Rede von
Fritz
Weber
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Herr ,Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich habe den ehrenvollen, aber schweren Auftrag meiner Fraktion zu erfüllen, dem Hause darzulegen, warum wir Freien Demokraten dieses ganze Gesetz mit einem klaren Nein ablehnen.
Vor einem Jahr hat meine verehrte Kollegin Frau Friese-Korn bei der Verabschiedung des Ersten Rentenanpassungsgesetzes von dieser Stelle aus folgendes ausgeführt: Schon jetzt, nach eineinhalb Jahren, habe sich auf Grund des ersten Sozialberichts der Bundesregierung erwiesen, daß das mit der Rentenreform im Jahre 1957 eingeführte Rentensystem nicht aufrechterhalten werden könne, ohne gegen die Grundsätze zu verstoßen, die ein gutes Sozialgesetz kennzeichnen sollten, nämlich erstens Beitragsgerechtigkeit, zweitens finanzielle Sicherung der Leistungen für die Zukunft. Die automatische Indexrente führe zwangsläufig zur finanziellen Krise der Versicherungsträger. Wörtlich sagte Frau Friese-Korn:
Das bedeutet, daß wir entweder eine Leistungssenkung hinnehmen oder eine Beitragserhöhung beschließen müßten, die für die arbeitende . . . Bevölkerung nicht mehr tragbar ist, oder aber der Haushalt müßte in nicht zu verantwortendem Ausmaß in Anspruch genommen werden. Wer das nicht will, muß eine Änderung des Rentenneuregelungsgesetzes fordern.
Wir erstrebten also eine Reform der mißglückten Rentenreform an. Wir haben dann im vorigen Jahr der ersten Anpassung der Altrenten an die Neurenten zugestimmt, aber nur, wie wir ausdrücklich betont haben, um Zeit für eine sachliche Reformarbeit zu gewinnen.
Die Zwischenzeit hat meine Fraktion genützt und entsprechende Reformvorschläge erarbeitet. Diese Vorschläge haben wir Ihnen in unseren Gesetzesanträgen auf den Drucksachen 1276 und 1277 vorgelegt. Die Anträge sind in erster Lesung beraten worden.
4948 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1959
Weber
Wir könnten dem jetzigen Gesetzentwurf zustimmen, wenn in ihm die in unseren Anträgen enthaltenen Vorschläge verwirklicht worden wären. Dann wäre nämlich mit der jetzigen Rentenanpassung ein vollständiges Gleichziehen der Altrenten mit den Neurenten erreicht worden.
Wir sind nicht die einzigen, die derartige Bedenken erheben. Ähnliches habe ich eben auch vom Herrn Kollegen Ruf gehört. Mit Genehmigung des Herrn Präsidenten darf ich einen Ausschnitt aus der Rede des Herrn Bundesfinanzministers vom 9. Dezember 1958 zitieren. Er sagte damals:
Die Bundesregierung hat in dem Sozialbericht bereits hervorgehoben, daß Entscheidungen über die weiteren Erhöhungen der Renten im Hinblick auf die Auswirkungen in der Zukunft mit großer Vorsicht getroffen werden sollten. Wenn die weitere Rentenanpassung in den kommenden Jahren zu steigenden Aufbringungslasten führen sollte, wären ein allmählicher Vermögensverzehr der Rentenversicherungsträger und höhere Beiträge oder höhere Bundeszuschüsse unvermeidlich.
Weiter sagte er dann:
Für das Jahr 1959 hat die Bundesregierung einer Anpassung der Altrenten mit 6,1 v. H. ab 1. Januar 1959 zugestimmt. Das ist heute' wirtschaftlich vertretbar. Ich möchte als Bundesfinanzminister aber frühzeitig genug auf die ernsten Finanzfragen hinweisen, die sich aus einer fortlaufenden Rentenanpassung in späteren Jahren ergeben können.
Wir befinden uns mit unserer Meinung in guter Gesellschaft. Sehr viele verantwortliche Männer in der Regieurng und in der Regierungspartei haben die gleiche Sorge. Auch der Herr Kollege Horn hat in der ersten Lesung mit wirklich tiefem Ernst all die Bedenken dargelegt, die hier nun einmal bestehen. Ich darf nur an das erinnern, was von Ihrer Seite, also von seiten der CDU/CSU, in öffentlichen Versammlungen immer wieder mit aller Deutlichkeit gesagt worden ist: Die Grenze zum Wohlfahrtsstaat haben wir erreicht. Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit diesem Gesetz werden wir diese Grenze überschritten haben.
