Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für den erkrankten Herrn Bundesminister der Finanzen beantwortete ich namens der Bundesregierung die große Anfrage der Fraktion der SPD über den Stand der Gemeindefinanzen.
Würde man die Finanzlage der Gemeinden nach der Entwicklung der gesamten Ausgaben und der Steuereinnahmen aller Gemeinden und Gemeindeverbände beurteilen, so könnte sie nur günstig genannt werden. Die gesamten Gemeindeausgaben sind von 13,6 Milliarden DM in 1955 auf schätzungsweise 20,9 Milliarden DM in 1960 gestiegen. Der gesamte Finanzrahmen der Gemeinden ist in fünf Jahren um rund 53 v. H. gewachsen.
Noch günstiger ist die Entwicklung der allgemeinen Deckungsmittel, vor allen Dingen der Steuern. Diese stiegen von 5 Milliarden DM in 1955 auf schätzungsweise 8,5 Milliarden DM in 1960, d. h. in fünf Jahren um 72 v. H.
Mit dieser außerordentlich großen Zunahme der Steuereinnahmen liegen die Gemeinden weit über dem Bund; sie werden allerdings noch von den gewaltigen Steuermehreinnahmen der Länder über-
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troffen. Der Zuwachs für die gleiche Zeit ist beim Bund auf 52 v. H., bei den Ländern auf 85 v. H. zu schätzen.
Ein wirklich zutreffendes Urteil über die Entwicklung der Gemeindefinanzen ist aber ,an Hand solcher Gesamtzahlen für alle Gemeinden und Gemeindeverbände nicht möglich.
Sie erlauben bestenfalls eine stark verallgemeinernde Beurteilung nach Durchschnittsgrößen. Solche Durchschnittszahlen für 24 000 Gemeinden, davon 17 000 unter 1000 Einwohnern, haben wegen der allzu großen örtlichen Unterschiede nur einen recht bedingten Aussagewert. Von einer geordneten und guten Finanzlage der Gemeinden und Gemeindeverbände kann dann gesprochen werden, wenn die unabweisbaren Aufgaben aller Gemeinden und Gemeindeverbände aus eigenen und zugewiesenen Deckungsmitteln ordnungsgemäß erfüllt werden können.
Besonders kennzeichnend für die Lage der Gemeindefinanzen ist der ständig steigende Umfang der gemeindlichen Investitionen, die in wachsendem Maße aus Überschüssen der laufenden Rechnung — einschließlich der Zweckzuweisungen aus Landesmitteln — gedeckt werden. Die aus diesen Deckungsmitteln, also ohne Kreditmarkt-Verschuldung finanzierten Investitionen sind von rund 3 Milliarden DM in 1955 auf rund 4 Milliarden DM in 1958 gestiegen und werden wahrscheinlich rund I 6 Milliarden DM in 1960 betragen. Das bedeutet, daß die nicht aus Krediten finanzierten Investitionen der Gemeinden sich in fünf Jahren etwa verdoppelt haben.
Unzweifelhaft wächst der legitime und großenteils auch unabweisbare Investitionsbedarf der Gemeinden von Jahr zu Jahr. Das hängt mit der Entwicklung unserer gesamten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung zusammen. Bei wachsenden privaten Ansprüchen an die Lebenshaltung wachsen naturgemäß auch die Ansprüche, die die Bürger mit Recht an die Befriedigung öffentlicher Gemeinschaftsbedürfnisse stellen. Im Zuge dieser Entwicklung weitet sich nicht nur der Aufgabenbereich der Gemeinden, gleichzeitig steigen die Ansprüche an die Art und die Güte der öffentlichen Einrichtungen und damit die Kosten. Dies führt zu einem entsprechenden, teilweise sprunghaften Wachstum des Gemeindefinanzbedarfs, vor allem für Bauten und sonstige Investitionen.
Unter diesen gemeindlichen Aufgabenbereichen ragen der Schulbau, der Straßenbau und der Krankenhausbau besonders hervor. Deshalb möchte ich mit wenigen Worten darauf eingehen.
