Rede von
Dr.
Erich
Mende
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe die Ehre, im Namen der Fraktion der Freien Demokratischen Partei die folgende Erklärung abzugeben:
Der 13. August dieses Jahres wird als schwarzer Tag in die Geschichte unseres Vaterlandes eingehen. Die Gemeinsamkeit, die in diesem Hause innerhalb der drei Fraktionen in der Berlin- und Deutschlandfrage erkennbar geworden ist, sollte auch außerhalb dieses Hauses in den nächsten Wochen und Monaten erkennbar sein.
Denn Form und Inhalt des gegenwärtig laufenden Bundestagswahlkampfes können und dürfen nicht unbeeinflußt von den Ereignissen des 13. August und der folgenden Tage bleiben.
Parteien sind nicht Selbstzweck, sie sind Mittel zum Zweck! Über den Parteien steht das gemeinsame Vaterland,
und es kommt am 17. September dieses Jahres nicht mehr so entscheidend darauf an, ob die Christlich-Demokratische Union, die Sozialdemokratische Partei oder die Freie Demokratische Partei den größten Wahlerfolg davonträgt, sondern ob es uns drei für das Schicksal Deutschlands verantwortlichen demokratischen Parteien durch ein Höchstmaß an Gemeinsamkeit in der Berlin- und Deutschlandfrage und in engster Zusammenarbeit mit unseren Partnern gelingt, die Bedrohung von Berlin und Deutschland zu nehmen und Europa und Deutschland vor einem neuen „Korea" zu bewahren.
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Die Absperrung der deutschen Menschen in der Sowjetzone und im sowjetischen Sektor in Berlin vom freien Teil unseres -Vaterlandes ist ein neuer unmenschlicher Willkürakt. Die Maßnahmen der Sowjetzone verletzen das noch immer bestehende Vier-Mächte-Abkommen über Berlin. Die Besetzung des Ostsektors durch Truppen der sogenannten Volksarmee und die Erklärung der Sektorengrenze zur Staatsgrenze ist ein Akt der Aggression und der Annexion. Die Sowjetzonenmachthaber verhöhnen aufs neue das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen. Sie nehmen den Deutschen aus der Sowjetzone und aus dem sowjetischen Sektor von Berlin die Freizügigkeit, ein Grundrecht, das in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland und ebenso in der Verfassung der sogenannten DDR garantiert ist und das zu 'den unveräußerlichen Rechten eines jeden Volkes gehört.
Die Sowjetunion, die mit der Billigung dieses Rechtsbruchs erneut das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes mißachtet, sollte erkennen, daß nach den schmerzlichen Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit alle Völker dieser Erde den absoluten Wert der Freiheit erkannt haben. Wer sich zur Freiheit des einzelnen und zur Freiheit der Völker bekennt, fühlt sich immer dann betroffen, wenn die Freiheit irgendwo in der Welt bedroht ist. In einer Zeit, in der die jungen Staaten Asiens und Afrikas um das Recht auf Selbstbestimmung und nationale Freiheit ringen, muß die Verletzung dieser Rechte in Deutschland als Rückfall in den Kolonialismus wirken und die Freiheitssehnsucht dieser Völker hitter enttäuschen.
Das Verhalten der Sowjetunion in der Berlin- und Deutschlandfrage muß für die Weltöffentlichkeit auch der Gradmesser für die Ehrlichkeit ihrer Beteuerungen gegenüber den jungen Völkern Asiens und Afrikas sein.
Die Machthaber der Sowjetzone trifft nach den Willkürmaßnahmen vom 13. August 1961 erneut die Verachtung des ganzen deutschen Volkes in beiden Teilen. Unsere Gedanken sind in dieser Stunde bei den Deutschen jenseits des Brandenburger Tores und jenseits des Eisernen Vorhanges. Die Gemeinschaft des deutschen Volkes kann durch keinen Stacheldraht und keinen Todesstreifen aufgehoben werden.
Die Gemeinschaft des deutschen Volkes gründet sich auf das tiefe Zusammengehörigkeitsgefühl von Menschen, die nach schmerzlichsten Erfahrungen Freiheit und Menschenwürde als die höchsten irdischen Güter der Nation ansehen.
Den Deutschen jenseits des Eisernen Vorhanges werden Freiheit und Menschenwürde auch heute noch vorenthalten. Sie tragen die Last der deutschen Teilung. Ihr Schicksal muß daher der Maßstab unseres Handelns sein. Das Grundgesetz verpflichtet dieses freigewählte Parlament der Deutschen, für unsere Landsleute mit zu handeln, denen die Mitgestaltung unseres staatlichen Lebens versagt ist. Die Politik, die seit 1945 gemacht worden ist, wird eines Tages danach beurteilt werden, was wir für das ganze deutsche Volk erreicht haben.
