Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Novelle zum Reichsjugendwohlfahrtsgesetz befindet sich seit einigen Wochen in der Beratung des zuständigen Ausschusses für Familien- und Jugendfragen. Da aber Frau Kollegin Schanzenbach hier erneut einige Worte zu dieser Novelle gesagt hat, möchte ich mich auch meinerseits für unsere Fraktion dazu äußern. Hier ist wiederum die falsche Behauptung aufgestellt worden, durch diese von der Bundesregierung vorgelegte Novelle solle das Rangverhältnis der behördlichen und der freien Jugendhilfe geändert werden.
Wer einmal das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922, die dazu gegebenen Begründungen und alle einschlägigen Kommentare durchliest, die in den vergangenen Jahrzehnten zu dieser Frage des Rangverhältnisses der behördlichen und der freien
Jugendhilfe in dem Gesetz von 1922 geschrieben worden sind, kann der Ansicht nicht zustimmen, daß durch ,die jetzige Novelle eine Änderung eintreten soll. In diesem Gesetz von 1922 ist bereits festgelegt worden, daß das Jugendamt erst dann tätig werden soll, wenn die Verbände der freien Jugendhilfe trotz der Anregung und Förderung des Jugendamts nicht tätig geworden sind.
Leider ist diese Bestimmung des Gesetzes von 1922 in der Praxis der vergangenen Jahrzehnte und insbesondere in der Praxis der sozialistisch regierten Gemeinden und ihrer Jugendämter nicht eingehalten worden. Aus diesem Grunde war es notwendig, daß die Bundesregierung in einer Novelle nunmehr diesen Grundsatz des Rangverhältnisses von öffentlicher und freier Jugendhilfe so eindeutig faßt, daß es auch künftighin von den sozialistisch regierten Gemeinden nicht umgangen werden kann.
Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist ,der Sinn der Formulierungen, die in § 4 Abs. 3 dieser Novelle gefunden worden sind.
Übergeordnet diesem Rangverhältnis zwischen öffentlicher und freier Jugendhilfe ist jedoch das Recht der Eltern, der Personensorgeberechtigten, wie es im § 2 a des Entwurfs heißt, die Grundrichtung der Erziehung des Kindes zu bestimmen. Dieses Recht beinhaltet unserer Auffassung nach auch das Recht der Eltern, darüber zu entscheiden, ob ihre Kinder durch eine freie oder durch eine öffentliche Einrichtung erzogen und betreut werden sollen.
Wir meinen, daß die Sozialdemokraten, die sich in den letzten Monaten in steigendem Maße darum bemüht haben, ihr früher so kühles Verhältnis zu den christlichen Kirchen etwas aufzufrischen, doch etwas mehr Verständnis für die Fragen des Elternrechtes und die Möglichkeiten, von ihm Gebrauch zu machen, entwickeln sollten. Es muß ein für allemal aufhören — wie es heute noch weithin gerade in den sozialistisch regierten Gemeinden die Praxis ist —, daß die Eltern, obwohl sie es manchmal vielleicht anders haben wollen, eigentlich nur die Möglichkeit haben, ihre Kinder in eine öffentliche Einrichtung zu schicken.
Wir wissen allerdings, daß das für die sozialistisch regierten Kommunen und ihre Jugendämter unter Umständen eine sehr zweischneidige Sache werden kann. Denn wenn unsere Vorstellungen, ,die in der dem Hause vorgelegten Novelle der Bundesregierung ihren Niederschlag gefunden haben, verwirklicht werden, werden sich in Zukunft möglicherweise mehr Eltern dafür entscheiden, ihre Kinder in freie Einrichtungen und nicht in kommunale Einrichtungen zu schicken, als es bisher der Fall gewesen ist.
Dieser unserer Absicht, endlich der faktischen Benachteiligung der freien Einrichtungen der Jugendhilfe ein Ende zu machen, dient der § 4 a
8738 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 152. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 16. März 1961
Rollmann
in dem Entwurf der Novelle der Bundesregierung. Nach diesem § 4 a sollen in Zukunft die Einrichtungen der freien Jugendhilfe in dem gleichen Umfang unter Berücksichtigung der Eigenleistung durch öffentliche Mittel gefördert werden wie die öffentlichen Einrichtungen der Jugendhilfe, die ja bisher durch die Steuerkraft der Bürger in vollem Umfang finanziert worden sind.
Wir sind der Ansicht, daß bisher eine nicht zu rechtfertigende Benachteiligung aller Kinder in den freien Einrichtungen dadurch eingetreten ist, daß die Finanzkraft dieser freien Einrichtungen nicht so groß ist wie die der Jugendämter.
Meine Damen und Herren, im § 1 des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes von 1922 ist das Recht eines jeden deutschen Kindes auf Erziehung festgelegt. Bisher ist dieses Recht ungleichmäßig gehandhabt worden. Die Kinder, die sich in freien Einrichtungen befunden haben, waren in ihrer materiellen Versorgung faktisch schlechter gestellt als die Kinder, die durch das Jugendamt gefördert worden sind.