Der Finanzbedarf für Schulbauten ist Gegenstand sorgfältiger Untersuchungen gewesen. Eine Denkschrift der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Lehrerverbände, bearbeitet von den Herren Edding und Albers, hat die Größe der Schulausgaben von 1960 bis 1970 untersucht. Sie geht davon aus, daß in diesen zehn Jahren für die allgemeinbildenden Schulen unter Berücksichtigung aller wesentlichen Umstände ein zusätzlicher Schulraumbedarf von etwa 130 000 Klassen entsteht. Dieser Bedarf von etwa 13 Milliarden DM, einschließlich der Stadtstaaten, umfaßt nicht nur den eigentlichen Fehlbestand an Klassen und die notwendigen Ersatzbauten, sondern darüber hinaus auch den Mehrbedarf infolge der weiteren Zunahme der Schülerzahl, der Einführung eines neunten Schuljahres, eines verstärkten Überganges zu den weiterführenden Schulen und nicht zuletzt auch einer erheblichen Senkung der hohen Klassenfrequenzen. Dieser Schulraumbedarf kann nach unseren Feststellungen im wesentlichen mit den Mitteln, die in den kommenden Jahren voraussichtlich für den Schulbau verfügbar sind, ohne zusätzliche allgemeine Finanzierungsmaßnahmen aus Gemeindemitteln und aus ergänzenden Ländermitteln gedeckt werden. Der Schichtunterricht kann in wenigen Jahren beseitigt werden.
Diese allgemeinen Feststellungen mögen hierzu genügen. Sie werden durch sorgfältige Erhebungen und Berechnungen des Bundesministeriums der Finanzen bestätigt.
Der Straßenbau nimmt unter den gegenwärtigen und künftigen Aufgaben der Gemeinden eine Sonderstellung ein. Hier sind zusätzliche Deckungsmittel zur Erfüllung der ,sprunghaft wachsenden Anforderungen an den Straßen- und Städtebau unentbehrlich. Aus diesem Grunde hat das Straßenbaufinanzierungsgesetz von 1960 für die Gemeinden zusätzliche Einnahmen in beträchtlicher Höhe erschlossen, die dem gemeindlichen Straßenbau jährlich ,etwa 400 Millionen DM mehr als bisher zuführen. Eine Einwirkung auf die Verteilung dieser zusätzlichen Deckungsmittel ,auf die einzelnen Gemeinden und Gemeindeverbände in den Ländern ist dem Bundesgesetzgeber nach der Verfassung im allgemeinen leider verwehrt. Bei der Verabschiedung des Straßenbaufinanzierungsgesetzes und bei seinem zwischenzeitlichen Vollzug beanspruchen die Länder die alleinige Zuständigkeit, über die zweckmäßige Verwendung ,dieser Mittel für den gemeindlichen Straßenbau zu entscheiden. Unmittelbare Finanzhilfen gewährt der Bund im Rahmen des Straßenbaufinanzierungsgesetzes deshalb nur für den Ausbau der Ortsdurchfahrten im Zuge von Bundesstraßen und neuerdings auch für andere gemeindliche Straßenbauten, die mit dem Ausbau des Bundesstraßennetzes in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Von dem Gemeindeanteil an den Mehreinnahmen nach dem Straßenbaufinanzierungsgesetz entfallen .auf diese letzte Zweckbestimmung 100 Millionen DM. Diese Mittel werden in den kommenden Jahren weiter erhöht werden.
Die Mehreinnahmen aus dem Straßenbaufinanzierungsgesetz, die in Iden nächsten Jahren weiter ansteigen, gestatten es, die Aufwendungen der Gemeinden für den Straßenbau in den kommenden vier Jahren um etwa 50 v. H. zu erhöhen. Trotz 'dieser beträchtlichen Vermehrung der Deckungsmittel werden dringende Erfordernisse des Straßen- und Städtebaues an vielen Steilen noch nicht ausreichend finanziert sein. Hier ist es nach dem Willen des Grundgesetzes in erster Linie Aufgabe der Län, der, Idurch geeignete Maßnahmen im Rahmen des
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Weitere Schwerpunkte der gemeindlichen Investitionstätigkeit, wie z. B. der Krankenhausbau, können aus eigenen Einnahmen, vor allem in den großen Städten, in steigendem Maße gefördert werden. Auch die Zweckzuweisungen der Länder zum Ausbau der gemeindlichen Krankenhäuser sind beachtlich erhöht worden.
Der Finanzbedarf für die Wasserversorgung und vor allem für die Abwasserbeseitigungsanlagen ist besonders groß. Die Finanzierung dieser Investitionen wind jedoch wesentlich dadurch erleichtert, daß es sich hier um Gebührenanstalten handelt.
