrepublik Deutschland schwerwiegende Folgen haben. Zusammen mit unseren Verbündeten wird jedoch die Bundesrepublik Deutschland in der Lage sein, gegen eine solche Form des Angriffs eine erfolgversprechende Verteidigung und einen wirksamen Schutz der Bevölkerung zu gewährleisten.
Ich komme zur Strategie der Nordatlantischen Allianz. Die Strategie des Bündnisses muß sich an der langfristigen Zielsetzung und der Leistungsfähigkeit der Streitkräfte möglicher Gegner orientieren und nicht an den im Augenblick erkennbaren Absichten. Die deutschen Auffassungen über Bedrohung und die Wahrscheinlichkeit der verschiedenen Formen eines Krieges decken sich weitgehend mit denen unserer NATO-Partner. Sie fanden ihren Niederschlag in der Ministerweisung an die NATO-Militärbehörden, die von den Verteidigungsministern der NATO am 9. Mai 1967 verabschiedet wurde und Richtlinien für die Strategie der NATO enthält. Ihr Ziel ist es, Frieden und Sicherheit durch glaubwürdige Abschreckung zu gewährleisten und im Falle einer Aggression die Integrität und Sicherheit des NATO-Gebietes zu erhalten oder wiederherzustellen.
Voraussetzung für eine lückenlose und glaubhafte Abschreckung sind der klare Wille und die erkennbare Fähigkeit des Verteidigers zu wirkungsvoller Verteidigung gegenüber allen Formen einer Aggression. So soll es dem Gegner unmöglich gemacht werden, die Reaktion der NATO vorherzusagen und sein Risiko zu kalkulieren. Der Gegner muß mit der Möglichkeit rechnen, daß auch bei einem nur mit konventionellen Waffen geführten Angriff, welcher den Erfolg der eigenen, konventionell geführten Abwehr in Frage stellt, Nuklearwaffen eingesetzt werden.
Flexible Reaktion und das in der Ministerweisung geforderte operative Prinzip der Vorneverteidigung verlangen für die NATO konventionelle Land-, Luft- und Seestreitkräfte sowie strategische und taktische Nuklearstreitkräfte in ausreichender Stärke und Präsenz. Die strategischen Nuklearstreitkräfte der Vereinigten Staaten und Großbritanniens bilden die Grundlagen der Abschreckung. Für die abgestufte Abschreckung ist es jedoch notwendig, daß der Oberste NATO-Befehlshaber in Europa auch über Nuklearwaffen für den taktischen Einsatz verfügt. Einem feindlichen Angriff kann eine Vorwarnzeit vorausgehen, die für politische und militärische Maßnahmen zu nutzen wäre, jedoch ist auch ein Überraschungsangriff nicht auszuschließen. Nur unter diesen Voraussetzungen wird es möglich sein, jeder Art von Aggression durch flexible Reaktion so zu begegnen, daß Aufwand und Risiko des Angreifers in keinem vertretbaren Verhältnis zu seinen Zielen stehen.
Aus den in der Ministerweisung festgelegten Richtlinien für die NATO-Strategie lassen sich für die Streitkräfteplanung der Bundesrepublik Deutschland folgende Forderungen ableiten:
1. Die Bundeswehr muß in Aufbau, Gliederung und Ausrüstung klar die ausschließlich defensive Zielsetzung der Nordatlantischen Allianz und der deutschen Verteidigungspolitik erkennen lassen.
2. Die Bundeswehr muß einen Beitrag zur abgestuften Abschreckung leisten, der auch Trägermittel für atomare Sprengkörper einschließt.
3. Die Streitkräfteplanung der Bundeswehr hat sich vornehmlich nach den Erscheinungsformen eines begrenzten Krieges auszurichten. Die Möglichkeit von Überraschungsangriffen sowie die hohe technische und mobile Ausrüstung des Gegners erfordern ausreichend starke, präsente, einsatzbereite Verbände, eine Verstärkung der konventionellen Feuerkraft, insbesondere zur Panzerabwehr, und eine hohe Beweglichkeit.
4. Die Streitkräfte müssen in der Lage sein, durch intensive Aufklärung in Krisenzeiten und im Krieg die Grundlagen für die Beurteilung und Entschlußfassung der politischen und militärischen Führung zu schaffen.
5. Im Falle einer Aggression haben sie im .Rahmen der gemeinsamen NATO-Verteidigung Umfang und Zielsetzung feindlicher Angriffe festzustellen, Feindangriffe so weit vorn wie möglich aufzufangen, zu zerschlagen oder Zeit zu gewinnen, um die Vor-
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bereitungen zum Zurückwerfen des Angreifers auf seine Ausgangsstellungen zu treffen.
