Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir zunächst eine persönliche Bemerkung. Wenn in diesem Hause noch Frau Dr. Weber säße, wäre diese Stunde ihre große Stunde. Sie hat im Sozialausschuß des Europarates bei der Ausarbeitung der Sozialcharta drei Vorsitzende erlebt. Sie war das älteste Mitglied dieses Ausschusses nicht nur an Jahren, sondern auch hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit diesem Ausschuß. Als meine Fraktion mich beauftragte, ein paar Sätze zu dem Antrag, der ja ein interfraktioneller Antrag ist, zusprechen, habe ich an dietapfere Frau denken müssen, die so viele Stunden und Tage ihrer Arbeit in Straßburg auf die Sozialcharta verwendet hat.
Meine Damen und Herren, es ist erfreulich, daß wir hier einmal über eine Sache reden können, in der die Koalition und die Opposition im Grundsatz
übereinstimmen. Deshalb bitte ich um Verständnis dafür, daß ich die grundsätzlichen Ausführungen, die Frau Kollegin Dr. Hubert gemacht hat, jetzt nicht wiederhole. Ich könnte im großen und ganzen nur das gleiche sagen.
Meine Fraktion wird für den Antrag stimmen, bittet aber darum, daß auf die Festlegung des Datums, nämlich 31. Januar 1963, verzichtet wird. Ich werde dazu ein paar sachliche Bemerkungen machen.
Ein Zweites noch, Frau Kollegin Dr. Hubert. In dem Antrag, den auch unsere Fraktion unterzeichnet hat, steht, „mit allen ihren Paragraphen". Gestatten Sie mir als einem, der auch von Anfang an an dem Zustandekommen dieser Charta ;mitarbeiten durfte, die Bemerkung, daß ich es nicht für gut halte, wenn der Passus „mit allen ihren Paragraphen" stehenbleibt. Die Charta gliedert sich in fünf Teile. Sie enthält die 19 wichtigen sozialen Grundrechte. Ich will .sie hier nicht aufzählen. Diese 19 — ich möchte sagen — Kernstücke der Charta sind in 74 Absätze unterteilt. Hier sollen soziale Verhältnisse in Ländern zwischen Norwegen und der Türkei — in diesem großen Spannungsbogen — einheitlich geregelt werden. Wir sollten uns dartiber verständigen, daß das menschliches Können übersteigt. Die Verhältnisse in Norwegen, der Türkei und Griechenland sind so unterschiedlich, daß es kaum möglich ist, sie nach einheitlicher Gesetzgebung zu regeln. Deshalb haben wir uns im Ausschuß seinerzeit unter der hervorragenden Mitarbeit des Herrn Kollegen Birkelbach in einer harten Auseinandersetzung — nicht unter uns Deutschen — darüber verständigt. Die deutschen Vertreter — das darf ich dem Hause auch sagen — haben in allen Einzelheiten ohne Unterschied ihres politischen Standortes einheitlich mit Ja oder mit Neingestimmt, überall da, wo unter den verschiedenen Nationen Differenzen bestanden.
Das Kompromiß, das wir dort fanden, war, daß die ganze Charta als von einem Land ratifiziert gelten soll, wenn ein Land von den 19 wichtigen Grundrechten 10 oder von den 74 Einzelabsätzen 45 ratifiziert.
Meine Damen und Herren, ich würde dem Deutschen Bundestag empfehlen, der Regierung nicht mehr aufzuerlegen, als der — wenn Sie so wollen — Gesetzgeber der Sozialcharta, nämlich der Straßburger Europarat, den Regierungen auferlegt hat.
Dann noch ein Wort zur Problematik der Ratifizierung selber. Die Möglichkeit, bestimmte Artikel oder Absätze als verpflichtend auszuwählen, ist in internationalen Verträgen sonst im allgemeinen nicht vorgesehen. Die Sozialcharta räumt den Vertragsstaaten diese Möglichkeit ein, um ihnen die Ratifizierung zu erleichtern, um aber auch den Kontrollorganen des Europarates die Möglichkeit zu geben, daß die Artikel, die ratifiziert sind, auch wirklich durchgeführt werden und das kontrollierbar ist.
Die Bundesregierung hat uns schon einmal mitgeteilt, daß sich die Ratifizierung deshalb verzögert, weil eine Abstimmung mit den EWG-Staaten notwendig ist. Diese Abstimmung hat vor etwa zwei Wochen stattgefunden. Sie zeigte, daß auch Belgien,
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. Dezember 1962 2317
Schütz
1 Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande aller Voraussicht nach so wie die deutsche Bundesrepublik zwar nicht alle 19, aber doch wesentlich mehr als 10 dieser Hauptabschnitte, der sogenannten Grundrechte, ratifizieren werden. Die Bundesrepublik Deutschland wird keineswegs allein auf weiter Flur stehen, wenn von ihr nicht alle Bestimmungen ratifiziert werden sollten.
Lassen Sie mich aus den vielen nur ein einziges Beispiel anführen. Schwierigkeiten bestehen für uns bei Art. 7. Sein Abs. 1 legt den Vertragsstaaten die Verpflichtung auf, für die Zulassung zur Arbeit ein Mindestalter von 15 Jahren vorzusehen. Die Mehrzahl der deutschen Länder hat aber bisher eine achtjährige Schulpflicht. Das Schulentlassungsalter und damit auch das Berufseintrittsalter liegt daher in den meisten Bundesländern unter 15 Jahren. Der Bund hat nach der Verfassung keine Möglichkeit, diesen Zustand zu ändern. Das ist ein Beispiel für viele; es gibt noch drei oder vier weitere. Ich wollte an diesem einen Beispiel nur demonstrieren, daß unser Einwand begründet ist.
Meine Damen und Herren, mit diesen beiden Einschränkungen empfehle ich die Annahme des Antrages. Sollten Sie sich entschließen, den Antrag erst noch einem Ausschuß zu überweisen, dann sollte der Ausschuß für Sozialpolitik federführend sein, und es sollten die Ausschüsse für Arbeitsrecht, Wirtschaft, Familien- und Jugendfragen, für Auswärtiges, für Kommunalpolitik und Sozialhilfe — wennschon dennschon — mitberatend sein.
— Die Worte „mit allen ihren Paragraphen". Wenn das bliebe, dann würden Sie es der Bundesregierung nicht möglich machen, zu unterzeichnen.
Daß es von 1953 bis 1961 gedauert hat, bis die Sozialcharta zustande kam, hat seinen Grund darin, daß die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in den 16 Ländern so verschieden sind und beim allerbesten Willen nicht über einen Kamm geschoren werden können. Das ist einvernehmlich so zustande gekommen, und ich würde bitten, daß wir es dabei auch belassen.