Rede von
Dr.
Willy
Reichstein
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(GB/BHE)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (GB/BHE)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Namens des Gesamtdeutschen Blocks/BHE möchte ich folgende Stellungnahme zu den vorliegenden Anträgen und zu den Gesetzentwürfen abgeben.
Zum Antrag Drucksache 1734 möchten wir dringend empfehlen, unter Ziffer 3 c), wo verlangt wird, daß die Bundesregierung die Überwachung der Ge-
wässer in der Bundesrepublik veranlaßt, hinzuzufügen: „des Bodens, der Flora, der Fauna und der landwirtschaftlichen Produkte", und zwar wegen des Kreislaufs, dem Pflanze, Tier und Mensch unterworfen sind. Es kann also auch von Bedeutung sein, daß man weit mehr als nur die Gewässer beobachtet.
Zu Ziffer 6 c), wonach besonders Mittel für die experimentelle Kernphysik in den Haushaltsplänen ausgeworfen werden sollen, wünschen wir, daß auch für die Strahlenforschung, die Strahlenbiologie und die Genetik ausreichende Mittel zur Verfügung gestellt werden, weil wir der Auffassung sind, daß die Bemühungen, die Atomtechnik fortschreitend zu verbessern, parallel gehen müssen mit den Bemühungen, auch den Atomschutz zu vergrößern.
Zu den vorliegenden Gesetzentwürfen kurz unsere Stellungnahme wie folgt: Die Bundesregierung ist der Meinung, daß das Gesetz im Auftrag des Bundes von den Ländern durchgeführt werden soll. Angeblich entspricht eine solche Konstruktion dem föderativen Aufbau der Bundesrepublik. Wir sind der Meinung, daß das Problem der Anwendung der Kernenergiekommission kein Exerzierplatz für den Föderalismus sein sollte.
Wir haben erhebliche Bedenken, ob eine Bundesauftragsverwaltung mit doch sehr zweifelhaften Weisungsbefugnissen überhaupt in der Lage ist, den im Gesetz liegenden Problemen gerecht zu werden.
Es ist die Frage, ob nicht eine eventuelle materielle Änderung des Gesetzes zwangsläufig zu einer Änderung in den Gesichtspunkten führt, auf welcher Basis es durchgeführt werden soll. Meine Fraktion hat zur Zeit jedenfalls noch keine Neigung, einer etwa gewünschten Grundgesetzänderung zuzustimmen.
Zum Atomgesetz selbst folgendes. Wir haben gegen fast alle Bestimmungen dieses Gesetzes erhebliche Bedenken. Das Gesetz soll nach seinem Zweck — in § 1 ist es niedergelegt — eine möglichst freie und ungehinderte Entwicklung der Erforschung der Kernenergie ermöglichen, Leben, Gesundheit und Sachgüter schützen. Es ist sehr fraglich, ob dieser Zweck bei der Anwendung des Grundsatzes der Gewerbefreiheit mit Rechtsanspruch auf Erteilung einer Erlaubnis erreichbar ist. Die heutige Argumentation des Herrn Ministers bei der Begründung des Gesetzes hat uns jedenfalls noch nicht von dieser Meinung abbringen können.
Ich weise darauf hin, daß auch der Bundesrat erhebliche Bedenken hatte. Das kommt darin zum Ausdruck, daß er noch einen Schritt weiterging und wegen der besonderen Art der Dinge, die es hier zu regeln gibt, zumindest eine staatliche Konzession an Stelle der Gewerbefreiheit für notwendig hielt. Gegen die Anwendung des Prinzips der Gewerbefreiheit auf diesem Gebiete sprechen nach unserer Auffassung noch folgende Gesichtspunkte. Die Kernenergie ist in ihrer Wirkung und möglichen Gefährdung völlig unvergleichbar mit den bisher in der Industrie verwendeten Energien. Für die anderen Industriezweige mag das Prinzip der Gewerbefreiheit am Platze sein. Auf diesem Gebiet sind wohlüberlegte Planungen unbedingt erforderlich. Es besteht ,der Zweifel, ob dies bei Aufrechterhaltung des Prinzips der Gewerbefreiheit möglich ist.