Wir meinen, schon aus dem Gleichheitsgrundsatz, auf dessen Beachtung jedes deutsche Kind einen Anspruch hat, ergibt sich die Notwendigkeit einer Lösung wie der des beabsichtigten § 4 a, nach der in Zukunft die Kinder in den freien Einrichtungen finanziell genauso gut gestellt sein sollen wie die Kinder, die sich in öffentlichen Einrichtungen befinden.
Die Sozialdemokraten und ihre Hilfstruppen in den Gewerkschaften oder in den ihnen nahestehenden Berufsarbeiterverbänden haben zu unserem großen Bedauern in den vergangenen Wochen und Monaten überall im Lande eine unerhörte Agitation gegen diese Novelle der Bundesregierung entfaltet.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, vorhin war von mehreren Seiten von der Gemeinsamkeit der Jugendpolitik die Rede. Eine solche Gemeinsamkeit kann man nicht dadurch einleiten, daß man Gesetzentwürfen der Bundesregierung im Lande eine Tendenz unterstellt, die sie überhaupt nicht besitzen.
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Wenn Sie hier von einer Gemeinsamkeit der Jugendpolitik reden — wir stimmen diesem Gedanken der Gemeinsamkeit der Jugendpolitik im Grundsatz durchaus zu —, dann stellen Sie bitte an den Anfang dieser Gemeinsamkeit eine faire Behandlung und Beurteilung auch jener Gesetzentwürfe, die von der Bundesregierung eingebracht worden sind.
Ich habe vor einigen Tagen einige Zeilen über eine Kundgebung gelesen, die in Hamburg stattgefunden hat. Es handelt sich um eine Kundgebung. der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft im
Deutschen Gewerkschaftsbund. In einer Stellungnahme, die nach dieser Kundgebung herausgegeben wurde, ist diese Novelle, die von der Bundesregierung hier vorgelegt worden ist, als „spanische Novelle" bezeichnet worden.
In einer norddeutschen Zeitung hat eine Journalistin, die Ihnen nähersteht als uns, einen Artikel geschrieben und darin angedeutet, daß dieses Gesetz kein anderes Ziel habe als eine Konfessionalisierung der gesamten Jugendarbeit. In diesem Artikel wird von einem Subsidiaritätsprinzip gesprochen, das aus der katholischen Soziallehre stamme und das auf diese Weise Gesetz werden solle.
Lassen Sie mich mit dem letzten Punkt anfangen, weil diese Tendenzen überall im Lande bei den Menschen, die diese Novelle noch nicht gelesen haben, genährt werden. Ich möchte gerade als evangelischer Abgeordneter dieses Hauses sagen: Wie Sie und Ihre Freunde im Lande genau wissen, ist das Subsidiaritiätsprinzip nicht nur in der katholischen Soziallehre, sondern in gleicher Weise in der evangelischen Sozialethik verankert und zu Hause. Wir wehren uns dagegen, daß die guten Grundgedanken dieses Gesetzes in den norddeutschen evangelischen Gegenden von Ihnen so abgetan werden, als ob es sich hier um den Ausfluß irgendeiner speziell katholischen Politik handelte.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich persönlich und, wie ich glaube, viele meiner Freunde haben die Hoffnung gehabt, daß es bei der großen Mühe, die wir uns bei den bisherigen Beratungen im Ausschuß für Familien- und Jugendfragen gegeben haben, möglich sein würde, sich mit Ihnen doch noch über die Grundsätze dieser Novelle zu einigen. Denn die Grundsätze dieser Novelle, wenn sie Gesetz wird, helfen unserer Jugend weiter, und das ist doch das Entscheidende.
Verehrte Frau Kollegin Schanzenbach, Sie haben vorhin erklärt, es gebe in der Bundesrepublik Deutschland zu wenig Kindergärten. Ich sehe davon ab, daß die Einrichtung von Kindergärten nun einmal eine Angelegenheit der Gemeinden ist. Aber nun bemühen wir uns von seiten des Bundes darum, für die Errichtung von Kindergärten in stärkerem Umfange als bisher dadurch Sorge zu tragen, daß wir ihnen mehr öffentliche Mittel geben, so wie es in § 4 a dieses Entwurfes vorgesehen ist. Dann aber sollten die sozialdemokratischen Kollegen in diesem Hause uns bei dieser unserer Absicht, bei diesem unseren Plan nicht in die Arme fallen, sondern sie sollten uns in dem Bestreben unterstützen, die freien Verbände der Jugendhilfe stärker als bisher durch öffentliche Zuschüsse in die Lage zu versetzen, daß sie Kindergärten bauen und auf diese Weise dem Defizit abhelfen, in dem wir uns gegenwärtig noch befinden.