Um eine möglichst zuverlässige Grundlage zur Beurteilung des unabweisbaren gemeindlichen Investitionsbedarfs in den nächsten zehn Jahren zu bekommen, hat das Bundesfinanzministerium vor einiger Zeit ein Gutachten seines Wissenschaftlichen Beirats erbeten. Dieses Gutachten steht zu Ihrer Verfügung. Das Gutachten, das im Juli 1959 abgeschlossen wurde, kommt zu dem Ergebnis, daß der unabweisbare zusätzliche Investitionsbedarf der Gemeinden aus dem alljährlichen Anwachsen des Überschusses der vermögensunwirksamen Rechnung, h: überwiegend aus den. Steuereinnahmen, gedeckt wäre, wenn das Bruttosozialprodukt im Durchschnitt der nächsten zehn Jahre jährlich um 3,5 v. H. wachsen würde. Ein zusätzlicher Finanzbedarf ergibt sich nach Auffassung des Wissenschaft-lichen Beirats nur wegen der ungleichmäßigen Verteilung der Gemeindefinanz masse. Tatsächlich alber ist . das Bruttosozialprodukt schon in 1959 um 8,2 v. H. und in 1960 wahrscheinlich sogar um 11 v. H. gegenüber dem Vorjahr gewachsen. Als Folge dieser Entwicklung haben die Steuereinnahmen der Gemeinden schon im Jahre 1959 den Jahresbetrag überschritten, der nach den Feststellungen des Wissenschaftler-Gutachtens als durchschnittliche Steuereinnahme für die Jahre 1958 bis 1967 angenommen wunde und der nach ihrer Meinung bei besserer Verteilung der Gemeindefinanzmasse bereits zur Deckung der steigenden Investitionsausgaben der Gemeinden ausreichen würde.
Das zentrale Problem der gesamten gemeindlichen Finanzwirtschaft liegt heute und auf absehbare Zeit nach der Meinung des Bundesministeriums der Finanzen nicht mehr in erster Linie darin, daß die Deckungsmittel dem wachsenden Bedarf nur unzureichend folgen, sondern darin, daß die ständig wachsende Gemeindefinanzmasse sehr ungleichmäßig und unzureichend auf die ,einzelnen Gemeinden und Gemeindeverbände verteilt ist.
Die richtige Lösung dieses Problems einer Neuordnung des Gemeindefinanzausgleichs entscheidet nach unserer Meinung über die künftige Entwicklung des Gemeindewesens in unserem Lande und damit über eine kraftvolle örtliche Selbstverwaltung.
Die Unterschiede in der Finanzausstattung der einzelnen
Gemeinden und Gemeindeverbände haben sich seit dem Kriegsende wesentlich vergrößert. Der Anteil der eigenen gemeindlichen Steuereinnahmen und der Finanzzuweisungen der Länder an den Gesamteinnahmen hat sich in den letzten Jahren bei wachsendem Gesamtvolumen der Gemeindehaushalte zwar kaum verändert, jedoch ist innerhalb der Steuereinnahmen — wie allgemein bekannt — eine grundlegende Verschiebung eingetreten. Der Anteil der Gewerbesteuer, der schon während des Krieges eine überragende Stellung im Gemeindesteuersystem hatte, ist von 59 v. H. in 1951 auf 75 v. H. in 1959 und wahrscheinlich auf 77 v. H. in 1960 angewachsen. Gleichzeitig ist 'der Anteil der Grundsteuer, der auf den Werten von 1935 beruht, von 32 v. H. in 1951 auf 18 v. H. in 1959 zurückgegangen.
Dieses Übergewicht der Gewerbesteuer hat zu Unterschieden in der örtlichen Steuerkraft geführt, die mit den bisherigen Methoden und Maßstäben des Gemeindefinanzausgleichs kaum noch hinreichend ausgeglichen werden können. Die Steuerausstattung je Einwohner zwischen den kleinen Landgemeinden und den kreisfreien Städten erreicht mit dem Vierfachen eine Spannweite, wie sie früher nie bestanden hat. Solche Unterschiede in der örtlichen Finanzausstattung können auf die Dauer nicht hingenommen werden, well sich die Ansprüche der Bürger an die örtliche Verwaltung in Stadt und Land immer mehr angleichen. Es ist auf die Dauer nicht vertretbar, daß die Schulen oder die Straßen oder sonstige Gemeindeeinrichtungen deshalb weniger gut sein sollen, weil die betreffende Gemeinde steuerschwächer ist als eine andere.