6. Die Kommandostruktur muß in den integrierten Rahmen eingepaßt bleiben und zugleich die Wahrnehmung der Verteidigungsaufgaben gewährleisten, die nationaler Zuständigkeit übergeben sind.
7. Die Möglichkeit einer Vorwarnzeit erlaubt es, sich für Teile der benötigten Streitkräfte auf Mobilmachungsmaßnahmen abzustützen.
8. Der Gegner muß das Risiko eines Angriffes tragen. Im Interesse der Glaubwürdigkeit der Abschreckung muß es unkalkulierbar bleiben.
Ich komme nun zu militärpolitischen und strategischen Einzelproblemen.
Eine deutsche Beteiligung an den taktischen Atomstreitkräften ist notwendig, damit an allen Frontabschnitten, auch an denjenigen, die deutschen Truppen zugewiesen sind, Trägermittel für atomare Sprengkörper vorhanden sind. Sonst wäre die Abschreckung im wahrsten Sinne des Wortes lückenhaft, die Bewaffnung der Abwehrkräfte unterschiedlich und das flexible Reagieren nicht an jedem Ort der Abwehrfront möglich. Die deutschen Streitkräfte müssen bei gleichem Auftrag und im gleichen Operationsgebiet mit gleichen Waffen wie die Truppen der Verbündeten ausgestattet sein.
Durch die Präsenz der amerikanischen Streitkräfte in Deutschland und durch die Einlagerung von Atomwaffen auf deutschem Boden ist sichergestellt, daß im Einsatzfall diesen Trägermitteln zeitgerecht die atomaren Sprengkörper zugeführt werden können.
Eine Arbeitsteilung zwischen den Verbündeten, die es in der Tat auf strategischem Gebiet aus verschiedenen Gründen gibt, ist für das Gefechtsfeld unzweckmäßig und gefährlich.
Die Ausrüstung unserer Streitkräfte mit diesen Trägermitteln steht nicht im Widerspruch zu den friedlichen Absichten und zu der Entspannungspolitik der Bundesrepublik Deutschland.
Das beweisen die von uns selbst übernommenen Beschränkungen. Ich zähle die Beschränkungen auf: Erstens der gegenüber den Vertragspartnern des Brüsseler Vertrags erklärte kontrollierte Verzicht der Bundesrepublik Deutschland, Kernwaffen herzustellen, zweitens der Verzicht auf die nationale Verfügungsgewalt über atomare Sprengkörper und drittens die Unterwerfung aller wissenschaftlichen und industriellen Anlagen, die der friedlichen Nutzung der Kernenergie dienen, unter die Kontrolle von Euratom. Hier möchte ich auch besonders unsere Unterstützung des Prinzips der Nichtverbreitung von nuklearen Waffen, die ebenfalls in diesem Zusammenhang zu sehen ist, hervorheben.
Die gegenwärtig von der Sowjetunion und den USA durch die Installierung von Abwehrraketensystemen begonnene Ausweitung der atomaren Rüstung wird die europäischen NATO-Staaten vor schwerwiegende Probleme stellen. Sie werden untersuchen müssen, welche Auswirkungen diese Systeme auf ihre Sicherheit haben werden. Sie werden sich zu gegebener Zeit entscheiden müssen, ob sie im Interesse des Schutzes ihrer Bevölkerung in Europa ein mit dem Prinzip der Nichtverbreitung von Atomwaffen zu vereinbarendes Abwehrraketensystem installieren wollen. Voraussetzung dafür ist, daß es gelingt, ein Abwehrsystem zu schaffen, das auf kurze Entfernung anfliegende Raketen abfangen kann. Die Errichtung eines Abwehrraketensystems würde hohe finanzielle Leistungen von den europäischen Partnern fordern. Diese Leistungen dürfen nicht zu Lasten der konventionellen Streitkräfte in Europa gehen.
Ich komme zu der bisherigen Planung und zu den Auswirkungen der mittelfristigen Finanzplanung auf die Verteidigungsplanung. Meine Damen und Herren, die Bundeswehr wurde, wie Sie ja alle wissen, seit 1955 nach Plänen aufgestellt, die nur zum Teil für einen längeren Zeitraum ausgelegt waren. Ihre Realisierung wurde durch die nach dem Haushaltsgesetz jeweils für ein Jahr bewilligten Mittel beeinflußt. Der Aufbau von Streitkräften, insbesondere die sich über sieben bis zehn Jahre erstreckende Entwicklung großer Waffensysteme, erfordern aber eine längerfristige Finanzplanung, damit Unausgewogenheiten in der Gesamtstruktur vermieden werden. Solche Unausgewogenheiten wurden in der Vergangenheit nicht nur durch unvorhergesehene finanzielle Einwirkungen verursacht, sondern unter anderem auch durch das unzureichende Aufkommen an längerdienendem Personal.