Ein weiteres Problem liegt in den hohen Kosten, die die Energiegewinnung zumindest zur Zeit noch erfordert. Die hohen Kosten würden vermutlich zur Folge haben, daß sich diese Energiequellen in der Hand weniger befinden, wodurch diese eine unerwünschte Monopolstellung lauf diesem Gebiet erreichen würden. Weiterhin bestünde ,die Gefahr — und jede Gefahr ist hier sehr ernst zu nehmen —, daß die unbedingt notwendigen und zur Zeit jedenfalls auch noch außerordentlich kostspieligen Schutzmaßnahmen dauernd in Konflikt geraten würden mit dem an sich verständlichen Wunsch von Betrieben, möglichst viel zu verdienen.
Die Bestimmung über die Haftung, die der Gesetzentwurf enthält, scheint uns hinsichtlich der dort festgelegten Summen ebenfalls unzureichend zu sein. Es ist auch sehr problematisch, daß das Gesetz eine Ersatzpflicht für den Fall ausschließt, daß der Nachweis der gebotenen Sorgfalt geführt werden kann. Meine Damen und Herren, wer in Großbetrieben der Chemie tätig war — überhaupt kann man das schon auf Grund allgemeiner menschlicher Erfahrung sagen —, weiß doch, daß im Falle einer Katastrophe der Nachweis, ob die gebotene Sorgfalt tatsächlich geübt worden ist, deshalb gar nicht mehr zu führen ist, weil die, die ihn hätten führen müssen, gar nicht mehr leben. Aus diesem Grunde also auch erhebliche Bedenken gegen diese Formulierung.
Die Schutzmaßnahmen müssen schon auf Grund der Natur dieser neuen Energie viel umfassender sein als die Schutzmaßnahmen, die in allen anderen Zweigen der Industrie erforderlich sind. Das Gesetz selbst läßt in seinen Strafbestimmungen das Ausmaß möglicher bedrohlicher Ereignisse erkennen.
Ich verweise auf den § 32 Abs. 2, in dem Strafe für einen Täter angedroht wird, der es unternimmt, eine „unübersehbare Zahl von Menschen" zu gefährden. Die Schutzbestimmungen müssen unter allen Umständen einen ausreichenden Schutz des einzelnen Menschen gewährleisten, der in diesen Energiebetrieben arbeitet. Insbesondere muß sichergestellt werden, daß Keimschädigungen und Idamit Schädigungen der Nachkommenschaft vermieden werden. Wie sehr die Öffentlichkeit durch sich widersprechende Auffassungen über dieses Problem beunruhigt ist, wissen Sie alle; das ist hier bereits oft erwähnt worden. Ich erinnere an die Schwierigkeiten, die der Errichtung eines Reaktors in Karlsruhe entgegenstehen. Das beruht aber zum Teil auf der sehr schlechten Übung, daß man wissenschaftliche Erkenntnisse durch die politische Brille betrachtet. Hier ist meine Fraktion der Auffassung, daß eine völlig unabhängige Kommission zu diesen Fragen Stellung nehmen muß und daß die Bundesregierung die Meinung dieser Kommission entsprechend zu würdigen hat.
Die Probleme der Schädigung und der Schutzmaßnahmen hängen eng zusammen. Bei der Festlegung von Schutzbestimmungen muß insbesondere die Tatsache berücksichtigt werden, daß die Menschen sich bei Experimenten und Forschungen viel leichter manchmal sehr lästigen Schutzmaßnahmen unterwerfen, als ,das bei der alltäglich gewordenen freien Produktion der Fall ist. Auch hier sollten Ratschläge einer unabhängigen Kommission bindend sein.
Ich darf in diesem Zusammenhang die Bundesregierung darauf hinweisen, daß nach meiner Kenntnis der Dinge — ich werde jede Korrektur gern zur Kenntnis nehmen - die zur Zeit noch geltende Röntgenverordnung aus dem Jahre 1941 für nichtmedizinische Betriebe als höchstzulässige Wochendosis die Menge von 1,25 Röntgen festgelegt hat. Damit liegen wir nach unseren gesetzlichen Bestimmungen um das Vierfache höher, als es die international geltende Übung ist. Die nach internationaler Ansicht höchste Wochendosis beträgt nämlich 0,3 Röntgen, und auch diese wird von vielen noch als zu hoch angesehen. Ich möchte die Bundesregierung bitten, einmal nachzuprüfen, ob ich mich irre oder ob die gesetzlichen Bestimmungen hier nicht sehr bald geändert werden müssen.