Hier liegt die wichtigste Zukunftsaufgabe für die Gesetzgebung über den gemeindlichen Finanzausgleich.
Ein intensiverer Gemeindefinanzausgleich soll selbstverständlich nicht die Finanzausstattung aller Gemeinden auf einen einheitlichen Kopfbetrag ausgleichen. Der echte Finanzbedarf der Gemeinden und Gemeindeverbände ist nach Gemeindegrößengruppen recht verschieden und wird es immer bleiben. Diese Unterschiede sind der Ausdruck einer verschiedenen Wirtschafts- und Sozialstruktur, die auch in Zukunft zwischen Stadt und Land und zwischen den Städten bestehenbleiben wird. Eine nivellierende Angleichung von Bedarf und Deckung bei allen Gemeinden würde auch die Lebenskraft des Selbstverwaltungsgedankens aushöhlen und damit zu einer Verarmung des politischen Lebens führen.
Jedoch muß das Ausmaß der heutigen Unterschiede der Finanzausstattung auf die Dauer verringert werden. Der Gemeindefinanzausgleich muß hier die Folgerungen aus der allgemeinen Veränderung der Wirtschafts- und Sozialstruktur und aus dem Wandel der Gemeinschaftsbedürfnisse in Stadt und Land ziehen.
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Unter diesen Gesichtspunkten sind auch die Maßnahmen zu sehen, die im Zuge der geplanten Erleichterung bei der Gewerbesteuer zugunsten finanzschwacher Gemeinden ergriffen werden müssen,
Herr Abgeordneter Keuning, der Ausfall an Gewerbesteuer bei einem Steuerfreibetrag von 7200 DM bei Gewerbeerträgen bis 50 000 DM beträgt etwa 530 Millionen DM jährlich, nicht 1,8 Milliarden DM. Ich möchte auf diese berühmte — —
— Die Mehreinnahmen bei der Einkommensteuer würden, beim Bund etwa 40 Millionen und bei den Ländern ungefähr 80 Millionen DM ausmachen.
Bei den meisten Gemeinden würde die beabsichtigte Erhöhung des Freibetrages auf 7200 DM bei einem Gewerbeertrag bis 50 000 DM nicht zu einer unzumutbaren Minderung des Gewerbesteueraufkommens führen; vielmehr würde nur das weitere Ansteigen des Gewerbesteueraufkommens gebremst. Bei einer Reihe von finanzschwachen Gemeinden würde der Ausfall jedoch besondere Ausgleichsmaßnahmen erfordern. Diesen Ausgleich zu schaffen ist nach der Verfassung Aufgabe der Länder. Die Finanzlage der Länder hat sich in den beiden letzten Jahren ungewöhnlich günstig entwickelt und wird sich weiter verbessern. Die Einnahmen der Länder wuchsen 1959 um 2,3 Milliarden DM. Sie werden 1960 abermals um 3 Milliarden DM steigen,
Nach neuesten Schätzungen werden sie 1961 sogar 3,8 Milliarden DM mehr als im Vorjahr erreichen. Das bedeutet, daß die Steuereinnahmen der Länder in drei Jahren insgesamt um 9,1 Milliarden DM gestiegen sind.
— Die Einnahmen des Bundes sind in der gleichen Zeit um etwas über 10 Milliarden DM gestiegen. Unter diesen Umständen können die erforderlichen Maßnahmen zum Ausgleich eines unzumutbaren Gewerbesteuerausfalls, der mit etwa 250 Millionen DM geschätzt wird, von den Ländern nach unserer Meinung ohne besondere Schwierigkeiten getroffen werden.
Bei ihrer Gewerbesteuerinitiative geht die Bundesregierung davon aus, daß bei der Verabschiedung des Gesetzes der Ausgleich eines unzumutbaren Gewerbesteuerausgleichs für finanzschwache Gemeinden durch die Länder gesichert sein muß. Entsprechende Verhandlungen mit den Landesregierungen sind eingeleitet worden.
Das Grundgesetz verwehrt es dem Bundesgesetzgeber leider — ich sage ausdrücklich „leider" —, diese Fragen zu lösen. Die Regelung des Gemeindefinanzausgleichs ist nach dem Grundgesetz ausschließlich der Landesgesetzgebung vorbehalten.