Zur Verbesserung der Streitkräftestruktur und der Realisierbarkeit der Planung wurde in der Konsolidierungsphase der Bundeswehr im Jahre 1964 ein neues Planungsverfahren unter Einbeziehung wirtschaftswissenschaftlicher und mathematischer Methoden eingeführt. Mit dessen Hilfe hat das Bundesministerium der Verteidigung im Mai 1965 das erste vorläufige Fünfjahresprogramm der Bundeswehr für den Zeitraum 1966 bis 1970 erstellt. Dieses Programm basierte auf den Forderungen der NATO und sah einen Friedensumfang von rund 508 000 Soldaten und 205 000 Zivilbediensteten vor. Der finanzielle Bedarf für diesen Zeitraum wurde vom Bundesministerium der Verteidigung zunächst auf rund 111 Milliarden DM geschätzt. Im Finanzbericht 1966 wurden dafür 98,5 Milliarden DM vorgesehen. Der vom Bundesministerium der Verteidigung für den Fünfjahreszeitraum 1967 bis 1971 errechnete Finanzbedarf betrug rund 113 Milliarden DM, wobei der jährliche Bedarf von 19,9 Milliarden DM im Jahre 1967 auf 23,4 Milliarden DM im Jahre 1971 anstieg. Dabei lag dieses Finanzvolumen noch um 10 °/o niedriger als der Bedarf, den die NATO für die Verwirklichung der gleichen Streitkräfteziele errechnet hatte.
Zweifel an der Realisierbarkeit dieses ersten Programms setzten schon 1965/1966 ein, als die wirtschaftliche Rezession sich auf die Einkünfte des Bundes auszuwirken begann und Eingriffe in die Ausgabenstruktur des Bundes unvermeidbar wurden. Die Haushaltsfestsetzung 1966, die Eingriffe in die Bewirtschaftung der Haushaltsmittel 1966 mit
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der Auflage hoher Minderausgaben sowie die Begrenzung des Personalumfangs auf 460 000 Soldaten und 167 000 zivile Bedienstete führten von einer Periode verlangsamten Wachstums zum Anhalten des Aufbaus der Streitkräfte zu Anfang des Jahres 1967. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Bundeswehr folgenden Aufbaustand erreicht:
Beim Heer waren von den 37 vorgesehenen Brigaden 32 voll und 2 teilweise aufgestellt, in der Luftwaffe 17 der 18 vorgesehenen fliegenden Geschwader sowie 9 Bataillone Hawk und 6 Bataillone Nike mit den notwendigen Unterstützungsverbänden im Bereich der Luftverteidigung, in der Marine 137 der geforderten 209 Kampfschiffe und 125 Kampfflugzeuge, im Bereich außerhalb der Teilstreitkräfte 42 000 von den vorgesehenen 60 000 Soldaten und 17 000 der geplanten 50 000 Soldaten der Heimatschutztruppe.
Durch das Anhalten des Aufbaus sind die Verbände nicht alle in gleicher Weise aufgefüllt, Außerdem blieb die Personalstruktur trotz inzwischen erreichter wesentlicher Verbesserungen mit einem Fehl von 15,2 % Offizieren und 23,1 % Unteroffizieren unbefriedigend.
Neue Überlegungen zur Verbesserung der Struktur der Streitkräfte und für ein realisierbares Fünfjahresprogramm haben Anfang 1967 eingesetzt. Sie wurden nachhaltig durch die Entscheidungen der deutschen Regierung zur mittelfristigen Finanzplanung beeinflußt.
Die mittelfristige Finanzplanung sieht im Rahmen der konjunkturgerechten Haushaltspolitik der deutschen Regierung zusammen mit der Haushaltsbewilligung 1967 für die militärische Verteidigung Mittel vor, die 'erheblich unter dem im Jahre 1965 errechneten Finanzbedarf liegen. Die Absicht, eine Friedensbundeswehr von 508 000 Soldaten und 205 000 zivilen Bediensteten zu unterhalten, mußte aufgegeben werden.
Ich komme nun zur detaillierten Strukturplanung, zunächst zu den Maßnahmen zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit, insbesondere den Sparmaßnahmen.
Auf Grund dieser gerade begründeten Erkenntnis wurden zunächst Untersuchungen angestellt mit dem Ziel, die vorhandenen finanziellen Mittel durch Rationalisierung in höchstem Maße auszunutzen. Es sei hier an die Rede erinnert, die ich anläßlich der zweiten Beratung des Entwurfs des Haushaltsgesetzes 1967 am 13. Juni dieses Jahres gehalten habe. Ich habe damals folgendes gesagt:
Die Rationalisierung des Betriebes der Bundeswehr ist ein sich täglich neu stellendes Problem. Selbstverständlich wird und muß ein Wirtschaftsbetrieb mit einem Umsatz von rund 18 Milliarden DM und einem Personalaufwand von über 600 000 Mann laufend Organisationsprüfungen, Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen und Rationalisierungsmaßnahmen vornehmen. Das tut auch die Bundeswehr seit Jahren.