Andere Kollegen haben schon auf den sehr interessanten medizinischen Forschungsbericht einer Kommission in Großbritannien hingewiesen. Ich will aus Zeitgründen auf sehr interessante Einzelheiten dieses Berichts nicht mehr eingehen, will aber auch das in allen Offenheit sagen: Nach diesem sine ira et studio, wie ich hoffen möchte, abgegebenen Bericht besteht zur Zeit für die Allgemeinheit noch kein Grund zur allgemeinen Beunruhigung wegen Strahlenschäden. Es ist aber allgemeine Pflicht, genau zu kontrollieren, wo und in welchem Maße man Menschen im Interesse einer Energiegewinnung Schäden aussetzt. Der Spielraum, den wir — die Menschheit überhaupt — auf diesem Gebiet haben, sollte nur nach sehr ernster Kontrolle und nach Abwägung aller Probleme ausgenützt werden.
Es ist bekannt, daß jeder Mensch auch ohne industrielle Nutzung dieser neuen Energieart ständig einer natürlichen Bestrahlung ausgesetzt ist. Die Nahrungsmittel, der Boden, die Gebäude, die Luft, besonders in großen Höhen bei Fliegern, die Durchleuchtung und die Behandlung mit Röntgengeräten, ja, sogar die Leuchtziffern an unseren Armbanduhren bringen — wenn auch nur in sehr geringer Menge — Strahlen in den menschlichen Bereich. Die Natur dieser Strahlen, mit denen wir uns zu beschäftigen haben, ist also nichts Neues, sondern neu ist das Ausmaß, das die Menschen trifft.
Wir wissen sehr gut, daß die Menschheit für alle Fortschritte oder vermeintlichen Fortschritte der Zivilisation Opfer zu bringen hat. Ich darf Sie nur an die — hier muß man allerdings schon sagen -
fast Hekatomben von Opfern erinnern, die wir dem Fortschritt in unserem Verkehr Jahr für Jahr zum Opfer bringen, wo 12 000 Menschen jährlich getötet und Hunderttausende verletzt werden. Bei der Anwendung der Kernenergie aber wird man wegen der besonderen Gefährdungsmöglichkeiten den Nutzen und die Verbesserungen unserer Lebensbedingungen auf der einen Seite und das Maß der Gefahren auf der anderen Seite abwägen müssen. Was heute bei den Schutzmaßnahmen gespart würde, müßten spätere Generationen — und zwar ein Vielfaches mehr als das, was heute auszugeben wäre — ausgeben, um nur den Versuch zu machen, die eingetretenen Schäden wieder zu vermindern.
Es wird nach allgemeiner Auffassung notwendig sein, daß die Zahl der Menschen, die in diesen Energiebetrieben arbeiten, nicht ein bestimmtes Verhältnis zur Zahl der Gesamtbevölkerung überhaupt übersteigt. Es wird sicher unzweckmäßig sein, daß man die Eheschließung zwischen
Personen. die in diesen Betrieben arbeiten, empfiehlt. Man wird ihnen sogar raten, nicht zu heiraten. Es ist sicher notwendig — der Vorschlag ist auch in der letzten Zeit von einem unserer Wissenschaftler noch einmal gemacht worden —, zumindest für einen ausgewählten Kreis der Bevölkerung so etwas wie einen Strahlenpaß einzurichten.
Eine besondere Schwierigkeit liegt zweifellos noch bei dem Bemühen, den Abfall, den sogenannten Atommüll, zu beseitigen. Die Reaktoren liefern verschiedene Mengen von Abfallstoffen, die verschieden gefährlich sind, hochaktive Spaltprodukte, die wir gerne wieder der Natur zurückgeben möchten und wo wir doch große Schwierigkeiten überwinden müssen, um das zu bewerkstelligen. Sie wissen, daß heute noch Bergwerke, tiefe Brunnen, der Ozean, ja sogar arktische Gebiete als Ablagerungsorte angesehen werden. Die vor einiger Zeit von dem Herrn Minister geäußerte Ansicht, daß auf diesem Gebiet durch Änderungen der Erkenntnisse oder durch bestimmte chemische Maßnahmen die Abfallbeseitigung vielleicht erleichtert werden könnte, soll uns zu Hoffnungen veranlassen. Zur Zeit ist es aber noch nicht so weit. Auf alle Fälle ist heute noch die Abfallbeseitigung eine sehr kostspielige Angelegenheit, besonders wenn man den auch dabei notwendigen Schutz berücksichtigt.
Die absolute Notwendigkeit des ausreichenden Schutzes mag jedem, auch dem völligen Laien, ganz klar sein, wenn man weiß, daß durch Strahlenschädigung alle uns bekannten körperlichen Mißbildungen und geistigen Erkrankungen eintreten können.