Angesichts der untrennbaren Verflechtung von Wirtschaft und Steuern und angesichts der finanzwirtschaftlichen Einheit der Haushalte des Bundes, der Länder und der Gemeinden erscheint diese Entscheidung des Grundgesetzes im Hinblick auf die zwischenzeitliche und künftige Entwicklung nicht sinnvoll.
Ein großer Finanz- und Steuerverbund zwischen dem Bund, den Ländern und den Gemeinden, wie ihn die Weimarer Reichsverfassung mit einem wohlausgewogenen Überweisungs- und Ausgleichssystem kannte, würde den heutigen und künftigen Bedürfnissen besser dienen. Er gäbe den Gemeinden ihre Stellung als dritte selbständige Gruppe im System der bundesstaatlichen Finanzverfassung zurück.
Herr Abgeordneter Keuning, vor etwa anderthalb Jahren haben wir geprüft, ob eine Beteiligung der Gemeinden an der Umsatzsteuer möglich sei. Die Beteiligung der Gemeinden an der Umsatzsteuer war zur Weimarer Zeit das wichtigste Ausgleichsinstrument zwischen Reich, Ländern und Gemeinden. Es wäre erwünscht, wenn unser heutiges Finanzsystem eine ähnliche Überweisungssteuer mit Ausgleichsfunktionen hätte.
Wir haben damals mit den Ländern Fühlung genommen, um festzustellen, ob 'die erforderliche Verfassungsänderung Aussicht auf Annahme habe. Die Länder haben uns erklärt, daß sie einer solchen Verfassungsänderung, die eine unmittelbare Finanzbeziehung zwischen dem Bund und den Gemeinden herstellen würde, nicht zustimmen würden.
Eine umfassende kommunale Finanz- und Steuerreform, deren Programm nicht durch die Schranken der gegenwärtigen Finanzverfassung begrenzt werden darf, sollte daher alsbald in Angriff genommen werden. Sie setzt ein Zusammenwirken aller politischen Kräfte in Bund und Ländern voraus. Eine solche Reform muß sorgfältig vorbereitet werden und nimmt unvermeidlich längere Zeit in Anspruch. Da aber ein verstärkter Steuerkraftausgleich unter den Gemeinden nicht länger hinausgeschoben werden kann, sind Übergangsmaßnahmen der Länder auf dem Gebiet des gemeindlichen Finanzausgleichs im Rahmen der geltenden Finanzverfassung in der Zwischenzeit nicht zu entbehren.
Der Gemeindefinanzausgleich der Länder entspricht in seinen Grundzügen noch dem Schlüsselsystem der Vorkriegszeit und ist auf wesentlich geringere Steuerkraftunterschiede unter den Gemeinden abgestellt, als sie heute bestehen. Eine stärkere Ausrichtung des gesamten Gemeindefinanzausgleichs in den Ländern auf die Deckung des Finanzbedarfes der ,steuerschwachen Gemeinden ist deshalb - notwendig. Darüber hinaus muß erwogen werden, die steuerstarken Gemeinden, deren Finanzkraft weit über dem Durchschnitt ihrer Ge-
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meindegruppe hinausgeht, zur Finanzierung von Gemeinschaftsaufgaben anderer Gemeinden und Gemeindegruppen heranzuziehen. Dieser Gedanke eines zwischengemeindlichen Finanzausgleichs kann nicht durch unmittelbare Zahlungen der steuerstarken an die steuerschwachen Gemeinden verwirklicht werden. Hierzu bedarf es vielmehr besonderer Einrichtungen der Länder, wie z. B. des Ausbaues einer Landesumlage, die in einigen Ländern schon zur Verstärkung der Landesfinanzmasse und damit mittelbar auch zugunsten einer größeren Ausgleichsmasse im Gemeindefinanzausgleich erhoben wird.