9782 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Freitag, den 18. August 1961
Dr. Mende
Ziel und Aufgabe ist daher unverrückbar die Wiederherstellung der deutschen Einheit in Freiheit. Sie ist der politische Auftrag für unsere Generation, an dessen Erfüllung Erfolg oder Mißerfolg unserer Politik dereinst gemessen werden.
Heute ist nicht die Stunde, Kritik an der Bundesregierung zu üben. Wir begrüßen es daher, daß die Bundesregierung zu stärkerer Initiative in der Deutschland-Frage übergehen will und für alsbaldige Verhandlungen in der Deutschlandfrage eintritt.
Es ist jetzt jeder mögliche Fall einer neuen Provokation ins Auge zu fassen, konkrete Gegenmaßnahmen mit den Verbündeten sind vorzubereiten. Es darf sich nicht wiederholen, daß die Bundesregierung wie am 5. Mai 1961 dem Deutschen Bundestag versichert, daß sie und ihre Verbündeten auf jegliche Maßnahme der anderen Seite eingestellt seien und daß wir schon wenige Wochen später durch eine nicht vorausgesehene Aktion des Unrechts überrascht werden. Wir würden unsere Pflichten als freigewählte Vertreter unseres Volkes verletzen, wenn wir in dieser Stunde der Weltöffentlichkeit die Unruhe in unserem Volke verbergen würden. Die (bewundernswürdige Disziplin der Berliner in beiden Teilen der Stadt und die Haltung der Deutschen in der Sowjetzone sollten niemanden darüber hinwegtäuschen, daß die Grenzen der Selbstachtung des deutschen Volkes erreicht sind. Die Forderung: „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht" darf den Ruf nach Freiheit für das ganze deutsche Opfers würdig ist.
Der Wiederaufbau des freien Teils Deutschlands war nur möglich, weil die Menschen in der Sowjetzone dem Kommunismus widerstanden und ungeheure Opfer für uns alle gebracht haben. Wenn wir durch eine Überschätzung des materiellen Wohlstandes jegliche Opferbereitschaft in der Bundesrepublik abtöten, den Deutschen jenseits des Eisernen Vorhanges dagegen täglich das Opfer, der kommunistischen Herrschaft zu widerstehen, zumuten würden, würden wir Verrat an der gesamtdeutschen nationalen Solidarität üben.
Niemand bei uns und in der Welt sollte glauben, daß das ,deutsche Volk sich in der Erwartung, daß ein Teil auch morgen im Wohlstand leben kann, mit der jetzt geschaffenen Lage auf die Dauer abfindet. Die Deutschen in der Sowjetzone und die Berliner haben ihre Vorleistung auf die Freiheit unter schwersten Bedingungen und Belastungen erbracht. Die Haltung der freien Welt in den nächsten Wochen und Monaten wird beweisen, ob sie dieses Opfer würdig ist.
Die Vier Mächte haben als Unterzeichner des Potsdamer Abkommens die Verantwortung für die staatliche Einheit Deutschlands übernommen. Sie haben den Viermächtestatus von Berlin nicht nur als Vertragspartner der Sowjetunion, sondern auch aus der gegenüber dem deutschen Volk übernommenen Verantwortung zu wahren. Der Artikel 7 des Deutschland-Vertrages bekräftigt .die Verpflichtung unserer westlichen Verbündeten, das gemeinsame Ziel eines wiedervereinigten Deutschland mit friedlichen Mitteln zu verwirklichen. Unsere Vertragspartner würden Inhalt und Geist der Verträge nicht gerecht werden, wenn sie die Berlinfrage allein unter dem Blickpunkt ihrer Rechte in Berlin betrachten würden. Die Absperrung in Berlin ist keine innere Angelegenheit der Sowjetzone. Die von den Verbündeten übernommene Verpflichtung, die Sache der deutschen Einheit mit zu ihrer eigenen zu machen, verpflichtet sie auch, die letzten Klammern zwischen den getrennten Teilen Deutschlands aufrechtzuerhalten.