— Ja, den Versorgungsstaat. Wir sind ja sowieso schon im Begriff, ihn zu schaffen, Herr Kollege Ruf. Meiner Ansicht nach ist es klar, was ich damit sagen wollte.
Uns geht es in dieser Stunde um die schwere Verantwortung. Wir sind uns voll dessen bewußt, daß es nicht leicht ist, unsere Ansicht öffentlich zu vertreten, und daß uns die Argumente draußen nicht abgenommen werden. Es wird dann wieder — mit dem alten Beigeschmack — heißen: Das sind die Freien Demokraten, die Partei der Kapitalisten und der Fabrikanten.
Uns geht es darum, die wirklich schwere Verantwortung darzulegen, die wir haben, wenn wir dieses
Gesetz in der vorliegenden Form beschließen. Wir sind uns doch darüber klar, daß, wenn es jetzt wieder den Wahlen zugeht, wegen der Dynamik die nächsten Rentenanpassungen genauso vorgenommen werden wie die beiden letzten.
— Herr Professor Schellenberg, ich komme auf diese Dinge und werde es mit aller Deutlichkeit sagen.
Uns fehlt heute als sachliche Grundlage für das Gesetz vor allen Dingen eine versicherungstechnische Bilanz.
— Herr Kollege Stingl, die versicherungstechnische Bilanz mußte laut Gesetz im letzten Jahr noch nicht vorliegen, sie hätte in diesem Jahr vorliegen müssen.
Die zweite Rentenanpassung dürfte nicht erfolgen, solange die versicherungstechnische Bilanz nicht vorliegt, wenn das Haus in wirklicher Verantwortung handelte.
— Ich werde es Ihnen ganz genau nachweisen. Herr Kollege Stingl, in § 110 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes heißt es in Absatz 2:
Der Bundesminister für Arbeit stellt in Abständen von zwei Jahren versicherungstechnische Bilanzen auf, erstmalig für den 1. Januar 1959. Die Bilanzen sollen für die drei auf den Stichtag der Bilanz folgenden Jahrzehnte erkennen lassen, wie sich die Einnahmen, die Ausgaben und das Vermögen der Versicherungsträger voraussichtlich entwickeln werden.
Ich habe hier den Standpunkt meiner Fraktion zu vertreten, und ich bitte Sie, meine Argumente anzuhören.
— Wir hätten Zeit gehabt, Herr Kollege Stingl, wenn das Haus und die Bundesregierung gemeinsam wirklich verantwortlich gehandelt hätten, für die zweite Rentenanpassung die versicherungstechnische Bilanz abzuwarten; dann hätten wir gleichzeitig unseren Antrag mitbehandeln können.
Nun komme ich zu dem zweiten Gesichtspunkt, der uns zur Ablehnung dieser Gesetzesvorlage bestimmt. Soeben habe ich Ihnen mit aller Deutlichkeit dargelegt, daß wir in zwei Anträgen dem Hause eine Änderung der Rentenformel, die die Beitragsbemessungsgrundlage ergibt, vorgeschlagen haben. Was will die FDP mit diesen Gesetzesvor-
Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1959 4949
Weber
lagen erreichen? Ich will lediglich Herrn Professor Schellenberg mit aller Deutlichkeit die sozialpolitische Stellung meiner Fraktion darlegen. Wir lehnen nicht das Umlageverfahren ab, das steht gar nicht zur Debatte. Wir sind der Überzeugung, daß das Umlageverfahren in einer modernen Industriegesellschaft durchaus ein wirtschaftlicher Weg auch auf sozialpolitischem Gebiet sein kann. Wir lehnen auch nicht — Herr Professor Schellenberg, das muß ich mit aller Deutlichkeit den Kollegen der SPD sagen — die Lohnbezogenheit ab.
— Nein, Herr Kollege Stingl, wir lehnen die Lohnbezogenheit nicht ab. Wir nehmen die Lohnbezogenheit aber nicht als den alleinigen Maßstab.