Ein Wort noch zu der Entwicklung der gemeindlichen Verschuldung. Sie kann ebenso wenig summarisch beurteilt werden wie die Entwicklung der allgemeinen Deckungsmittel. Die Schuldenlast der Gemeinden insgesamt hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Das allein wäre Grund genug, die Entwicklung sorgfältig zu beobachten. Dabei fällt auf, daß der Zuwachs der Verschuldung im allgemeinen keineswegs bei den steuerschwachen Gemeinden und Städten am größten ist; vielmehr weisen gerade steuerstarke Städte eine außerordentlich hohe Verschuldung auf. Das mag darauf zurückzuführen sein, daß hohe Steuereinnahmen den Verschuldungsrahmen erweitern und die Verschuldungsgrenze hinaufschieben. Bei manchen finanzstarken Städten wäre es jedoch erwünscht, wenn sie sich bei der Neuaufnahme von Schulden stärkere Zurückhaltung auferlegen würden, weil die besonders konjunkturempfindlichen Gewerbesteuermehreinnahmen nicht in vollem Ausmaß als sichere Dekkung für den Schuldendienst angesehen werden können. Auch die Aufsichtsbehörden der Länder sollten bei der Genehmigung von Gemeindedarlehen in dem gleichen Sinne wirken. Es kann jedenfalls nicht allgemein gesagt werden, daß höhere Steuereinnahmen zur Verminderung der Kreditaufnahmen führen würden, weil die erhöhten Einnahmen zugleich die Möglichkeit geben, höhere Aufwendungen für den Schuldendienst zu leisten.
Die Schulden der Gemeinden betrugen am :31. März 1960 rund 12,4 Milliarden D-Mark. Die Bedeutung dieser Zahl wird dadurch beleuchtet, daß die vermögensunwirksamen Einnahmen der Gemeinden im Rechnungsjahr 1959 15,8 Milliarden D-Mark betrugen. Für die Gesamtheit der Gemeinden ist das Verhältnis zwischen Schuldenstand und einem Jahres-Soll der ordentlichen Deckungsmittel nicht zu beanstanden. Auch hier liegen aber die Verhältnisse örtlich außerordentlich verschieden. Bei nicht wenigen Gemeinden hat der Schuldenstand bereits eine kritische Höhe erreicht. Wo diese kritische Höhe im Einzelfall liegt, läßt sich nicht allgemein bestimmen. Einen gewissen Anhalt bietet das Verhältnis der jährlichen Nettoaufwendungen für den Schuldendienst zu den ordentlichen Dekkungsmitteln. Im Jahre 1958 haben die Gemeinden für den Schuldendienst rund 650 Millionen D-Mark aufgewendet, d. h. 4,5 v. H. ihrer ordentlichen Dekkungsmittel. Der Schuldendienst hat sich im Jahre 1958 gegenüber dem Vorjahr zwar um 200 Millionen D-Mark erhöht, jedoch entfallen davon 160 Millionen d. h. 80 v. H. auf höhere Tilgungsleistungen.
Unbeschadet begründeter Besorgnisse bei einzelnen Gemeinden gibt der gesamte Schuldenstand der Gemeinden noch keinen Anlaß zu allgemeinen Besorgnissen. Die Entwicklung muß jedoch von den hier verantwortlichen Landesregierungen und Gemeindeaufsichtsbehörden sorgfältig beobachtet werden.
Diese allgemeinen Überlegungen und Feststellungen über Stand und Entwicklung der Gemeindefinanzen lassen sich in Beantwortung der einzelnen Fragen der Großen Anfrage wie folgt zusammenfassen:
1. Die Gesamtentwicklung der Gemeindefinanzen ist günstig. Es besteht kein Anlaß zu der Befürchtung, daß die finanzielle Eigenverantwortung der Gemeinden von der Finanzentwicklung her beeinträchtigt würde. Auch ist das Anwachsen der gemeindlichen Verschuldung im Hinblick auf die ständige Steigerung der ordentlichen Deckungsmittel, vor allem der Steuern, im allgemeinen nicht beunruhigend.
2. In Übereinstimmung mit den Feststellungen des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesfinanzministerium darf erwartet werden, daß die Gemeinden ihre vermehrten und unaufschiebbaren Aufgaben, vor allem ihre Investitionen, ohne Erhöhung ihres Anteils am gesamten Steueraufkommen erfüllen können. Die Bundesregierung ist jedoch der Meinung, daß die bedenkliche Zunahme der Steuerkraftunterschiede unter den Gemeinden und Gemeindeverbänden schnelle und wirksamere Ausgleichsmaßnahmen der Länder im Rahmen des Gemeindefinanzausgleichs erfordert.
Eine teilweise Umschichtung der Steuereinnahmen zwischen den Gemeinden scheint dazu unentbehrlich. Das Grundgesetz versagt dem Bundesgesetzgeber und der Bundesregierung, selbst Maßnahmen zu ergreifen, um dieses Ziel zu erreichen.