Das Recht auf Freizügigkeit zwischen den beiden Teilen Deutschlands, das in diesen Tagen völlig unterdrückt worden ist, war die wichtigste und menschlich wirksamste Klammer. Eine Anerkennung der sowjetzonalen Maßnahmen zur Beseitigung dieses Rechts in der einen oder anderen Form würde einen Bruch der Verträge bedeuten. Das im Grundgesetz für alle Deutschen verbürgte Recht auf Freizügigkeit hindert jede deutsche Regierung, die Maßnahmen der Sowjetzonenbehörden hinzunehmen. Moskau und die Welt sollen wissen, daß jede vertragliche Vereinbarung, die die Spaltung unseres Vaterlandes zur Voraussetzung hat, gegen die Menschenrechte und gegen den Verfassungsauftrag des Grundgesetzes verstößt, die Einheit in Freiheit zu vollenden. Die Macht des Unrechts kann uns zwar zwingen, eine Zeitlang getrennt voneinander leben zu müssen. Keine Macht der Welt kann uns aber bewegen, durch unsere Unterschrift ,aus diesem Unrecht Recht werden zu lassen.
Wir halten an den Vier-Mächte-Vereinbarungen über Berlin fest. Es sei aber gesagt: An dem Tage, an dem diese Vereinbarungen nicht mehr gelten, erlöschen die Vorbehalte der drei westlichen Mächte gegen die im Grundgesetz und in der Verfassung von Berlin vorgesehene Zugehörigkeit Berlins zur Bundesrepublik Deutschland als Bundesland, d. h., die Antwort auf eine fortgesetzte Verletzung und Verhöhnung des Vier-Mächte-Status durch die Einbeziehung des Sowjetsektors von Berlin in die Sowjetzone kann nur die Eingliederung Berlins in die Bundesrepublik Deutschland sein mit allen daraus sich ergebenden Rechten und Pflichten in bezug auf die mit der Bundesrepublik geschlossenen Verträge.
Das deutsche Volk wünscht gute Beziehungen zu den Völkern der Sowjetunion. Auch die Regierung der UdSSR muß erkennen, daß die von ihr gebilligten Unrechtsmaßnahmen die Gefühle des deutschen Volkes aufs tiefste verletzen. Solange dem deutschen Volk in seiner Gesamtheit das Recht auf Selbstbestimmung vorenthalten wird, solange unser Land widerrechtlich geteilt ist, wird der auch von der Sowjetunion gewünschte Frieden in Europa ge-
Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Freitag, den 18. August 1961 9783
Dr. Mende
fährdet bleiben. Die Berlin-Frage kann daher nur im Rahmen der deutschen Frage im Sinne einer Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands gelöst werden. Die Regierung der Sowjetunion möge sich an den Satz erinnern, der in ihrem eigenen Aide-mémoire vom 19. März 1958 enthalten ist — ich zitiere ihn wörtlich —:
„Um weitere falsche Gerüchte zu vermeiden, hält es die sowjetische Regierung für notwendig, erneut festzustellen, daß sie für den Abschluß eines einzigen Friedensvertrages mit ganz Deutschland eintritt.
Im Bewußtsein der Verantwortung gegenüber unserem Volk und für den Frieden der Welt fordern wir Freien Demokraten, daß wir Deutschen nun die Sache der deutschen Einheit stärker in unsere Hand nehmen.
Unsere Aufgabe ist es, den verbündeten Völkern und ihren Regierungen den Weg zu dem gemeinsamen Ziel der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands zu zeigen, für das wir ihre Hilfe erwarten. Ich wiederhole die Worte, die der Bundestagspräsident am 30. Juni dieses Jahres unter dem Beifall aller Fraktionen des Deutschen Bundestages vor diesem Hause gesprochen hat:
Ich glaube aber,
— so führte der Präsident dieses Hauses aus —
daß es das Gebot der Stunde ist, daß über das Verfahren zu einem Friedensvertrag mit Deutschland eine Einigung zwischen den Westmächten und Sowjetrußland herbeigeführt wird. Die Friedensverhandlungen selbst müssen Klarheit schaffen
erstens über den militärischen und politischen Status des zukünftigen Gesamtdeutschlands.
Zweitens ist es selbstversändlich, daß ein Friedensvertrag die definitive Bereinigung der materiellen und rechtlichen Fragen bringen muß, die sich aus dem zweiten Weltkrieg ergeben. Dazu gehört auch die Frage der Reichsgrenzen.
Drittens
— so führte der Bundestagspräsident aus —ist es unerläßlich, daß dem ganzen deutschen Volke die Möglichkeit verbürgt wird — ich sage: verbürgt wird —, Gebrauch zu machen von „dem Grundsatz der gleichen Rechte und der Selbstbestimmung der Völker", wie er verankert ist in dem Artikel 1 der Charta der Vereinten Nationen.
Meine Damen und Herren, diese Erklärung des Präsidenten des Deutschen Bundestages hat für die Freie Femokratische Partei weiterhin uneingeschränkte Geltung.