— Ich werde Ihnen die Dinge sachlich darstellen, Herr Kollege Stingl. Lassen Sie mich einmal meine Gedanken in Ruhe entwickeln. Die Lohnbezogenheit als alleiniger Maßstab wird eines hervorrufen: daß nach dem Gesetz die Renten herauf- und heruntergehen müßten mit der Entwicklung der Löhne, die weitestgehend an die wirtschaftliche Entwicklung gebunden sind. Sie kennen das Argument, daß es dann verschiedene Jahrgänge geben könnte, die auf Grund der Entwicklung zu einer anderen Rente kommen könnten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, es ist — wie soll ich sagen — eigentlich sonderbar, wenn die Liberalen Ihnen sagen müssen, daß wir vom geläuterten liberalen Standpunkt aus nicht den Grundsatz und die These des „Laisser faire, laisser passer" vertreten. Mit der Lohnbezogenheit, die Sie für die gesamten Renten wollen, werden Sie für die Zukunft zur Wirklichkeit machen, was der Vater des modernen Sozialismus, Karl Marx, mit seiner Zyklen-Theorie als Wirklichkeit in der sogenannten liberalen kapitalistischen Wirtschaft als Erscheinungsform darstellt. Eine nur lohnbezogene Rentenanpassung, und zwar für alle Teile, wie Sie es wollen, müßte ohne Zweifel zur Folge haben, daß die Kaufkraft der Renten in Zeiten der Hochkonjunktur mit hinaufschnellt, daß die Renten preissteigernd wirken. In der Wirtschaft gibt es nicht nur ein stetiges Auf, es gibt ein Auf und Ab. In dem Moment, wo die Krise kommt, würden die Renten automatisch gesenkt. Sie können mir entgegenhalten, daß das nicht der Fall sein wird. Wenn aber das Vermögen aufgezehrt ist, werden wir in eine Zwangslage kommen. Dann wird das der Fall sein.
Während der Krise der dreißiger Jahre haben es die skandinavischen Staaten verstanden, die Wirkungen der Wirtschaftskrise und der Arbeitslosigkeit durch antizyklische Maßnahmen bis zum Ende der Krise hinauszuziehen. Das ist eine Tatsache, die nicht bestritten werden kann, und es ist ein Beweis für das, was ich vorhin gesagt habe.
Auch den Damen und Herren von der CDU habe ich etwas zu sagen. Herr Kollege Stingl, die zwiespältige Theorie, die Sie aufgestellt und aufrechterhalten haben, wird sich, so wahr ich hier stehe,
nicht halten lassen, so wie die Dinge heute liegen. Nach dieser zwiespältigen Theorie errechnen sich die 'laufenden Renten lohnbezogen. Die anderen wenden durch Gesetz festgesetzt. In dem zweiten Falle sind Sie unseren Argumenten gefolgt. Wir wollen nicht die alleinige Lohnbezogenheit. Wir wollen alles das, was in § 49 des Gesetzes schon verankert ist: Bei Veränderung der allgemeinen Bemessungsgrundlage werden die Renten durch Gesetz angepaßt. Nicht laisser faire, laisser passer, sondern durch Gesetz unter Verantwortung des Parlaments!
§ 1272 Abs. 2 RVO lautet:
Die Anpassung hat der Entwicklung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und der Produktivität sowie den Veränderungen des Volkseinkommens je Erwerbstätigen Rechnung zu tragen.
Hierin sind Sie seinerzeit den Argumenten der FDP gefolgt, und zwar aus sachlich richtigen Überlegungen.
Meine Damen und Herren gerade von der CDU, ich möchte Ihnen noch eine Tatsache und ein altes Sprichwort vor Augen halten. Wir haben kein reines Umlageverfahren, sondern ein Abschnittdekkungsverfahren. Wir haben noch Kapital zurückzulegen. Das alte Sprichwort heißt: Spare in der Zeit, dann hast du in der Not. Es gibt auch ein Wort aus der Heiligen Schrift. Sie kennen alle die Geschichte von Joseph aus Ägyptenland mit den sieben fetten und den sieben mageren Kühen, den sieben fetten und den sieben mageren Jahren. Wir haben sieben fette Jahre hinter uns, sogar schon eine etwas längere Zeit. Gott sei dank kommen die zyklischen Bewegungen nicht so, wie man es sich auf der anderen Seite gedacht hat. Bei uns liegt die Verantwortung. Ziehen Sie aus dieser Jahrtausende alten Weisheit die Schlußfolgerung: sparen Sie und legen Sie zurück! Was für ein Polster wollen Sie für unsere Volkswirtschaft haben, wenn eine Krise kommt, ganz abgesehen von anderen Erscheinungen, etwa der Tatsache, daß man heute nur auf Raten kauft? Wo liegt noch eine Reserve?