Diese hier in sehr kurzer Form zusammengefaßten Gründe erweisen, meine ich, die Notwendigkeit besonders strenger Schutzmaßnahmen und, was genauso wichtig ist, die Notwendigkeit der Einhaltung der Schutzbestimmungen. Es darf keine Gefährdung dieser Schutzbestimmungen dadurch eintreten, daß sie mit Produktionswünschen, mit Wünschen, die Kosten der Produktion zu verringern, um konkurrenzfähig zu bleiben, kollidieren.
Wieweit die Industrie solchen Gesichtspunkten unterliegt, wissen Sie alle. Die notwendigen Maßnahmen zur Verhütung der Verunreinigung der Luft unterbleiben, weil sie zu teuer sind. Derselben Gefahr sind wir hier selbstverständlich auch ausgesetzt. Auch mit Rücksicht auf die Notwendigkeit des Schutzes ist zu prüfen, ob eine bessere Verwirklichung des als notwendig anerkannten Schutzes erreicht wird, wenn sich diese Art der Energiebetriebe nicht in privater Hand befindet. Natürlich ist auch bei einem Staatsbetrieb keine absolute Sicherheit gegeben. aber die von mir nur kurz erwähnten Möglichkeiten der Konkurrenz und des Verdienenwollens scheiden dann als eventuelle die Schutzmaßnahmen durchlöchernde Anreize aus.
Im übrigen darf ich darauf hinweisen, daß die Kosten für Forschung und Schutz wesentlich höher sein dürften, als in unserem Haushaltsplan festgelegt. Die medizinische Forschung ist zur Zeit dabei, Mittel herzustellen, durch welche die Verträglichkeitsgrenze der Menschen bezüglich Strahleneinwirkungen erhöht wird. Wenn man bei all diesen Forschungen nicht vergißt, daß der Mensch keine Retorte ist, in der man nahezu bedenkenlos komplizierte chemische Vorgänge ablaufen lassen
kann, sollte man auch diese Forschung nachdrücklichst unterstützen. Wir können, fußend auf einem Bericht der schon erwähnten englischen Kommission, davon ausgehen, daß die Beurteilung aller heutigen Erkenntnisse relativ ist, weil die Zeit für die Beurteilung solcher komplizierten Vorgänge im Menschen und in der Natur noch sehr kurz ist. Man kann aber wohl unterstellen, daß auch künftige Forschungsergebnisse nicht die Erkenntnis bringen werden, daß die Strahlengefahr geringer ist, als heute angenommen wird.
Es ist zweifellos ein allgemeiner Wunsch: Wir wollen durch Atome leben, besser leben. Es ist eine besorgte Frage aller Menschen: Werden wir durch Atome sterben? Neue Quellen stehen uns für größeren Wohlstand zur Verfügung. Ihre Ströme können uns aber auch an den Rand eines Abgrundes bringen. Wir Menschen selbst haben die Wahl. Thomas Mann hat in seiner Rede zur Schillergedenkfeier 1955 auf die Wandlungen unseres Zeitalters hingewiesen, bei denen so viele große und edle Gesichtspunkte verlorengegangen, Roheit und Raffgier gestiegen und das intellektuelle und moralische Niveau gefallen seien, — Voraussetzungen, die eine schlechte Gewähr dafür bieten, daß wir nicht in eine dritte Katastrophe stürzen, die alles beenden würde. Denn — wie er sagt — „die Menschheit hat Gefallen daran gefunden, den kosmischen Raum dazu zu benutzen, strategische Bahnen anzulegen und die Sonnenkraft zu äffen, um Energie zu gewinnen". Auch der Bundestag betritt mit der Beratung dieser Gesetzentwürfe einen sonst meist wohl gemiedenen Raum, in welchem sich Weltanschauung und Religion in einem Weltbild berühren. Die großen Naturwissenschaftler haben, der Wahrheit näherkommend, ein Weltbild geschaffen, in welchem kein Platz für menschliche Überheblichkeit mehr ist. Es wird die Hoffnung der Menschheit sein, daß die sogenanten Herren der Welt und auch die verantwortlichen Politiker wenigstens so viel von diesem Weltbild erkennen, daß es sie entmutigt, übermütig und überheblich zu sein. Uns allen aber sollten die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der religiöse Glaube, die sich gerade bei den Fragen, die heute hier zur Debatte standen, so eng berühren, das Bemühen stärken, wieder zur rettenden Ehrfurcht der Menschheit vor sich selbst zurückzufinden.