3. Die Ausgewogenheit des Gemeindesteuersystems ist heute durch den übergroßen Anteil der Gewerbesteuer an den Deckungsmitteln und durch das Zurückbleiben der Grundsteuer gestört. Diese Entwicklung ist nicht nur durch das Ansteigen der Gewerbeerträge, sondern wesentlich auch dadurch bestimmt, daß die Einheitswerte für das Grundvermögen seit 1935 nicht neu festgesetzt sind.
Im Rahmen eines neuen Bewertungsgesetzes ist eine Neubewertung des Grundbesitzes dringlich.
Dabei werden die besonderen Verhältnisse beim landwirtschaftlichen Grundbesitz zu würdigen sein. Inwieweit neue Einheitswerte zu einem höheren Grundsteueraufkommen führen, wird unter den Gesichtspunkten einer gerechten Steuerbelastung besonders zu prüfen sein. Der Entwurf eines neuen
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Bewertungsgesetzes sollte zu Beginn der neuen Legislaturperiode alsbald eingebracht werden.
Die Neubewertung des Grundbesitzes sollte nach der Auffassung der Bundesregierung eine allgemeine Überprüfung des gemeindlichen Steuersystems einleiten. Dabei wird der veränderten Stellung der Gemeinden im gesamten öffentlichen Aufgabenbereich Rechnung zu tragen sein. Das wichtigste Ziel einer umfassenden Neuordnung des gemeindlichen Steuersystems sollte sein, die Eigenverantwortung der Gemeinden für ihre Aufgaben und Ausgaben und deren Deckung in größtmöglichem Umfang zu gewährleisten.
4. Eine Erstattung des Einnahmeausfalles, der den Gemeinden aus der Grundsteuerbefreiung für den sozialen und den steuerbegünstigten Wohnungsbau erwächst, ist nicht gerechtfertigt. Die Förderung des Wohnungsbaues ist eine gemeinsame Aufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden. Für die Finanzierung des sozialen Wohnungsbaues sind in den Jahren 1950 bis 1959 aus öffentlichen Quellen insgesamt 28,7 Milliarden D-Mark aufgewendet worden. Davon entfallen 18,7 Milliarden D-Mark auf den Bund — einschließlich Lastenausgleich und Kohlenabgabe —, 6,8 Milliarden D-Mark auf die Länder und 3,2 Milliarden D-Mark auf die Gemeinden und Gemeindeverbände. Die Mindereinnahmen der Gemeinden an der Grundsteuer werden für den gleichen Zehnjahreszeitraum auf etwa 1,5 Milliarden
D-Mark geschätzt. Diese zeitlich begrenzten Mindereinnahmen bei der Grundsteuer stellen einen Beitrag der Gemeinden zur Förderung des Wohnungsbaues dar, der angesichts der Leistungen des Bundes für den gleichen Zweck zumutbar scheint.
5. Artikel 106 des Grundgesetzes gestattet dem Bund nicht, die Gemeinden am Aufkommen von Bundessteuern zu beteiligen. Nach geltendem Verfassungsrecht können die Gemeinden nur an Landessteuern beteiligt werden; dabei ist der Gemeindeanteil durch Gesetz festzulegen. Nach der Grundkonzeption unserer heutigen Finanzverfassung soll es keinen vertikalen Finanzausgleich zwischen Bund, Ländern und Gemeinden geben. Eine Änderung dieser Grundkonzeption haben die Länder mehrfach, vor allem bei der Neuordnung der Finanzverfassung im Jahre 1955, entschieden abgelehnt.
Der Bundesminister der Finanzen hat in seinen Haushaltsreden mehrfach darauf hingewiesen, daß die heutige Finanzverfassung den künftigen finanziellen und politischen Bedürfnissen des Bundes nicht entspricht. Die Zwischenlösung der Finanzverfassung von 1955 kann nicht als endgültig anerkannt werden. Eine Neuordnung der Finanzverfassung ist unausweichlich. Eine grundlegende kommunale Finanz- und Steuerreform muß ein wesentlicher Bestandteil dieser umfassenderen Neuordnung sein. Sie ist jedoch noch nicht verhandlungs- und entscheidungsreif. Außerdem fehlen zur Zeit die politischen Voraussetzungen für ihre Verwirklichung.