Diese an sich selbstverständlichen Prüfungen und
Untersuchungen führten bereits zu einer Reihe
von Entscheidungen, deren Ausführung allerdings zum Teil Gesetzesänderungen voraussetzt. Soweit die Regierung diese Gesetzesänderungen schon beschlossen hat, sind sie im Entwurf des Finanzänderungsgesetzes 1967 in Art. 9 enthalten. Das Hohe Haus hat den Entwurf am 27. Oktober 1967 in erster Lesung behandelt und den Ausschüssen zur weiteren Beratung überwiesen. Wenn das Gesetz in der von der Regierung vorgelegten Fassung mit Wirkung vom 1. Januar 1968 verabschiedet wird —wovon ich zunächst einmal ausgehe —, dürfte es 1968 im Verteidigungshaushalt rund 67 Millionen DM Einsparungen erbringen.
Etwa gleich hohe Einsparungen werden im gleichen Jahre von zahlreichen weiteren Maßnahmen erwartet, die der Bundesminister der Verteidigung im Rahmen seiner Zuständigkeit unverzüglich durchzuführen beabsichtigt.
In den nächsten Jahren werden sich noch einschneidendere Einsparungsmaßnahmen in allen Bereichen der Bundeswehr auswirken. Einige dieser Maßnahmen sind bereits veranlaßt worden, andere werden hinsichtlich ihrer Konsequenzen noch untersucht. Sie betreffen nicht nur die Struktur der Streitkräfte, sondern auch deren Betrieb sowie die Infrastruktur und Rüstung.
Ich möchte dafür nur folgende Beispiele aufführen: eine Straffung der Kommandostruktur bei den Landstreitkräften, bei der Luftwaffe und bei der Marine; eine Rationalisierung im Bereich der Ausbildung durch Konzentration; eine Überprüfung der gesamten vorliegenden Infrastrukturvorhaben im Hinblick auf die Strukturänderung der Bundeswehr und unter Berücksichtigung von freiwerdenden Anlagen der Stationierungsstreitkräfte; die Streichung besonderer Bauten für Reservelazarettgruppen, die nunmehr in bestehenden Kasernen untergebracht werden; die Reduzierung der Anzahl der Versorgungsartikel durch Anwendung moderner Bewirtschaftungsverfahren und Ausnutzung der elektronischen Datenverarbeitung.
Das Hohe Haus darf allerdings von diesen Maßnahmen nicht die Lösung der Schwierigkeiten erwarten, die dem Verteidigungsressort durch die mittelfristige Finanzplanung entstanden sind. Die Maßnahmen, die ich geschildert habe, werden im besten Falle einen Beitrag zur Kompensierung der zwangsläufig ständig ansteigenden Betriebskosten leisten können. Rationalisierungs- und Sparmaßnahmen müssen, abgesehen von verfassungs- und haushaltsrechtlichen Bestimmungen, dort ihre Grenze finden, wo ihre Durchführung die Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr herabsetzen und die Fürsorgepflicht des Dienstherrn für seine Soldaten und zivilen Bediensteten beeinträchtigen würde.
Ich darf nun auf gewisse Erkenntnisse aus den Alternativuntersuchungen zu sprechen kommen. Gleichzeitig wurden unter dem Gesichtspunkt der Kostenwirksamkeit Möglichkeiten untersucht, die zu umfangreichen militärischen Forderungen an die knappen finanziellen. und personellen Mittel anzupassen.
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Die anzustrebenden Lösungen wurden von folgenden Faktoren bestimmt:
Die Kosten haben eine steigende Tendenz. Dies gilt sowohl für Personal- als auch für Materialkosten. Allein die Aufwendungen für Personal-Gehälter, Löhne, Versicherungsbeiträge, Versorgungsleistungen für die Soldaten, Fürsorgeleistungen — betragen bereits heute mehr als die Hälfte der Betriebskosten. Darüber hinaus ist auch bei den großen Waffensystemen eine sprunghafte Steigerung der Entwicklungs-, Beschaffungs- und Unterhaltungskosten zu verzeichnen. So kostet z. B. ein Kampfpanzer „Leopard" das Doppelte eines Kampfpanzers M 48, ein Kampfpanzer 70 würde voraussichtlich wiederum das Doppelte des „Leopard" kosten.
Investitionen und Betriebskosten müssen in ein so ausgewogenes Verhältnis gebracht werden, daß ausreichende Mittel für die Modernisierung und für die Erhaltung der Schlagkraft mit kampfentscheidenden Waffensystemen verfügbar bleiben.