Wir wollen mit unserem Antrag keine Bremse einbauen. Wir wollen nicht das Laisser faire, laisser passer, aber wir wollen auch nicht bremsen. Wir wollen dieses Parlament nicht von der Aufgabe entbinden, die Renten nach den Grundsätzen anzupassen, die von Ihnen beschlossen worden sind.
Meine Damen und Herren, lesen Sie doch den Sozialbericht! In ihm steht klar und deutlich: Die wirkliche Steigerung des Nettosozialprodukts pro Einwohner beträgt in den Jahren 1957 und 1958, umgerechnet auf Preise von 1954, zusammen 5,1 %. Die beiden Rentenanpassungen belaufen sich zusammen auf 12,04 %. Der Unterschiedsbetrag ist Geldentwertung. Darüber gibt es keinen Zweifel. Diese Tendenz verstärken wir aber mit diesem Gesetz. Ich will nicht lange reden; ich will Ihnen die Dinge nur mit aller Eindringlichkeit darlegen, damit Sie spüren, wie schwer wir in diesen Fragen gerungen haben.
4950 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1959
Weber
Zum Schluß möchte ich den schwerwiegendsten Grund anführen. Das Haus hatte laut § 110 beschlossen: Die Bundesregierung hat die versicherungstechnische Bilanz den gesetzgebenden Körperschaften des Bundes zuzuleiten und zugleich nach Anhören des Sozialbeirats über die Finanzlage der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, über die Entwicklung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und der Produktivität und über die Veränderung des Volkseinkommens je Erwerbstätigen in den voraufgegangenen Kalenderjahren seit der letzten versicherungstechnischen Bilanz zu berichten. Das Gutachten des Sozialbeirats, Herr Kollege Stingl, ist vorzulegen. Ergibt der Bericht, daß Maßnahmen des Gesetzgebers erforderlich sind, so hat die Bundesregierung gleichzeitig Gesetzgebungsvorschläge zu unterbreiten, insbesondere ob und inwieweit eine Änderung der Pro-HundertSätze oder der allgemeinen Bemessungsgrundlage oder des Beitragssatzes gemäß § 1385 erforderlich ist.
Hier ist eindeutig verankert, daß die versicherungstechnische Bilanz vorzulegen ist. Erst wenn eine solche vorliegt, kann aus ihr die klare Erkenntnis gewonnen werden, ob eine Rentenanpassung überhaupt vorgenommen werden kann; sie ist die Grundlage dafür.
Ich möchte folgendes mit aller Deutlichkeit sagen. Wir wissen bestimmt, daß eine große Zahl der Mitglieder des Bundeskabinetts innerlich und auch schon in Aussprüchen diese Rentenanpassung und diese Rentendynamik abgelehnt hat. Trotzdem hat das Bundeskabinett diesen Gesetzentwurf verabschiedet und dem Bundestag vorgelegt. Daraus können wir ganz deutlich erkennen, daß hier nicht die Verantwortung bis zum letzten als das Wesentliche gesprochen hat, sondern daß hier vor allen Dingen dem Kanzler, der die treibende Kraft war, allein daran gelegen war, auf den nächsten Wahlsieg zu zielen.
Wenn alle, die diese Bedenken gegen den Gesetzentwurf in öffentlichen Veranstaltungen schon geäußert haben, insbesondere die Damen und Herren in der großen Fraktion der CDU/CSU, den Versicherungsträgern, den Versicherten, den Rentnern gegenüber verantwortlich handeln wollen, dann gibt es für sie nur eines: mit der FDP diese Gesetzesvorlage ablehnen. Wenn Sie bereit sind, unsere Anträge innerhalb von 14 Tagen, also noch vor Weihnachten, zu verabschieden, haben wir die Möglichkeit, die automatische Formel abzuschaffen. Wir dürfen nicht allein die Lohnbezogenheit zur Grundlage machen, sondern müssen eine gerechte Grundlage finden. Wenn Sie unseren Vorschlägen folgen, dann schaffen Sie die Möglichkeit, meine Damen und Herren von den beiden großen Fraktionen, daß auch die dritte Fraktion, die allein die Rentenneuregelungsgesetze abgelehnt hat, Ihnen beitreten kann. Dann können wir ganze Arbeit machen und die Rentenanpassung so beschließen, daß keine Rentenschere entsteht, sondern daß nach dem Grundsatz der Gleichheit alle gleich behandelt werden.